AnspruchArbeitKommunikationFragenFührungWirIchKooperationKontinuitätUnsicherheitEntwickelnEinflussStrukturenVerstehenImplizitesKönnenWissenEntscheidenHandelnZieleWerteSinnSelbstWirkungVerantwortungVerbindlichkeitFehlerErfolgWandelNeuesKundenNetzwerkePraxisKulturKompetenzMenschenRolleAgilGemeinwohlPartizipation

Briefe

Führungsbrief 99 – Einen Punkt setzen

Jedes Ding hat seine Zeit. Die richtige zu finden, zählt zu den eleganteren Künsten im Management. Wann soll man etwas tun? Wie lange soll es dauern? Wie häufig macht es Sinn? Wann soll man damit aufhören und einen Punkt setzen? Diese Fragen stellen sich bei jedem Projekt, jeder Maßnahme, bei Sitzungen ebenso wie bei der Organisation des eigenen Arbeitsbereichs. „Einen Punkt setzen“ steht hier stellvertretend für die geschickte Gestaltung der Zeit – was natürlich mehr umfasst als bloß rechtzeitig aufzuhören. Zeit ist aber nicht gleich Zeit. Wir können drei verschiedene Zeiten unterscheiden. Man bezeichnet sie fachsprachlich – das wurde in einem früheren Führungsbrief schon einmal erwähnt – als Chronos, Kairos und Kadenz.

  • Chronos ist die Dauer von etwas, gemessen (mittels Chronometer!) etwa in Stunden oder Monaten. Die Faustregel fürs Management würde bei Vielem am besten heißen: Die richtige Chronos ist halb so lang. Sprich: Für eine auf zwei Stunden geplante Sitzung wäre vermutlich eine Stunde gerade richtig – wenn sie dafür gut vorbereitet wäre. Analog lehrt uns die Erfahrung, Projekte zu planen. Wir wissen, wie lange die dauern: doppelt so lang. Kurzum: Die eingangs erwähnte elegante Kunst des Managements in Sachen Chronos hat einen Spielraum von sicherlich 1:4. Viel room for improvement, wie man heute sagen würde.
  • Kairos ist der richtige Zeitpunkt von etwas. Zu messen ist der sehr schlecht, zu spüren oft sehr gut. Rein wahrscheinlichkeitstheoretisch haben Sie viiiel mehr Chancen, den falschen Zeitpunkt zu erwischen als den richtigen. Zumindest unter der Annahme, es gäbe jeweils nur einen richtigen Zeitpunkt. Aber ganz so streng ist Kairos ja nicht. Für ein Lob gegenüber einem Mitarbeiter brauchen Sie nicht besonders lange nach dem richtigen Zeitpunkt zu suchen, für einen Tadel vielleicht schon.
  • Kadenz ist die zeitliche Häufigkeit von etwas: Anzahl pro Chronos, sozusagen. Klassischerweise stellt sich die Frage nach der Kadenz sowohl bei der Ausgestaltung des regulären Führungsrhythmus (Sitzungen, bilaterale Gespräche usw.) wie auch beim „liturgischen“ Kalender des Jahres (von der Budgetplanung bis zu den Zielvereinbarungsgesprächen oder den Führungsteam-Retraiten). Bei der Kadenz ist das Zuviel ebenso gängig wie das Zuwenig – nur das als subjektiv empfundene Geraderichtig ist eine seltene und damit kostbare Erfahrung.

Wenn eingangs von Kunst die Rede war, so sollte damit angedeutet werden, dass Handwerk allein nicht genügt, um Chronos, Kairos und Kadenz jeweils „richtig“ zu gestalten. Wäre es nur Handwerk, könnte es – im Prinzip wenigstens – jeder lernen. Selbstredend ist es (wie jede Kunst) auch Handwerk, aber eben nicht nur. Handwerkliche Ratgeber hierzu gibt es zuhauf, wir können diesen Teil hier also weglassen. Wie aber steht es mit der Kunst?

Es geht darum, das dialektische Zusammenspiel der folgenden Paare elegant zu meistern:

  • Gewohnheit und Wechsel: Wie immer Sie in einer Sache Chronos, Kairos und Kadenz ausgestaltet haben, es muss eine gewisse Konstanz in der Sache sein, so dass es zur Gewohnheit werden kann. Was gewohnt ist, ist stimmig. Niemand fragt sich, warum Weihnachten schon wieder am 25. Dezember ist. Wenn sich jedoch – aus welchen Gründen auch immer – ein Unbehagen breitmacht, dann ändern Sie die Sache. Verlegen Sie die Führungsteamsitzung von Montag auf Mittwoch, verkürzen Sie die Teamsitzung auf eine Stunde, machen Sie Ihre Bilas (oder heißt das bei Ihnen 1-to-1?) neu nur noch auf expliziten Wunsch. Wichtig ist nicht, wie Sie die Sache ändern, sondern dass Sie sie ändern. Und danach lassen Sie es zu einer neuen Gewohnheit werden. Aber kein ständiger, unvorhergesehener Wechsel ohne Chance auf erneute Gewohnheit, bitteschön – die Farbe eines Neuanstrichs muss wenigstens trocknen können.
  • Achtsamkeit und Fantasie: Damit Sie überhaupt realisieren, dass sich ein Unbehagen breitmacht, müssen Sie achtsam sein. Falls Sie es erst merken, wenn die Stimmung im Keller ist, dann ist der Trick mit dem Wechsel kaum mehr möglich. Wenn der Sitzungsleiter es nicht selbst merkt, dass schon längst keiner mehr bei der Sache ist, ist er der falsche Mann. Jede Sitzung, die eine Viertelstunde früher als geplant beendet wird, gibt allen das Gefühl, ein Ziel erreicht und eine Etappe gewonnen zu haben. Drei Minuten überziehen dagegen reichen für ein Gefühl von Ungeduld und Genervtsein. Die ganzen Sitzungsergebnisse können davon kontaminiert werden. Es braucht ein wenig Fantasie, um die Dinge zeitlich so zu gestalten, dass ein positiver Überraschungseffekt drin steckt. Aber nicht so viel Fantasie, bitteschön, dass das Ganze als gekünsteltes Etepetete oder Theater empfunden wird.
  • Knappheit und Überfluss: Begrenzung von Ressourcen (und somit insbesondere auch von Zeit) vermag mitunter die Fantasie zu beflügeln, Kräfte freizusetzen und zu vermehrter Anstrengung anzuspornen. Aber eben nur mitunter. Der positive Effekt verpufft vor allem dann, wenn Knappheit als frustrierender Dauerzustand erlebt wird: Wir reden zu wenig miteinander, wir haben nie genug Zeit, um die Dinge gründlich genug zu besprechen usw. Sehen Sie es wie beim dinner cancelling: ab und zu praktiziert, führt es zu Wohlbefinden. Als Dauerlösung wärs kein Leben mehr. Umgekehrt gibt es Dinge, die davon profitieren, dass man sie sich im Überfluss gönnt: Muße entwickelt ihre Erholungskraft nur, wenn sie so praktiziert wird, als dürfte sie ewig dauern. Ohne Blick auf die Uhr. Keine Angst, das Bedürfnis nach erneuter Aktivität wird ganz von alleine wiederkommen.
  • Anfang und Ende: Es kommt nicht von ungefähr, dass im Theater der Vorhang aufgeht, wenn das Stück beginnt. Und achten Sie auf den Dirigenten, wie er im Orchester und im Publikum Ruhe erreicht, um dann den ersten Takt zu setzen. Ein klar inszenierter Anfang – von dem auch jeder weiß, dass es nun der Anfang war (und von was) – ist die halbe Miete. Die andere Hälfte ist ein sauberer Abschluss. Klar, ohne Schnörkel, verbindlich. Schluss ist nicht dann, wenn etwas fertig ist – das ist es fast nie. Schluss ist dann, wenn man bewusst einen Punkt setzt.

Einen Punkt zu setzen schließt die Gestaltung einer zeitlichen Sequenz ab. Es heißt aber nicht nur Schluss machen. Es heißt auch, den Platz und die Möglichkeit für Neues zu schaffen. Dies ist vielleicht sogar ein ganz besonderer Trumpf im Spiel der Führung. So etwas ist Chefsache, und die darf man sich nie aus der Hand nehmen lassen.

*

Man soll seinen Worten ja Taten folgen lassen, und so will ich nun im Führungsbriefeprojekt einen Punkt setzen. Nicht etwa, weil die Themen ausgehen würden, sondern weil ich Ihnen den Schluss der Sache bei Nr. 99 bereits in Nr. 50 angekündigt und fest versprochen habe.

Und so bleiben viele Führungsbriefe ungeschrieben – jener übers Scheitern oder der über Intelligente Ausreden ebenso wie einer über lange Pendenzenlisten mit durchgängiger Priorität 1 und ein anderer über die tückischen Fallstricke jeglicher Führungsliteratur. Und die Liste von hier noch unbehandelten Themen ist noch sehr viel länger – ein Ende gibts nicht, also muss man einen Punkt setzen. Die schöne Zahl 99 ist ein guter Anlass dafür.

Für Ihre Lese- und Mitdenktreue habe ich Ihnen zu danken. Das Briefeschreiben hat 99 Mal sehr viel Spaß gemacht. Ich hoffe, das Lesen ebenfalls. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Behalten Sie Ihre Führung im Auge!

Führungsbrief 98 – Gute Arbeit

Sie können getrost davon ausgehen, dass die allermeisten Ihrer „gewöhnlichen“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht durch Geld motiviert sind. Zwar wird sie – wie die meisten von uns – die Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt materiell zu bestreiten, veranlasst haben, einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Aber dies hat nichts zu tun mit dem, was sie täglich motiviert. Sie können ebenso getrost davon ausgehen, dass die Leistung ebendieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor allem davon abhängt, ob sie insgesamt das Gefühl haben, eine gute Arbeit machen zu können. Und Sie sollten drittens davon ausgehen, dass Sie als Führungskräfte eine direkte Verantwortung dafür haben, ob ihnen dies möglich ist.

Der Stolz darauf, in seinem Job eine gute Arbeit machen zu können, steht bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Basis erfahrungsgemäß auf drei Beinen. Welche davon für Sie als Kadermitglieder respektive Führungskräfte ebenso gelten, bleibe hier dahingestellt. Denn um Ihre Beweggründe geht es hier nicht, sondern um Ihre Verantwortung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das folgende Dreibein des Stolzes auf eine gute Arbeit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Unternehmens eine stabile Leistung aller sicherstellt.

(1) Überzeugende Produkte und Dienstleistungen des Unternehmens

Man will stolz sein dürfen auf das, was das eigene Unternehmen verkauft. Man will das Gefühl haben, an etwas Gutem mitzuarbeiten und dafür einstehen zu können. Und man will sich nicht schämen müssen, wenn man jemandem erzählt, wo man arbeitet. Ob diese erste Voraussetzung für eine gute Arbeit realisiert ist, liegt vorwiegend beim oberen und obersten Kader. Mittlere und untere Kader haben wenig Einfluss darauf – aber sie sind es, die die „Kollateralschäden“ ausbessern müssen, die entstehen, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst neigen nämlich dazu, mit vielfältigen negativen Verhaltensweisen darauf zu reagieren, wenn ihnen das Gefühl fehlt, für etwas Sinnvolles einen Beitrag zu leisten – sie drücken sich um die Arbeit, wo immer es geht, sie zanken untereinander um Nichtigkeiten, sie buhlen um kleine Vorteile, sie stänkern und sind unzufrieden. Also alles andere als leicht zu führen.

Wenn man genau hinschaut, gibt es einen deutlichen statistischen Zusammenhang zwischen dem Fehlen dieser ersten Voraussetzung und dem Versuch, durch monetären Ausgleich respektive finanzielle Leistungsanreize selbst auf der Stufe der Nicht-Führungskräfte „Motivation“ zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Und es ist unübersehbar, dass dies allenfalls kurzzeitig und nur vorübergehend gelingt. Nachhaltig ist es nicht, da dies eine Art Droge ist, welche nach immer höherer Dosierung ruft.

(2) Das eigene Kompetenzerleben

Es ist ein tief in den Menschen verankertes Bedürfnis, sich selbst als kompetent erleben zu können. Man will beherrschen, was man tut. Nichtkönnen, Nichtwissen und Nichtwollen geben äußerst schlechte Gefühle. Gute Gefühle dagegen gibt, zielführend arbeiten zu können, Ergebnisse der eigenen Anstrengung zu sehen, Lösungen für anstehende Probleme zu finden und anderen bei alldem eine gesuchte Hilfe sein zu können. Bereits sehr kleine Kinder zeigen diesen Drang zum eigenen Kompetenzerleben – und wenn man ihn ihnen nicht durch Frustrierung austreibt, behalten sie ihn ein Leben lang.

Man kann nun natürlich behaupten, dies sei ganz und gar in der Verantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst. Das stimmt aber nicht. Denn es sind Führungskräfte, die die Aufgaben gestaltet haben, für die man kompetent sein muss. Es sind Führungskräfte, die Leute für geeignet erachtet haben, darauf angesetzt zu werden. Es sind Führungskräfte, die die erforderlichen Ressourcen bereitstellen müssen, damit man eine gute Arbeit leisten kann. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst kann man nur abverlangen, dass sie bei ihren Vorgesetzten nötigenfalls auf solche Voraussetzungen pochen – oder dass sie ganz schlicht und einfach kündigen, wenn sie ihnen nicht gewährt werden. In der Hauptsache liegt die Verantwortung für die Schaffung von Voraussetzungen hier beim mittleren Kader.

Interessanterweise muss man das Augenmerk meist darauf richten, ob das mittlere Kader derartige Voraussetzungen nicht behindert oder zerstört. Denn in Organisationen ist ja meist schon vollständig definiert (oder zumindest eingespielte Praxis), welche Aufgaben jemand hat, mit welcher Verantwortung und mit welchen (Entscheidungs-) Kompetenzen. Kritisch ist daher, wie mit diesen organisatorischen Gegebenheiten – wie gesagt, primär vom mittleren Kader – umgegangen wird. Werden sie überhaupt hinterfragt, oder sind/bleiben sie einfach, wie sie sind? Werden sie unter dem Gesichtswinkel geprüft, ob sie kompetentes Arbeiten ermöglichen oder behindern? Oder werden sie ausschließlich nach Aspekten wie Kontrollierbarkeit, Standardisierung, Normierung, Automatisierung und so weiter geprüft?

Wie dies im Einzelnen geschieht, hängt natürlich immer auch von Vorgaben von „oben“ ab. Vieles ist dabei Produkt des jeweiligen Zeitgeistes. Aber es hängt immer auch davon ab, welches Menschenbild die verantwortlichen Führungskräfte prägt: Ob sie ihren Leuten also zutrauen, eine kompetente Arbeit leisten zu wollen, oder ob sie ihre Leute lieber in möglichst enge Vorgaben hineinzwängen wollen, wie es weiland Charlie Chaplin in den unsterblichen Modern Times demonstriert hat.

(3) Der Mannschaftsgeist im eigenen Team

Für die hier im Fokus stehenden „gewöhnlichen“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reicht der psychologische Erlebenshorizont vertikal nicht sehr weit. Um es salopper auszudrücken: Das eigene Wohlbefinden entsteht im eigenen Team (oder eben nicht) – „die da oben“ spielen hierfür keine Rolle. Entscheidend ist ein gutes Klima im eigenen Umfeld. Natürlich gibt es Einzelgänger, die am liebsten allein arbeiten. Aber auch dies muss vom Umfeld toleriert und respektiert werden. Für viele – vielleicht die meisten – Menschen in einer teamorientierten Arbeitsorganisation (wie sie heute weit verbreitet ist) ist es jedoch wichtig, dass alle in ihrem Team an einem Strick (und in die gleiche Richtung) ziehen, dass man gut zusammenarbeitet, dass wechselseitige Hilfsbereitschaft normal ist und ein insgesamt offenes Klima herrscht, in dem jeder auch seine Meinung sagen darf. Den wichtigsten führungsmäßigen Beitrag hierzu leisten bekanntlich die unteren Kader.

Sie erreichen dies gelegentlich zwar vor allem durch eine Solidarisierung nach unten, was das obere Management keineswegs schätzt. Aber ich halte dies für weniger schlimm, als wenn untere Kader den Mannschaftsgeist im eigenen Team durch klein-cäsarische Herrschaftsgebaren zerstören und primär eigene Machtgelüste ausleben.

Stellen Sie sich das hier umschriebene Dreibein des Stolzes auf eine gute Arbeit als einen dreibeinigen Holzschemel vor. Sie sehen sofort, dass der Schemel umfällt, wenn auch nur ein Bein fehlt oder brüchig ist. Sind alle drei Beine vorhanden und robust, so steht das Ding absolut stabil – auf jeder Grundlage, selbst wenn nicht alle drei Beine exakt gleich lang sind.

Sie als Führungskräfte haben eine gemeinsame Verantwortung dafür, dieses Dreibein zu schaffen – jeder vor allem in seiner besonderen hierarchischen Funktion. Das modische Gerede davon, man müsse in einem „War for talents“ ausschließlich die besten Leute gewinnen, ist leerer Quatsch, wenn Sie das hier beschriebene Dreibein hinterher den eroberten Talenten gar nicht zu bieten haben. Wenn Sie es bieten können und sorgfältig pflegen, dann werden Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dies mit unverbrüchlichem Stolz auf ihr/Ihr Unternehmen quittieren.

Führungsbrief 97 – Vernetzte Führung

Ein auf den Kopf gestelltes Y ist das klassische Modell, wenn man über Führung nachdenkt:. In der Mitte dieses „Modells“ denkt man sich die Führungskraft. Sie hat einen Link nach oben zu ihrem Chef, und sie hat nach unten – angedeutet durch die Schenkel des auf den Kopf gestellten Y – ihr Team von Direktunterstellten. Gegen oben hin muss stimmen, was gegen unten führungsmäßig durch- und umgesetzt wird. Weil sich das Modell in der gesamten Hierarchie wiederholt, ist damit alles aufs Beste aufeinander abgestimmt. Zumindest war es das wohl. Denn ich glaube, die Dinge verschieben sich mehr und mehr zu einem neuen „Modell“, einem auf den Kopf gestellten Yen-Zeichen, ¥. So also muss man sich die künftige Führung denken:.

Weiterhin ist die Führungskraft im Zentrum des Modells, ihre Zuständigkeit weist noch immer nach unten, und sie empfängt weiterhin ihre Aufträge von oben. Neu ist aber ihre horizontale/diagonale Einbindung. Selbstverständlich haben sich schon bisher Führungskräfte in der horizontalen Zusammenarbeit mit anderen engagiert. Darauf verweist die Literatur unter dem Titel der „lateralen“ Führung schon seit ein paar Jahren. Vor allem im Rahmen von Projekten, bei ungelösten Schnittstellenproblemen sowie in der Teamarbeit im Führungsteam des eigenen Chefs. Klassischerweise sah/sieht es so aus:

  • Die horizontale Zusammenarbeit mit anderen war bisher etwas, das „dazu“ kam, sich lateral, also seitlich und aufwandmäßig neben die eigentliche Führungsarbeit – deren Optik ja nach unten wies – gesellte. Vielleicht ist es übertrieben zu sagen, dass sie diese Führungsarbeit störte, aber sie kostete Zeit, welche für die (vertikale) Führung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fehlte.
  • Was die eigenen Direktunterstellten angeht, fordern seit je alle Vorgesetzten eine gute (meist: bessere) Zusammenarbeit. Man verlangt den Blick aufs Ganze. Man kritisiert jedes Silo-Denken. Doch den Worten folgen selten Taten, denn das gesamte Sanktionierungssystem schaut primär darauf, was eine Führungskraft in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich (also zwischen den Schenkeln des ) leistet.
  • Dieser Logik folgend empfindet es eine Führungskraft als in der Verantwortung ihres Chefs liegend, ob sie und ihre Kollegen (lateral) zusammenarbeiten oder nicht. Ihr fehlt damit der eigene Antrieb zur horizontalen Vernetzung, und Zusammenarbeit erfolgt eher aus Gehorsam gegen oben sowie aus zwischenmenschlicher, kollegialer Solidarität denn aus eigenem Wollen und Interesse.
  • Für die Optimierung der Leistung im eigenen Zuständigkeitsbereich kann es sogar hinderlich sein, gegenüber seinen Kollegen allzu kooperationsbereit zu sein – zumindest bei Verteilungskonflikten, die aus Ressourcenengpässen resultieren.
  • Der klassische „Dienstweg“ erfordert, dass sich eine horizontal direkt praktizierte Zusammenarbeit primär auf das Feld der Peers im eigenen Führungsteam beschränkt. Will man darüber hinausgehen, ist – wenigstens im Prinzip – der Weg hoch zum eigenen Chef, rüber zu dessen Peer und hinunter zu dessen Mitarbeitern angesagt. Dass dies heute immer weniger praktiziert wird (weil es viel zu umständlich und langsam ist), ist ein Zeichen für den Wandel, von dem ich hier rede. Man kooperiert vermehrt auch diagonal – nach seitlich unten oder oben.
  • Kooperation ist ja nicht immer konfliktfrei. Im Notfall bedient man sich der Eskalation. Im Fall eines Konflikts unter Peers ist das einfach: Der gemeinsame Chef muss ran. Ist der Konflikt breiter, also über den Zuständigkeitsbereich des eigenen Chefs hinausreichend, müsste bereits der Chefchef ran, und man findet sich im Extremfall an einem Punkt, wo alles Mögliche durch den CEO zu entscheiden wäre. Das ist nicht praktikabel.

Aus verschiedenen Gründen müssen sich diese Dinge ändern, will heißen, noch verstärkt in die Richtung einer (auch) diagonalen Führung verschieben. Hier nur die wichtigsten: Die zunehmende Standardisierung und häufig auch Zentralisierung erfordert breitflächige Abstimmung. Die Prozessorientierung erzwingt ein unternehmensweites Hand-in-Hand. Die Beschleunigung von fast allem verlangt schnelle, kurze Wege für Abstimmung und Konfliktbearbeitung. Der Informationsfluss ist nicht mehr auf hierarchische Kanäle angewiesen und kann punktgenau direkt erfolgen. Die Organisationen werden komplexer und weniger übersichtlich. Wer in einer Matrixorganisation arbeitet, kann davon ein Lied singen.

In der Folge von alldem muss Führung vernetzt werden: networked leadership, falls das für Sie attraktiver klingt.

Die horizontale Kooperation mit anderen erhält die gleiche Bedeutung für Führung wie die Ausrichtung nach oben und die Intervention nach unten. Die Doppelstrich-Andeutung im Modell des besagt, dass diese Kooperationsbeziehungen komplex, da mehrschichtig und ebenenübergreifend sind. Sie sind von ihren Anforderungen her auch häufig ganz und gar nicht widerspruchsfrei. Entscheidend aber ist, dass in der Folge sich auch bisherige Kernstücke der Führung verändern. Zum ersten: Die Ausrichtung nach oben ist nur noch bedingt, denn plötzlich gibt es indirekte Einflussnahmen auch von seitlich-oben. Eskalation ist hier ein viel zu aufwändiges und umständliches Mittel. Hierarchieunabhängige und direkte Kommunikation ist gefragt. Zum zweiten: Horizontale Kooperation ist nicht mehr eine Aufgabe neben der ureigenen Führung, sondern eine Voraussetzung für deren Erfolg. Die Formel lautet nicht mehr „Führung und Zusammenarbeit“, sondern „vernetzte Führung“. Dies kompliziert nicht nur alles, sondern es erschwert die eigene Führung auch, weil der erstgenannte Punkt hier ja auch gilt: Das heißt, meine Führung wird von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eben auch nur bedingt akzeptiert.

In der Folge verliert Macht als Werkzeug der Führung noch mehr an Bedeutung (genauer: sie wirkt fast nur noch ganz zuoberst, wo es keine horizontale Abhängigkeit mehr gibt). Vernetzte Führung gelingt ausschließlich über Kommunikation und Sinnstiftung: Alle Beteiligten müssen sich ernst genommen wissen; alle müssen über ausreichende Informationen verfügen; der Sinn der Sache muss jederzeit allen klar sein; Ziele, Interessen und Perspektiven müssen offener gelegt werden; Konflikte stehen öfter an und sind seltener durch Eskalation zu lösen; informelle Muster dominieren formale Prozesse und Ordnungen. Aushandlung wird wichtiger als Anweisung.

Fürwahr, nicht die leichteste Aufgabe. Sie erfolgreich zu bewältigen heißt, mit diversen tragenden Säulen der heutigen Führungswelt in Schwierigkeiten zu geraten. So kann ich nicht mehr ein Wir-Gefühl in „meinem“ Team erzeugen, indem ich ein Ihr-Gefühl gegen die anderen züchte (ein Punkt, den Sie für sich bestimmt abstreiten, aber ich nehme Ihnen da Ihre weiße Weste nicht so schnell ab). Oder die Zielvereinbarungsrituale, die nur top-down verlaufen, verkennen völlig, wie viel sachliche Vernetztheit objektiv da ist und von einer vernetzten Führung abgebildet werden müsste. Oder die Leistungsbemessungskriterien, die entweder lokal oder total sind, aber völlig ungeeignet, die „Fernwirkungen“ lokalen Tuns oder Lassens auf andere lokale Bereiche zu erfassen.

Wo solch grundlegende Dinge in Frage stehen, kann es nie und nimmer ausreichen, die Beteiligten zu vermehrter Kooperation aufzurufen. Wir haben es hier nicht mit einer moralischen Frage zu tun. Vernetzte Führung wird ihre Instrumente überhaupt erst neu erfinden müssen. Ich verspreche Ihnen, das wird radikale Änderungen mit sich bringen. Welche, das zeichnet sich erst sehr verschwommen ab. Es wäre anmaßend, dies schon heute genauer erkennen zu wollen. Aber ich bezweifle, dass die Hierarchie, als heute noch letzte Rückversicherung von Führung, in der uns bekannten Form überleben wird.
Ein Grund zur Trauer muss das aber auch nicht sein.

Führungsbrief 96 – Personalvielfalt

Der Herrgott hat ganz unterschiedliche Kostgänger, hat man früher gesagt. Da ergeht es Ihnen als Führungskraft nicht anders. Wenn Sie sich in Ihrem Unternehmen umschauen, werden Sie überaus unterschiedlich eingestellte, motivierte, ausgebildete, engagierte, sympathische Menschen sehen. Sie finden vielleicht nicht alles gut, was Sie sehen – aber die Vielfalt ist unübersehbar. Für Führungskräfte war das nicht immer so. Das liegt daran, dass es früher recht scharf gezeichnete (aber sich trotzdem wandelnde) Menschenbilder gab, und Führungskräfte sahen bei Leuten eher das, was das herrschende Menschenbild unterstellte, als das, was da war. Vielleicht schlimmer noch: Viele Leute wurden mit der Zeit tatsächlich so, wie das jeweilige Menschenbild unterstellte, einfach weil sie dementsprechend behandelt und geführt wurden.

Grob geschätzt in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts dominierte ein Menschenbild, wonach die meisten Menschen faul und uninteressiert seien und sich vor jeder Verantwortung drückten. Von dieser (Dis-) Qualifikation waren Führungskräfte natürlich ausgenommen, das Menschenbild war auf die „gewöhnlichen“ Leute gemünzt, die damals noch Arbeiter hießen. Entsprechend dieser Annahme wurde Arbeit so organisiert, dass sie ganz mechanisch und ohne zu denken abgewickelt werden konnte. Das Fließband steht als Symbol für diese Welt. Und wer daran arbeitete – oder besser: daran gefesselt war –, der hatte seinen Kopf tatsächlich bald nicht mehr bei der Arbeit. Wozu auch?

Etwa Mitte des letzten Jahrhunderts „entdeckte“ man, dass Menschen soziale Wesen sind und wesentlich mehr leisten können, wenn sie gut behandelt werden, anerkannt werden und mit anderen Menschen zusammenwirken können. Aus den Arbeitern wurden Mitarbeiter. Es war die Zeit der „Human Relations“, die darauf vertraute, dass glücklichere Kühe mehr Milch geben (wobei ein solches Bild doch recht entlarvend war).

Im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts wurden nicht mehr nur die Hände (für das mechanische Schuften) und die Herzen (fürs Zusammenarbeiten und das Engagement) gebraucht, sondern auch die Köpfe. Das Menschenbild behauptete nun, die Menschen würden sich sehr wohl interessieren, engagieren und Verantwortung übernehmen wollen. Zusammen mit den Einsichten der Human-Relations-Zeit konnte man auf der Basis dieses neuen Menschenbilds Gruppenarbeit einführen: das Team war geboren. Wer (damals so genannte) teilautonome Gruppen einführte, fand tatsächlich das neue Menschenbild der verantwortlichen und mitdenkenden Menschen bald bestätigt, denn die Menschen konnten/mussten nun ja tatsächlich Verantwortung übernehmen, und es gab tatsächlich etwas mitzudenken.

So etwa zur Jahrhundertwende entdeckte man, dass sich die Idee mit der Selbstverantwortung radikal genug weitergedacht zum Konzept der Ich-AG weitertreiben ließ – auf dass jeder seines Glückes Schmied sei und der Tüchtigere sich durchsetzen möge. Was einige ja dann auch taten. Und was nicht wenige Führungskräfte dazu verleitete, sich zwar Führungskraft zu nennen, auf Führung aber zu verzichten und stattdessen alles auf die Eigenverantwortung der Leute abzuschieben. Allen Ernstes wurde (und wird teilweise noch heute) behauptet, jede/r im Unternehmen müsse/wolle/könne Mit-Unternehmer/in sein.

Wo stehen wir heute?

Psychologisch gilt im Prinzip noch immer, dass sich doof benimmt, wen man doof behandelt. Und dass sich besser benimmt, wen man besser behandelt. Man kann – im Prinzip – Menschen nach seinem Menschenbild „formen“, nur braucht das Zeit, und diese Zeit ist heute in der Führung nicht mehr da. Die Dinge wandeln sich zu schnell.

Also müssen wir davon ausgehen, dass wir tatsächlich unterschiedlich eingestellte, motivierte, ausgebildete, engagierte, sympathische Menschen zu führen haben – egal, von welchem Menschenbild wir „eigentlich“ geprägt wären. Einen Teil dieses Problems lösen wir durch Selektion. Wir achten darauf, dass Aufgaben, die Verantwortungsbereitschaft erfordern, an Menschen übertragen werden, die bereit und in der Lage sind, diese Verantwortung wahrzunehmen. Und wir überlassen einfache, repetitive, um nicht zu sagen geisttötende Aufgaben Menschen, die ihren Kopf für anderes als die tägliche Arbeit brauchen wollen. Problematisch dabei ist freilich viererlei: (1) Haben wir die Menschen richtig eingeschätzt? (2) Schätzen sich diese Menschen selbst richtig ein? (3) Gilt unsere/ihre Einschätzung morgen und übermorgen unverändert immer noch? (4) Sind die Aufgaben so, wie sie gestaltet sind, tatsächlich optimal gestaltet?

Unterstellen wir zunächst ein viermaliges Ja auf diese Fragen. Sind wir dann aus dem Schneider? Nein, denn es ist komplizierter. Es kommen sich heute drei Tendenzen in die Quere, die unsere Thematik allesamt überlagern:

– Standardisierung. Auf einem technologisch komplett anderen Niveau als vor gut hundert Jahren stehen wir wieder vor einer Welle der Industrialisierung, Normierung, Zentralisierung, Automatisierung und Bürokratisierung, die alles über einen Leisten schlagen will.

– Individualisierung. Gesellschaftlich dagegen gilt die Norm der größtmöglichen individuellen Freiheit. Es gilt, wie schon Friedrich der Große postulierte, der Grundsatz: Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Es ist zu bezweifeln, dass diese Fasson grad immer so schön zu dem passt, was die Industrialisierung an beruflichen Tätigkeiten auch anzubieten hat.

– Vertikalisierung. Es leben und arbeiten heute häufig (zumindest) drei sehr unterschiedliche Generationen neben- und miteinander im gleichen Unternehmen: Die Babyboomers (geboren zwischen 1946 und 1964) gelten als loyal, leistungsbereit und diszipliniert; die Generation X (geboren zwischen 1965 und 1978) gilt als ambitioniert, individualistisch und ehrgeizig; die Generation Y (geboren zwischen 1979 und 1999) gilt als ichbezogen, technologieaffin und hat/will sehr viele Optionen.

Sie als Führungskraft stehen vor der schwierigen Aufgabe, die ganze bunte Palette ihres Personals im engen Rahmen der (Ihnen meist ja vorgegebenen) Industrialisierung so zu führen, dass ein Gesamtoptimum an Leistung, Passung und Zufriedenheit resultiert. Die Kunst ist, sich ganz entspannt auf diese Vielfalt in der Einfalt einzulassen und nicht zu meinen, „eigentlich“ müssten die Leute doch ganz anders (will heißen: wie Sie) sein.

Eine echte Navigationshilfe haben Sie dabei nicht, denn was unter den obigen drei Spiegelstrichen gesagt wird, gilt nur als grobe Vereinfachung, und Sie können sich im Einzelfall nicht darauf verlassen. Kein Weg führt daran vorbei, jeden einzelnen Menschen in Ihrem Personal individuell richtig einschätzen und einsetzen zu können.

Unklug also, wer meint, auch eine einheitliche Unternehmenskultur nach Art der Industrialisierung definieren, implementieren und ausrollen zu können. Unklug auch, wer meint, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – egal ob Kader oder nicht – müssten in gleicher Weise mit dem Unternehmen identifiziert sein. Auch das Personal ist eben nicht mehr, was es einmal war, und irgendwie kommen wir in der Führung nie so recht um die Menschen rum. Oder wie die Zyniker wissen: Der Mensch steht im Mittelpunkt – und damit immer im Weg.

Führungsbrief 95 – Egonomie

Im Wahlkampf von Bill Clinton vor über 20 Jahren dominierte der Slogan: „It’s the economy, stupid!“ („Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!“). In manchen Führungsthemen sollten wir vielleicht kalauern: „It’s the egonomy, stupid!“ Geliebtes Ego! Du sorgfältig zu pflegendes Terrain, du ach so leicht zu kränkende Mimose, du Quell jeden Führungswillens! Wie leicht geht dir doch der Lack ab … Von Narzissmus reden wir also, und das macht klar, dass sich dieser Führungsbrief nicht an die wahren Narzissten selbst wenden kann. Denn so einem kann man den Spiegel gar nicht vorhalten. Falsch, stopp, ich korrigiere mich: Selbstverständlich kann man einem Narzissten den Spiegel vorhalten – bloß wird ihm überaus gefallen, was er darin sieht.

Wenn Sie es Ihrerseits mit solchen Narzissten zu tun haben, so können die eigentlich fast nur hierarchisch über Ihnen (oder allenfalls neben Ihnen) stehen. Denn stünden sie unter Ihnen, vermöchten sie das gut zu kaschieren und wüssten Ihre – wenn auch noch so schwach ausgeprägten – narzisstischen Bedürfnisse zu befriedigen. Zum Rausschmiss kommt es also nicht. Und höher- oder gleichgestellte Führungskräfte, die Ihnen vielleicht mit ihrem Narzissmus auf den Geist gehen, können Sie nicht rausschmeißen. Schwierig, schwierig.

Wo liegt denn überhaupt das Problem? Sind wir nicht alle ein wenig selbstverliebt? Braucht es nicht sogar zwingend eine gewisse Portion Narzissmus, um überhaupt Führungskraft werden und sein zu wollen?

In der Tat! Denn es braucht – wenn wir streng sein wollen – nur schon Selbstüberschätzung, um einen Führungsanspruch überhaupt geltend zu machen, auch wenn sich der Anspruch hinterher als berechtigt herausstellt: Die Selbstüberschätzung besteht nicht darin, dass Sie sich den Führungsjob (zu Recht oder nicht) zutrauen. Sie besteht darin, dass Sie ohne weitere Prüfung annehmen, Sie seien besser als alle anderen dafür geeignet. Die Berechtigung dieser Annahme lässt sich auch hinterher nicht mehr überprüfen – denn Sie haben ja nun den Job!

Also noch einmal: Wo liegt das Problem?

Keiner ist ja gänzlich frei von Narzissmus – zumindest in den Führungsetagen und bei den Beratern. Was sind die Kriterien, nach denen Narzissmus mit zunehmender Ausprägung problematisch wird, das heißt, dem Unternehmen zu schaden beginnt? Es sind vor allem die folgenden drei Fälle, die auf die watch list einer Unternehmung gehören. Und man kann einer Führungskraft nur raten, sich diese Punkte auf die persönliche Reflexionscheckliste zu schreiben, so dass sie sie selbst bekämpfen kann, bevor sie damit auf dem Radar ihrer Vorgesetzten aufleuchtet:

  • Andere klein machen. Das Selbstwertgefühl von Narzissten ist klein. Ohne dauernde Bestätigung können sie daher nicht leben. Problematisch wird es, wenn sie sich selbst dadurch zu erhöhen versuchen, dass sie andere klein machen. Ein guter Indikator ist, zu beobachten, wie sich jemand gegenüber Leuten verhält, die in der schwächeren Position sind. Nicht nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern Putzfrauen, Kellner, Verkäufer.
  • Das Denken anderer ersticken. Narzissten verlieben sich in jeden Gedanken, der ihnen – es muss von Gott selbst sein! – eingegeben wird. Problematisch wird es, wenn das eigene Denken so sehr als das einzig richtige hingestellt wird, dass die Menschen in der Umgebung sich nicht mehr getrauen, selbst zu denken. Ein guter Indikator ist, zu beobachten, ob jemandem überhaupt noch widersprochen wird oder ob er von Ja-Sagern umgeben ist.
  • Hermetisch werden. Um das eigene Ego keinerlei Bedrohung auszusetzen, neigt der Narzisst dazu, sich mehr und mehr nicht bloß gegen andere Meinungen, sondern überhaupt gegen nicht passende Informationen hermetisch abzuschirmen. Problematisch wird es, wenn die Abwehr keinerlei Prüfung mehr bedarf, sondern blitzschnell als automatische Reaktion erfolgt. Ein guter Indikator ist, zu beobachten, ob jemand es kaum mehr für nötig erachtet, in der Sache überhaupt zu argumentieren.

Das sind, bei deutlicher Ausprägung, die schädlichsten drei Elemente. Wo narzisstische Selbstverliebtheit so weit führt, nimmt die Führung Schaden. Vorwarnzeichen dafür zeigen sich beispielsweise in Folgendem:

  • Die Empathie nur noch auf sich richten. Narzissten sind vor allem angesichts ihrer eigenen Gefühle gerührt. Es betrübt sie die für ihr Ego unzumutbare Erfahrung, dass/wenn sie sich ärgern mussten. Gefühle anderer dagegen nehmen sie wenig wahr.
  • Nicht über sich lachen können. Narzissten können zwar prima über ihre eigenen Witze lachen, nicht aber über sich selbst. Da hört der Spaß nämlich auf. Der Humor des Herzens ist ohnehin ihre Sache nicht.
  • Die Kontingenz leugnen. Narzissten verstehen es hervorragend, alle Zeichen zu lesen und zu interpretieren. Das führt sie nahe an den Verfolgungswahn. Ihr stringentes, aber paranoides Denken unterscheidet überaus schnell zwischen Freund und Feind. Folgerichtig leugnen Narzissten alle Kontingenzen – das heißt Zufälle – auch beim eigenen Erfolg. Dieser ist immer ihr Werk, ein Misserfolg dagegen (wenn er sich denn nicht einfach ignorieren lässt), ist das Werk böswilliger Dritter. Bloß Glück gehabt haben Narzissten nie.
  • Besser sein müssen. Narzissten tun sich schwer damit, andere als besser gelten zu lassen. Ihre Strategie ist es, sofern sie die Möglichkeit dazu haben, dauernd die Spielregeln oder die Sportart zu wechseln. Das gibt ihnen Vorsprung. Es ist der Mechanismus, der zumindest einen Teil der Hektik im heutigen Change Management treibt. Dass der Narzisst dabei nur schneller aussieht, in Tat und Wahrheit aber bloß vorzeitig gestartet ist, fällt meistens gar nicht mehr auf.

Es versteht sich von selbst, dass es vom Ausmaß der Befunde abhängt, ob der Narzissmus im konkreten Fall vielleicht zwar lächerlich, aber nicht gravierend ist, oder ob er für die Führung tatsächlich zum Problem wird. Und es hängt davon ab, was eine Persönlichkeit nebst einem Schuss Narzissmus sonst noch zu bieten hat: soziale Kompetenz, Achtsamkeit beispielsweise – oder aber eben nichts Derartiges. Für die eigene Diagnose könnte es sinnvoll sein, sich dem Urteil anderer auszusetzen. Vorausgesetzt, diese anderen sind unabhängig! Denn sonst werden sie dem Narzissten selbstredend bestätigen, dass er weit davon entfernt sei, ein Narzisst zu sein. Er wird es ihnen gerne glauben.

Aber Narzissmus ist nicht nur und nicht immer negativ. Wo liegen seine guten Seiten?

In unserem Kontext müssen wir den Narzissmus nur schon dafür loben, dass er Führungskräfte hervorbringt. Weiter ist er für manche Leistung ein gratis zu habendes Motivationsmittel – er stachelt den Ehrgeiz an. Richtig dosiert vermag der Narzissmus den Auftritt und die kommunikative Wirkung einer Führungskraft massiv zu verbessern; wären uns sonst die besten Darstellungen unserer Lieblingsschauspieler überhaupt vergönnt? Führung hat schauspielerische Seiten, und wie soll uns ein Schauspieler gefallen, wenn er nicht zunächst und zumindest sich selbst gefällt?

Narzissmus ist ein Aphrodisiakum der Führung. Er ersetzt nichts, aber er stimuliert manches. Hören wir also auf, den Narzissmus nur zu verteufeln. Betrachten wir ihn als guten Wein, der maßvoll und mit Stil genossen sein will. „Egonomie“ wäre dann die Kunst zu wissen, wann einem selbst wie viel Narzissmus bekommt.

Führungsbrief 94 – Effizienz

Warum fällt es in der Führungsarbeit oft schwer, effizienzsteigernde Maßnahmen durchzusetzen? Effizienz ist doch etwas unbestritten Gutes. Effizienz ist das Verhältnis zwischen einem definierten Nutzen und dem Aufwand, der zu dessen Erreichung notwendig ist: Mehr Effizienz bedeutet, den gleichen Nutzen mit weniger Aufwand zu erreichen – oder mit dem gleichen Aufwand einen größeren Nutzen zu erzielen. Was kann man da dagegen haben? Klammern wir den naheliegenden und verständlichen Fall aus, dass niemand das Rationalisierungsopfer von effizienzsteigernden Maßnahmen sein will. Beschränken wir uns auf den weniger verständlichen Fall, wo sich Widerstand gegen effizienzsteigernde Maßnahmen aufbaut, selbst wenn in der Folge nicht Stellen abgebaut werden. Dieser Fall wird nachvollziehbarer, wenn man versteht, warum mehr Effizienz gar nicht immer besser ist. Effizienz ja, aber … Ich sehe sieben Aber, die Sie im Auge behalten sollten, wann immer Sie auf effizienzsteigernde Maßnahmen aus sind.

Aber Nr. 1 – Die Multiplikationsregel

Effizienz ist nicht gleich Effektivität. Letzteres meint Wirksamkeit. Eine Maßnahme ist dann effektiv, wenn sie den angestrebten Nutzen tatsächlich schafft (egal mit welchem Aufwand oder zu welchem Preis). Effektiv heißt, die richtigen Dinge tun; effizient heißt, die Dinge richtig tun. Der Wert Ihrer Maßnahmen ergibt sich nun aus der Multiplikation von Effizienz und Effektivität. Eine wirkungslose Maßnahme ist auch bei größter Effizienz wertlos. Effizienz ist nicht bedingungslos gut, sondern erst in Verknüpfung mit einer guten Effektivität.

Aber Nr. 2 – Der Lokalitätsvorteil

Man darf nicht einfach unterstellen, Zentralisierung und unternehmensweite Vereinheitlichung führten in jedem Fall zu mehr Effizienz. Wer effizienzsteigernde Maßnahmen aus einer zentralen Funktion in sonnenköniglicher Manier nach dem Grundsatz „une foi, une loi, un roi“ unternehmensweit durchsetzen will, verkennt oft, dass damit abteilungslokale Besonderheiten zu wenig beachtet werden, so dass die Effektivität sinkt (was, wie unter Aber Nr. 1 gesagt, den Wert der Effizienz mindert) oder – vielleicht noch häufiger – die Effizienz gesamthaft sinkt, weil nämlich lokal zu viel „Abwärme“ entsteht: Ärger, Auseinandersetzungen über Sinn/Unsinn einer Vorgabe oder Maßnahme, Umgehungsversuche, bis hin zur versteckten oder offenen Subversion. Der schweizerische Föderalismus, auf den wir ach so stolz sind, ist gewiss nicht das Effizienteste. Aber manchmal vielleicht dennoch nützlich. Auch um den Preis einer gewissen Ineffizienz.

Aber Nr. 3 – Der Verschwendungsnutzen

Ineffizienz ist nicht immer unnütz. Evolutionsbiologen sagen, der Pfau leiste sich sein „teures“ und unbequemes Schwanzgefieder nicht trotz, sondern wegen seiner verschwenderischen Ineffizienz. Die Botschaft (an die Weibchen) lautet: Seht her, wie stark ich bin, ich kann mir sogar dieses unnütze, aber schöne Rad leisten. Nicht viel anders im Zwischenmenschlichen: Im Film „A Beautiful Mind“ muss das der mathematisch geniale Held erfahren, als er einer Frau in der Bar vorrechnet, das ganze Vorgeplänkel mit Drink spendieren, Konversation machen, gemeinsam essen usw., um dann endlich zusammen im Bett zu landen, sei doch ineffizient, man würde besser gleich zur finalen Tat schreiten und subito ins Bett gehen. Statt seines errechneten Effizienzgewinns erntet er eine schallende Ohrfeige. Und so ist es auch im betrieblichen Alltag manchmal sinnvoll, beispielsweise den scheinbar ineffizienten Umweg über manch langwieriges Gespräch zu nehmen, statt, zack, einen Entscheid zu fällen. Die durch Gespräche erreichbare Akzeptanz des Entscheids mag seine Ineffizienz mehr als wettmachen.

Aber Nr. 4 – Das Pareto-Prinzip

Oftmals lassen sich mit 20% des Aufwands 80% des Nutzens erreichen, während es weitere 80% Aufwand kostet, die letzten 20% des Nutzens zu holen. Wo das stimmt, da sollte man von einer immer weiteren Steigerung der Effizienz absehen. Es lohnt sich einfach nicht, eine Zitrone bis auf den allerletzten Tropfen auspressen zu wollen. Insofern gilt das so genannte Schweinegesetz – „Wenn etwas gut ist, ist mehr vom selben besser!“ – wie auch sonst überall, so eben auch hier nicht.

Aber Nr. 5 – Die Gewürztheorie

Effizienz ist kein Selbstzweck. Effizienz ist Salz und Pfeffer – aber nicht das Fleisch. Ohne Salz und Pfeffer würde das Fleisch nicht schmecken, aber noch weniger schmecken Salz und Pfeffer ohne Fleisch. Die Gewürztheorie der Effizienz besagt, dass es auf das richtige Maß und den richtigen Zeitpunkt und natürlich das angestrebte Menü ankommt, wenn ein Gewürz das Essen verbessern soll. Analoges gilt für effizienzsteigernde Maßnahmen.

Aber Nr. 6 – Das NIHS

Selbsterfundene effizienzsteigernde Maßnahmen oder solche, an deren Entwicklung man zumindest aktiv beteiligt wurde, werden effektiver – und effizienter! – umgesetzt als fremde Vorgaben, so gut sie sachlich auch begründet sein mögen. Jeder, der anderen Arbeitstechnik beibringen will, macht die unglückliche Erfahrung, dass manche effizienzsteigernde Maßnahme abgelehnt wird, obwohl sie „objektiv“ gut wäre – die Maßnahme wurde nicht selbst erfunden, sondern von anderen entwickelt und vorgegeben. Das Not-invented-here-Syndrom spielt auch hier.

Aber Nr. 7 – Die Ellbogenfreiheit

Als Folge einer maximierten Effizienz besteht nirgendwo mehr Ellbogenfreiheit. Also Luft, um sich so oder eben auch anders zu bewegen. Ohne Ellbogenfreiheit, ohne Spielraum also, kann sich nichts mehr aus der Organisation selbst heraus entwickeln. Das ist der Tod jeder Innovationsfähigkeit. Wir haben dies vor Jahren, in den Hochzeiten des Lean Managements, auf drastische Weise in einem Unternehmen gesehen, das – als wir es kennen lernten – derart knochenmager war, dass nirgendwo auch nur ein Gramm Fett zu erkennen war. Ein Traum von einer Effizienzmaschine also – nur ohne jede Fähigkeit zu Innovation und Entwicklung.

An all diese sieben Aber sollten Sie denken, wenn Sie in Ihrem eigenen Führungsbereich mit effizienzsteigernden Maßnahmen auf Widerstand stoßen. Es muss nicht an der Veränderungsresistenz Ihrer Leute liegen. Es muss auch nicht an der Macht der (bequemen) Gewohnheit liegen. Es könnte tatsächlich der Fall sein, dass mehr Effizienz objektiv nicht besser ist!

Wenn Sie selbst aber passiv mit effizienzsteigernden Maßnahmen konfrontiert sind, die Ihnen nicht so recht passen, so überlegen Sie sich redlich, welche der hier beschriebenen Aber sich tatsächlich nachweisen lassen. Bloßer Widerstand gegen Veränderung steht nicht auf meiner Liste. Dafür ist Effizienz dann doch etwas viel zu Gutes.

Führungsbrief 93 – Lehmschicht?

Während es in der Tagespresse bekanntlich die Top-Manager sind, die immer wieder massiv kritisiert werden, ist es in der Managementliteratur das mittlere Management, das gerne beschimpft wird. Es sei die Lehm-, Lähm- und Lahmschicht des Unternehmens. Ist das wirklich so? Und wenn ja, woran liegt das? Von seiner Funktion her sollte das mittlere Management ja vielmehr das starke, gesunde Herz unserer Unternehmen sein. Der Motor, der den Karren am Laufen hält. Klar gibt es auch im mittleren Management Inkompetente, Faulenzer, Wichtigtuer und unan­genehme Zeitgenossen. Die vergessen wir jetzt aber mal und konzentrieren uns auf das Gros der Tüchtigen, die gewiss (auch) das mittlere Management mehrheitlich ausmachen. Wenn aus denen tatsächlich eine Lehmschicht wird, läuft etwas schief. Ich glaube nicht, dass wir im mittleren Management einfach eine Häufung schlechter Leute haben – wie sollte denn sonst aus denen erfolgreich das obere und gar oberste Kader rekrutiert werden können? Ich glaube eher, dass etwas am System faul ist.

Im Fokus des mittleren Managements, Sie wissen das aus einem früheren Führungsbrief, stehen die Regeln des Spiels. Die Aufgabe lautet, für handhabbare Prozessdefinitionen und für umsetzbare Ziel- und Leistungsvorgaben zu sorgen. Der individuelle Zuständigkeitsbereich im mittleren Management ist im Normalfall fachlich/geschäftlich/prozessual abgegrenzt – nicht einfach durch eine Anzahl Personen (wie im unteren Kader) oder durch eine Gesamtfunktion (wie im oberen Kader). In diesem Zuständigkeitsgebiet müssen die mittleren Kader jene Vorgehensweisen und Spielregeln festlegen, nach denen gearbeitet werden soll. In diesen Themen sind sie inhaltlich kompetent. Sie wissen, wie der Hase läuft. Man kann sagen, dass sie in der Gesamthierarchie (von unten betrachtet) die letzten sind, die in ihrem Sektor das Geschäft noch bis ins Detail kennen und durchschauen können.

Als Herrscher und Hüter über die Regeln haben sie einen hohen Handlungsspielraum. Ihr Einfluss ist damit größer, als ihnen dies manchmal bewusst ist. Sie sind es, die die „Maschine“ (wenn wir das Unternehmen auf die Metapher der Mechanik verkürzen) konstruieren, bauen, betreiben und am Laufen halten.

Ohne das mittlere Management geht gar nichts. Paradox ist freilich, dass es im Alltag betrieblich in aller Regel (!) aber nicht wegen, sondern trotz des mittleren Managements ganz gut läuft. Denn erst in den täglichen kleinen Abweichungen von der „reinen Lehre“ werden die Regeln wirklich umsetzungspraktisch. Mit dieser „Doppelmoral“ muss man leben.

Aber wird dem mittleren Management die genannte Hoheit auch wirklich noch zugestanden? Es ist eine merkwürdige Tendenz festzustellen: Mittleres Management ist heute überall. Will sagen, in immer mehr Bereichen beginnt man sich zu benehmen, als wäre man im mittleren Management. Oberes und gar das Top-Management lieben es, sich in Dinge einzumischen, die Gegenstand des mittleren Managements sind – es ist halt so schön konkret dort. Wo immer sich den unteren Kadern die Gelegenheit bietet, sich da auch einzumischen, tun sie es – es schmeichelt ihrem Drang nach oben. Spezialistenbereiche wie die Rechtsabteilung oder die SAP-Spezialisten bei den Finanzen versuchen, die Regelhoheit dem mittleren Management abzutrotzen und unter dem Etikett der Corporate Governance oder der Prozessbeherrschung ihrem eigenen Reich einzuverleiben. Oder HR-Leute, wenn sie versuchen, ureigenste Führungsaufgaben nach der Art und Funktion des mittleren Managements in Tools, Prozesse, Regeln zu verdinglichen – ohne zu merken, dass sie damit der Linienführung auf mittlerer Ebene die Lebenssäfte entziehen.

Kein Wunder also, wenn im echten mittleren Management tatsächlich eine Lehmschicht entsteht. Denn die mittleren Manager sehen sich so mehr und mehr um ihre Kernaufgabe und -zuständigkeit betrogen. Statt dass sie, wie hier gefordert, fachlich begründet Regeln vorgeben, sollen sie fremdgemachte Regeln durchsetzen. Selbst dort, wo sie vor Ort die Dinge besser beurteilen können als die Stäbe in der Zentrale oder ihre Oberen.

Zu behaupten, das mittlere Management würde Erneuerungen, Veränderungen, dem Wandel generell widerspenstig gegenüber stehen, ist ungerecht. Denn entsprechende negative Erfahrungen sind meist darauf zurückzuführen, dass das mittlere Management nicht adäquat in die Erfindung dieser Neuerungen eingebunden wurde. Würde man dem mittleren Management nur die Ziele einer Veränderung (und damit ein klares Wozu!) vorgeben, statt ihm immer gleich in die Umsetzung reinzureden oder diese gleich vorzudefinieren, dann würde es flugs die neuen Regeln erfinden und dann ebenso überzeugt durchsetzen wie die bisherigen. Das geht aber nur, wenn die mittleren Manager in ihrem Fachwissen wirklich ernst genommen werden. Dass sich das mittlere Management tatsächlich oft primär aus seiner Vergangenheit legitimiert, ist (wie Softwareentwickler sagen würden) „a feature, not a bug“. Wer seine Erfahrungen schmäht, kennt seine Vergangenheit nicht – wie soll er da eine Zukunft haben?

Ich mache die Erfahrung, dass die mittleren Kader als Gruppe vor allem von oben zu wenig Wertschätzung erfahren. Man nimmt ihnen übel, dass/wenn sie nicht begeistert durchsetzen, was ihnen vorgegeben wird. Aber vielleicht ist es eben gerade das, was sie mitunter in die Rolle der „Yes-butter“ (statt der wünschenswerteren „Why-notter“) bringt. Ich gehe so weit, die Qualität des oberen Managements danach zu beurteilen, ob sie a) wirkliche Fachleute ins mittlere Management gehievt haben und ob sie b) fähig sind, deren Kompetenz auch wirklich fruchtbar für das Unternehmen zu machen. Bedingung dafür ist Respekt. Respekt vor dem Menschen, seiner Erfahrung, seinem Engagement und seinem Sachverstand. Fehlt der Respekt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Sachverstand nur noch für Bremsmanöver missbraucht wird. Das ergibt dann tatsächlich eine Lehmschicht!

Ob die mittleren Manager für ihren Sachverstand den nötigen Respekt erhalten, hängt natürlich oft auch von ihnen selbst ab. Man kann nicht direkt von der (Fach-) Hochschule in die Praxis tauchen und dann gleich eine „Hoppla, jetzt komm ich“-Kommunikation starten. Wenn sie sich jedoch nicht selbst kommunikative Barrieren aufbauen, können sie mit modernem Fachwissen und bei gutem Geführtwerden viel bewirken und gestalten. Es wäre unklug, ihre Kompetenz als „theoretisch“ abqualifizieren zu wollen. Man sollte sie vielmehr zu nutzen wissen. So eingesetztes und wertgeschätztes mittleres Management ist fürs Unternehmen Gold – nicht Lehm.

Ich will hier aber nicht so tun, als wäre im mittleren Management selbst alles zum Besten bestellt, wenn es nur richtig eingesetzt und wertgeschätzt würde. Froh darüber, als mittlere Manager Führungskräfte unter sich zu haben, also nicht mehr die „gewöhnlichen“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die gepflegt und gehätschelt, motiviert und gelobt werden wollen, die Aufmerksamkeit erheischen und die man mitunter verknurren, verdonnern, ja dazu prügeln muss, dass sie tun, was sie tun sollten – froh also darüber, vergessen die mittleren Manager gerne, dass sie Führungskräfte sind und führen müssen. Und dann werden sie selbstverschuldet zu der Lehmschicht, die sie gar nicht sein wollen. Denn dann verpassen sie die Chance, sinnstiftend nach unten zu wirken. Umgekehrt wiederum ist zuzugeben, dass keiner nach unten sinnstiftend wirken kann, wenn er vom Sinn der Sache nicht überzeugt ist. Wer weiß, ob die oben beschriebene Tendenz, dem mittleren Management seine Kernaufgabe gedankenlos wegzunehmen, nicht mit daran schuld ist, wenn sich mittlere Manager eher um die Führung drücken.

Sollten Sie nicht zum mittleren Management gehören, dann vergessen Sie nicht, wo das Herz Ihres Unternehmens schlagen muss: im mittleren Management. Beanspruchen Sie dieses Herz, aber respektieren Sie seinen Rhythmus. Umgehen Sie es nicht mit einem Bypass von oben oder aus der Zentrale. Dann wird es Ihnen gute Dienste leisten. Sozusagen ein Leben lang – und Sie werden nicht über eine undurchlässige Lehmschicht klagen müssen.

Führungsbrief 92 – Kritik

„Ich mag Kritik, aber sie muss zu meinen Gunsten ausfallen“, meinte Marc Twain. Da haben der große Spötter und Sie und ich doch schon mal eine Gemeinsamkeit, nicht wahr? Wir alle mögen es nicht, kritisiert zu werden.

Wenn Sie das anders sehen und behaupten, Kritik dem Lob vorzuziehen (weil es Sie weiterbringe und so), dann tue ich Ihnen gerne den Gefallen und kritisiere hiermit in aller Deutlichkeit Ihren Hang, sich selbst zu belügen. Wohl bekomms! Andererseits ist sicherlich übertrieben, was mein Lieblingsphilosoph Peter Sloterdijk gesagt hat: „Manche Führungskräfte sind wie kostbare Ming-Vasen: ein kritisches Wort, und sie haben einen Sprung.” Häufig anzutreffen ist hingegen die kleine Fassung der Selbstbelügung: Sie akzeptieren jede Kritik, wenn sie konstruktiv ist. Wie soll ich konstruktiv kritisieren, wenn Sie zum Schluss kommen, zwei und zwei gäbe fünf? Soll ich sagen, Sie seien dem wahren Resultat deutlich nähergekommen als meine zweijährige Enkelin?

Hier geht es jedoch nicht ums Kritisiertwerden, sondern darum, wie wir selbst kritisieren sollten. Es geht auch nicht um Feedback, sondern ausschließlich um Kritik. Es kann dabei aber hilfreich sein, daran zu denken, wie ungern wir selbst kritisiert werden. Drei Dinge sind zu beachten: Kritik sollte – wie Sokrates es vor zweieinhalb Tausend Jahren sogar als dreifachen Filter fürs Reden überhaupt forderte – wahr, nützlich und notwendig sein.

Wahr

Leicht gesagt, nicht immer leicht zu beurteilen. Unbestritten gibt es ungerechtfertigte Kritik. Die verletzt besonders. Aber mit der Wahrheit ist es halt so eine Sache. Reden wir von Ihrer Wahrheit oder von meiner? Perspektiven können bekanntlich sehr unterschiedlich sein. Was durch Fakten belegbar ist, kommt dem Anspruch auf Wahrheit sicherlich näher als reine Behauptungen. Eine Kritik von der Art „Sie sind immer unfreundlich zu unseren Kunden“ erfüllt den Anspruch weniger gut als „Ich habe eben gehört, wie Sie mit dem Kunden gesprochen haben; ich empfand das als ausgesprochen unfreundlich.“ Wenn Sie als Führungskraft also Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter kritisieren, dann bemühen Sie sich darum, konkret zu sein. Nicht, um Ihre Kritik durch Auflistung eines „Sündenregisters“ zu beweisen, sondern um nachvollziehbar zu machen, wie Sie dazu kommen. Das ist nicht immer leicht, weil man ja nicht alle Vorkommnisse protokolliert (und das auch nicht sollte!). Sie dürfen sich auch gar nicht in die Beweisführungsecke drängen lassen: Wenn Sie in Bezug auf das Verhalten einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters ein ungutes Gefühl haben, so ist zumindest dieses Gefühl ein Faktum. Formulieren Sie einfach so, dass Ihre Kritik möglichst gut nachvollziehbar ist. Nebenbei: Das alles gilt genau gleich, wenn Sie statt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihren Vorgesetzten, Ihre Kollegen oder Ihren Ehepartner kritisieren wollen.

Nützlich

Hier geht es um Ihre Intention beim Kritisieren: Was wollen Sie damit bewirken? Das eben beschriebene Kriterium der Wahrheit ist beispielsweise nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Begründung dafür, jemanden zu kritisieren. Nützlich ist Kritik dann, wenn daraus etwas Besseres entstehen kann. Das ist sicherlich nicht der Fall, wenn Sie die immer gleiche Kritik äußern, ohne dass daraus irgendetwas folgt. Solche Kritik nennt man Nörgeln. Ebenfalls unnütz ist Kritik dann, wenn sie eigentlich nur der Absicht dient, den anderen klein zu machen und Sie zu erhöhen. So etwas stellt Ihrer Persönlichkeit ein derart mieses Zeugnis aus, dass es Ihnen grausen wird, wenn man es Ihnen dereinst beim Jüngsten Gericht vorliest. Also verzichten Sie bitte auf die kleine Genugtuung, „es“ jemandem einfach mal gesagt zu haben. Ich weiß, Sie machen das nie, das tut nur Ihr Vorgesetzter (beim Schweizer Fernsehen würde man jetzt einblenden „Achtung Satire!“). Vor allem gerne machen es Leute, die ihrer­seits über keinerlei Kritikfähigkeit verfügen. Die austeilen, aber nicht einstecken können. Überlegen Sie sich, bevor Sie kritisieren, was die Kritik denn Gutes bewirken sollte. Und fragen Sie sich, ob Ihre Kritik das denn auch wirklich kann. Gut ist, wenn Sie Maßnahmen oder Alternativen vorschlagen (oder gar verlangen) können, die dem Kritisierten eine realistische Chance zur Besserung geben. Auf der anderen Seite ist Kritik aber auch dann unnütz, wenn Sie sie vor lauter Angst vor Verletzung so lange in rosa Watte verpacken, bis der Kritisierte meint, eigentlich soeben für den Nobelpreis vorgeschlagen worden zu sein.

Notwendig

Kritik ist nicht gleich Kritik. Sie hängt ab vom Setting. Den scheußlichen neuen Hut von Tante Frieda zu kritisieren, ist absolut nicht notwendig, denn es kann Ihnen völlig egal sein, dass hier durchaus noch eine Verbesserung drinläge (womit die Anforderung „nützlich“ erfüllt wäre). Ebenfalls nicht notwendig zu kritisieren sind absehbar einmalige Vorkommnisse, von denen es gar keine verbesserte zweite Auflage mehr geben wird. Unbestritten notwendig ist Kritik hingegen in allen Lern-Settings – denn da kann sie zukunftsweisend sein. Und da ist sie auch am unproblematischsten. Das weiß jeder, der etwas lernen will und von seinem Meister oder Lehrer fachlich begründet kritisiert wird. Zu beachten ist auch da immer noch die Form und der Tonfall – die nicht herabsetzend sein sollen – und der geeignete Zeitpunkt. Der wäre im obigen Beispiel etwa erst dann, wenn der Kunde wieder weg ist und nicht in seiner Gegenwart. Lern-Settings gibt es aber nicht nur in der Schule oder in Kursen und Seminaren. Auch der normale Arbeitsalltag kann als Lern-Setting gelten, wenn er denn von allen als das begriffen wird.

Ein ehemaliger Chefarzt hat es mir kürzlich so geschildert: „Wenn sich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter manchmal über meinen Pedantismus oder Perfektionismus bei der Erledigung von ‚Kleinigkeiten‘ ärgerten, gab ich ihnen zu bedenken: ‚Nur Kleinlichkeit im Kleinen erlaubt Großzügigkeit im großen Ganzen.‘ Als Beispiel habe ich auf die Flugkapitäne verwiesen, die sich auch mit kleinlichen Checklisten abplagen müssen, um sich etwa auf den Auto-Piloten verlassen zu können – und so habe ich eben kritisiert, wenn Heftpflaster ohne Falz aufgeklebt wurden, weil sonst das ‚Grübeln‘ bei der Entfernung zumindest unangenehm war oder bei alten Patienten zu nochmaligen Hautschäden führte. Sonst aber ließ ich den Betrieb möglichst großzügig und selbstständig laufen.“

Das macht deutlich, dass das Gesagte nicht nur für individuelle Lern-Settings gilt, sondern gerade auch dann, wenn sich eine Organisation zum Ziel gesetzt hat, die gemeinsame Leistung zu verbessern. In diesem Fall ist eine periodische Kritik – Neudeutsch: eine After Action Review – geradezu Pflicht. Und zwar nicht nur vom Chef an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern als gegenseitige Kritik aller an allen. Sine ira et studio – ohne Zorn und Eifer also, aber im gemeinsamen Bemühen, die Dinge zu verbessern.

Hilfreich ist, wenn wechselseitige Kritik eingebettet ist in eine allgemeine Feedback-Kultur, in der auch Positives zurückgemeldet und nicht bloß das Negative kritisiert wird. Das sollten sich gerade auch die „Unteren“ hinter die Ohren schreiben, denn sie neigen besonders dazu, nur Negatives nach „oben“ zu melden, weil sie das Positive einfach als selbstverständlich betrachten. Oder sie melden nicht einmal das, wenn sie Angst vor Retourkutschen haben. Oder wenn sie daran zweifeln, dass sich „oben“ überhaupt jemand bessern will – immerhin hat ein berühmter Sozialforscher einst definiert, Macht bedeute, nicht lernen zu müssen!

Wahre, nützliche und notwendige Kritik gedeiht am fruchtbarsten auf dem Boden robuster persönlicher Beziehungen. Wenn ich weiß, dass ich grundsätzlich akzeptiert und geschätzt werde, dann lasse ich mich in einzelnen Dingen leichter kritisieren, als wenn ich mich jedes Mal als Person in Frage gestellt fühle. Nur so kann ich die nötige Kritikfähigkeit entwickeln, ohne die ich aus Kritik ohnehin nichts lernen werde. Gift ist, wenn Vorgesetzte ihre generelle Meinung über ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich ändern. Ein solches permanentes Auf und Ab der Beurteilung verunsichert ungemein und zerstört jede fruchtbare Feedback- und Lern-Kultur.

Robuste Beziehungen wachsen auf der wiederholten Erfahrung, dass man sich durchaus streiten kann und dass auch (begründeter) Widerstand gegen oben möglich ist und ernst genommen wird. Statt eines jährlichen 360°-Feedbacks brauchen wir eher ein 365-Feedback – also eine tägliche, gegenseitig kritisch wohlwollende Art der zwischenmenschlichen Kommunikation auf und zwischen allen Ebenen. „Kritisch wohlwollend“ könnte man nun durchaus mit „konstruktiv“ umschreiben. Das freilich ist ausschließlich ein Anspruch, den ein Kritiker sinnvollerweise an sich selbst richtet. Nicht ein Vorbehalt, der dem Kritisierten zustünde.

Führungsbrief 91 – Führungsteams

Ein Standardergebnis jeder Mitarbeiterumfrage lautet: Die GL wird nicht oder zu wenig als Team wahrgenommen. Um wie viel besser könnte sie doch sein und wirken, wenn man sie im übrigen Unternehmen als ein Team wahrnehmen würde. Dahinter steht der durchaus legitime Anspruch, vom obersten Führungsteam klare, nicht widersprüchliche, gemeinsam getragene, verbindliche Aussagen und Taten erwarten zu dürfen. Offenbar ist die Erfahrung vieler jedoch anders. Es scheint, dass sie „ihr“ jeweiliges GL-Mitglied auf eine Art erleben, aus der sie schließen, dass die GL eben gerade kein Team sei. Wenn etwa von Meinungsunterschieden zwischen den GL-Mitgliedern die Rede ist oder deutlich wird, dass in einer Sache noch immer kein gemeinsamer Entscheid gefunden wurde. Oder wenn ein GL-Mitglied sich kritisch über eine GL-Sitzung oder über ein anderes GL-Mitglied äußert. Heißt das tatsächlich, dass die GL kein Team ist? Ich empfinde die Deutung, die GL sei offenbar kein Team, in den meisten dieser Fälle als voreilig und als Zeichen dafür, dass die Erwartung an die GL als ein Team in Wahrheit emotional völlig überfrachtet wird. In ihrem Innersten wünschen sich meines Erachtens viele ein GL-Team, das „wie ein Mann“ auftritt. Und ein Zusammenspiel wie bei den drei Musketieren: „Einer für alle, alle für einen“.

Wussten Sie, dass dieses Motto aus dem Roman von Alexandre Dumas nach dem Sonderbundskrieg von 1847 in der Schweiz zu einer Art inoffiziellem Wahlspruch der Schweiz wurde? Es ist sogar in der Kuppel des Bundeshauses lateinisch verewigt: Unus pro omnibus, omnes pro uno. Wahrscheinlich also sind wir Schweizer da halt ein wenig historisch vorbelastet …

Romantische Erwartungen an eine Geschäftsleitung unterstellen, sie würde als ein homogenes und harmonisches Team am allerbesten funktionieren. Diese Unterstellung ist falsch, und meine nachfolgenden Begründungen hierfür beschränken sich keineswegs auf Geschäftsleitungen, sondern gelten für Führungsteams ganz allgemein. Dass derartige Erwartungen jedoch am liebsten an das oberste Führungsteam, eben die Geschäftsleitung, gerichtet werden, dürfte nicht zufällig sein. Denn man neigt in hierarchisch gebauten Unternehmen oft dazu, sich „alles Gute von oben“ zu erhoffen – nur um dann unweigerlich enttäuscht zu werden.

Warum sollten wir uns noch nicht einmal wünschen, dass ein (GL-) Führungsteam homogen und harmonisch ist?

  • Wichtigste Führungsaufgabe ist bekanntlich, Entscheide herbeizuführen. Entscheiden kann man nur Dinge, die man mit Fug und Recht unterschiedlich – also nicht homogen – beurteilen kann. Darüber kann man (ja muss man) diskutieren und sogar streiten – was jedoch nicht sehr harmonisch wirkt. In einem Unternehmen kann das nicht unbemerkt bleiben – es sei denn, die GL-Mitglieder sind überhaupt nicht im Kontakt mit ihren Leuten oder schauspielern ständig. Das kann niemand wollen.
  • Wenn Entscheide einmal getroffen sind, dann muss man sich dahinterstellen. Das setzt aber nicht voraus, dass man leugnen müsste, wenn man selbst lieber anders entschieden hätte. Man muss lediglich klarstellen, dass die Sache nun geritzt ist, und damit basta. 70% alignment – 100% commitment, lautet der Wahlspruch. Will sagen: Wenn man wenigstens in großen Teilen mit dem Entscheid einverstanden ist, dann soll man nachher nicht über die Differenzen jammern, sondern den ganzen Entscheid mittragen. Ohne Wenn und Aber. Wo man aber sehr viel weniger (als die bildlichen 70%) Zustimmung hatte, aber überstimmt respektive übersteuert wurde, da muss man auch sagen dürfen, dass man ganz einfach unterlegen ist mit seinen Argumenten. So ist das Leben! Nur, wenn das in 4 von 5 Fällen der Fall ist, dann sollte man mal den Stellenanzeiger aufschlagen … Wie auch immer: In beiden Fällen kann nicht das Bild vermittelt werden, alle in der GL würden alles genau gleich sehen und werten.
  • Trotzdem ist klar, dass ein Führungsteam nicht als ein zerstrittener Haufen wahrgenommen werden sollte. Aber als ein Kollektiv, in dem souveräne Individuen gemeinsam zu Lösungen kommen. Vielleicht auch nach hartem Fight. Und gleichzeitig ist klar, dass nicht jedes Mitglied dieses Kollektivs mit jedem Entscheid oder jeder Lösung gleich glücklich ist. Das schließt ein, dass man ab und zu mit Blessuren aus einer GL-Sitzung kommt. Und auch die dürften nicht unbemerkt bleiben.
  • Unterstellen wir einmal, eine GL wäre ein Dream-Team, das immer absolut homogen und harmonisch auftreten würde. Ich prophezeie Ihnen, dass dies weiter unten in der Hierarchie große Probleme verursachen würde. Denn im mittleren und unteren Kader gibt es viele unvermeidliche Zielkonflikte, die ausgetragen werden müssen. Manchmal, auch wenn nicht immer zu Recht, erwarten diese Kader von „ihrem“ GL-Mitglied, dass es für sie in den Krieg zieht. Dies könnte das GL-Mitglied niemals tun, wenn es anschließend als Teil des immer einigen Dream-Teams auftreten müsste. Das wäre schlicht nicht glaubwürdig.
  • Ich befürchte überdies, dass eine solche, stets einige GL innovationsunfähig (oder dann aber tollkühn) wäre. Innovation braucht Auseinandersetzung. Wenn eine neue Idee einfach so auf der Hand liegt und unmittelbar von allen akzeptiert wird, dann kann sie nicht sehr neu sein – oder sie ist eine bloße Mode, die man ohnehin besser zuerst hinterfragen würde, statt unbesehen in einem kollektiv-einigen Rausch auf sie aufzuspringen.
  • Bei vielen Führungsteams kommt erschwerend hinzu, dass sie gar nicht unbedingt eine gemeinsame Aufgabe haben (sondern nur einen gemeinsamen Chef). Das gilt natürlich nicht für eine GL. Aber wie gesagt rede ich hier von Führungsteams im Allgemeinen. Sind sie in der Sache schon heterogen, können sie in der Wirkung nicht plötzlich völlig homogen sein.
  • Für mittlere und untere Kader wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dient die falsche Erwartung an den Geist in Führungsteams oder in der Geschäftsleitung einer Harmoniehoffnung, die Unternehmen niemals erfüllen können. Es sei denn, sie sind jung und klein und im Feuer eines Start-ups. Sobald sie größer, etablierter und strukturierter sind, ist die romantische Zeit einer Jugendgang vorbei. Und sie kehrt nicht wieder. Trotzdem kann man natürlich niemandem eine Harmoniehoffnung ausreden. Aber man sollte sie auch nicht dadurch verfestigen, dass man sie zu erfüllen verspricht. Was vielleicht die eine oder andere Geschäftsleitung nur schon deshalb zu tun geneigt ist, weil sie ihr selbst verfallen ist. Das verführt sie dann auch dazu, zum Beispiel in Mitarbeiterumfragen danach zu fragen, wie man denn als Team wahrgenommen werde – in der sinnlosen und unrealistischen Erwartung, man würde hier ein großartiges Zeugnis ausgestellt bekommen … Ich vermute, dass im Thema Harmoniehoffnung der Kern der ganzen Frage dieses Führungsbriefs liegt: Das gibt zwar keiner gerne zu, aber die romantischen Erwartungen an Führungsteams und Geschäftsleitungen als „tolle“ Teams geht doch wohl letztlich auf das Bedürfnis nach Harmonie zurück. Enttäuschung ist damit programmiert.

Sie sehen, Führungsteams sind nicht einfach eine glückliche Familie. Sie sind Zweck- und Arbeitsgemeinschaften. Ihre Mitglieder dürfen auch gar nicht unter dem alles vereinigenden Diktat eines obersten Häuptlings stehen. Das Bild eines eingespielten Formel-I-Serviceteams, das in null Komma nichts die Räder an der Bolide wechselt, taugt nicht als Metapher für ein Führungsteam. Ebenso wenig die Fußballmannschaft, denn die soll das Spiel gewinnen, nicht diskutieren. Beide Bilder dürfen Sie ruhig vor Augen haben, wenn Sie an ein Arbeitsteam denken. Aber nicht, wenn Sie an ein Führungsteam denken. Und schon gar nicht in Bezug auf ein GL-Team.

Dennoch: Die Auseinandersetzungsfähigkeit eines Führungsteams – auch auf GL-Stufe – steigt sicherlich merklich, wenn sich die beteiligten Personen mögen und respektieren und wenn sie einigermaßen vergleichbar stark sind. Und umgekehrt gilt, dass allzu große Kräfteunterschiede wie auch „chemische“ Differenzen die Leistungsfähigkeit eines Führungsteams untergraben können. Beides impliziert aber keineswegs, dass das Führungsteam als homogene und harmonische Einheit auftreten müsste! Kritische Äußerungen über die Arbeit im Führungsteam oder Kritik an Kollegen oder dem Chef heißen noch lange nicht, dass dieses Führungsteam schlecht ist. Sie bedeuten nur, dass das Team weder homogen ist noch in ständiger Harmonie zusammenarbeitet. Und das ist gut so. Also nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Mehr noch: Nehmen Sie es in dieser Hinsicht in Schutz bei Ihren Leuten, falls diese klagen, es (also meistens die GL) sei doch gar kein Team.

Es darf jedoch durchaus erwartet werden, dass die Mitglieder eines Führungsteams oder einer GL nie, nochmals: nie, despektierlich über die anderen reden. So viel Dream-Team muss tatsächlich sein. Denn schließlich kann der Wahlspruch ja auch nicht heißen: Einer gegen alle, alle gegen einen.

Führungsbrief 90 – Führen von unten

Es ist ja nicht so, dass man als Führungskraft seinem Vorgesetzten respektive dessen Führung einfach nur ausgeliefert ist. Man hat als Geführter durchaus Einfluss darauf, wie man geführt wird. Leider wird das in der herkömmlichen Führungsentwicklung kaum je geschult. Einzig wer einen Coach hat, dürfte in dieser Hinsicht gezielt Unterstützung bekommen. Viele Führungskräfte gefallen sich daher in der Rolle des „Opfers“ und sehen ihren eigenen Anteil an der Führungsbeziehung nach oben nicht. Lassen Sie uns für einmal das Augenmerk ausschließlich auf diesen Anteil richten. Hier ist das Dienstreglement für einen erfolgreichen Umgang mit Ihrem Chef:

§1 Stellen Sie sich auf Ihren Chef ein, so wie er ist. Nicht auf Ihr Traumbild von einem Chef. Auch nicht auf das, was er gemäß Lehrbuch sein oder tun sollte. Machen Sie sich ein möglichst unvoreingenommenes Bild davon, wie Ihr Chef ist: Seien Sie offen dafür, dass er (oder sie; ich lasse diese Präzisierung im Folgenden weg) heute vielleicht anders ist, als sie ihn bis gestern erlebt haben. Er müsste von Ihnen mindestens die Chance bekommen, sich auch ändern zu können.

§2 Bauen Sie Ihr Bild auf drei Säulen auf: Die erste ist sein faktisches Tun. Streng nach dem biblischen Grundsatz „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Die zweite bildet seine Absichten. Die müssen zwar keineswegs seinen Wirkungen entsprechen, aber es macht ja doch einen Unterschied, ob jemand zum Beispiel willentlich verletzt oder bloß aus Ungeschicklichkeit. Die dritte Säule liegt in den Augen Dritter: Wie sehen Ihre (oder seine) Kollegen ihn? Wie sieht ihn sein Chef? – Entscheidend ist, dass Sie sich ganz unaufgeregt damit auseinandersetzen, dass diese Säulen widersprüchlich sein können. Führungskräfte sind Menschen und nicht Lehrbücher für Logik, die ohne Widersprüche auskommen möchten. Das gilt auch für Ihren Chef.

§3 Akzeptieren Sie, dass Sie Teil des „Werkzeugkoffers“ Ihres Chefs sind. Er braucht Sie, um seine Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können. Führung ist keine Liebes-, sondern eine instrumentelle Beziehung. Machen Sie sich also klar, was – in seinen Augen! – seine Aufgabe ist, und fragen Sie sich, welches Werkzeug Sie für ihn darstellen können und wollen.

§4 Streichen Sie auf der Liste Ihrer Erwartungen an ihn ein für allemal den Punkt, wonach Ihr Chef für Ihr Wohlbefinden zuständig ist. Er ist es nicht. Zwar ist er gut beraten, wenn er sich dafür interessiert, aber dieser Teil der Sache steht hier und jetzt nicht zur Debatte.

§5 Ob Ihr Chef auf Ihre Erwartungen an ihn eingeht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob er überhaupt weiß, was Ihnen wichtig wäre. Es ist, sorry, wie beim Sex: Besser, Ihr Partner weiß, was Sie mögen und was nicht; darauf zu hoffen, dass er das „spürt“ (sprich: richtig errät), geht allzu oft schief. Diesen Punkt werden Sie freilich nur dann berücksichtigen, wenn Sie wirklich wollen, dass die Dinge besser werden. Nicht wenn Sie es bevorzugen, recht darin zu behalten, wie schlecht Ihr Chef führt …

§6 Ohne Ihren Chef zu kennen, kann ich Ihnen verraten, dass er keine Überraschungen liebt. Da es ihm aber nie möglich sein wird, alles zu wissen, was in seinem Bereich läuft, sind Überraschungen insgesamt unvermeidlich. Das Beste, was Sie tun können, ist, ihn vor unliebsamen Überraschungen zu bewahren. Informieren Sie ihn proaktiv. Keineswegs möglichst umfassend, sondern so, dass es ihm seine Arbeit erleichtert. Dabei geht es darum, ihm good feelings zu vermitteln. Achtung: Das heißt nicht, die Dinge zu beschönigen. Sondern ihm rechtzeitig die Gelegenheit zu geben, einen Regenschirm einzupacken – noch bevor er in den Wolkenbruch gerät. Tun Sie das, ohne sich selbst zu beschuldigen, denn das bliebe an Ihnen hängen.

§7 Hüten Sie sich davor, selbst möglichst gut dastehen zu wollen. Wenn Sie über Probleme reden müssen, ist es besser, die Dinge beim Namen zu nennen. Verpacken Sie sie nicht in rosa Watte, das führt eher zu Misstrauen seitens Ihres Chefs. Dann wird er tiefergraben wollen, als Ihnen lieb ist. Allerdings dürfen Sie sich nicht darauf beschränken, Probleme zu benennen und Ihren Chef erwartungsfroh mit einem Blick anzusehen, der besagt: „Bitte schaffe mir die Probleme vom Leib, lieber Chef!“ Er darf nämlich von Ihnen erwarten, dass Sie sich selbst schon mögliche Lösungen überlegt haben. Am besten fühlt er sich, wenn er anhand Ihrer Lösungsideen seine Präferenzen verdeutlichen kann. Entsprechend sollten Sie sie geschickterweise aufbereitet haben. Ihr Chef sollte Sie jederzeit als part of the solution, nicht als part of the problem erleben, wie das heutzutage so schön heißt. Für Sie bedeutet das: Bereiten Sie sich gut auf Ihre Besprechungen mit Ihrem Chef vor! Und berücksichtigen Sie dabei, wie er tickt: Ist er ein „Hörer“, dann verschonen Sie ihn mit Papieren; ist er ein „Leser“, dann quasseln Sie ihn nicht voll, sondern versorgen Sie ihn vorab mit Unterlagen; ist er ein Detailliebhaber, dann seien Sie genau; ist er ein One-Pager-Manager, dann kommen Sie auf den Punkt.

§8 Das richtige Timing zu erwischen, das ist die hohe Schule des Führens von unten. Man sollte den Chef nicht im allerdümmsten Moment mit seinen Anliegen überfallen. Als Sie noch ein Kind waren, haben Sie das vermutlich im Umgang mit Ihren Eltern beherrscht. Aber da wussten Sie auch noch, dass es nur darauf ankommt, die neuen Fußballschuhe schlussendlich wirklich zu bekommen. Sie waren noch nicht dem Sachlichkeitsfetischismus verfallen, der meint, recht zu haben sei das Wichtigste. Sie müssen lernen, Ihren Chef zu gewinnen, nicht zu überzeugen. Wer gewonnen wird, fühlt sich gut. Wer argumentativ von seiner Meinung abgebracht wird, fühlt sich unter Umständen an die Wand gespielt. Wenn Ihnen das zu mikropolitisch klingt: bitte schön. Ich bin es nicht, der die neuen Fußballschuhe will.

§9 Sie haben selbstredend mehr Chancen, von Ihrem Chef das zu bekommen, was Sie wollen, wenn Sie selbst Ihre Hausaufgaben gemacht haben. Wenn Sie in Ihrem Job einfach gut sind. Aber nicht, wenn Sie Ihre Qualitäten auf eine Art herausputzen, die besagt, dass Sie selbst eigentlich der bessere Chef wären als Ihr Chef. Auch wenn Sie das vielleicht sind. Sie hören es bestimmt nicht gerne, aber es ist wenig weise, das Ego Ihres Vorgesetzten zu untergraben. Er ist genauso anerkennungsbedürftig wie Sie, und er wird genauso wenig gelobt wie Sie. Gestehen Sie ihm sein Ego zu. Sie brauchen hierfür kein Schleimer zu sein. Normaler Respekt und echte Anerkennung wirken Wunder.

§10 Lassen Sie sich gleichzeitig nicht alles gefallen. Sie dürfen sich abgrenzen, sie müssen das sogar, wenn Ihr Chef ungerechtfertigte Anforderungen an Sie stellt. Aber die Abgrenzung soll souverän wirken und weder gekränkt noch weinerlich noch erbost daherkommen. Nur wenn Ihr Chef dabei sein Gesicht nicht verlieren muss, kann er vernünftig auf Ihre Abgrenzung reagieren.

§11 Analoges gilt für Ihre Erwartungen an Ihren Chef. Wenn Sie etwas wirklich wollen, müssen Sie dafür einstehen. Man kann nicht bloß eine Karte an den Weihnachtsmann abschicken und dann hoffen. Kämpfen ist manchmal auch Teil des Führens von unten. Doch müssen Sie es schaffen, zu gewinnen, ohne Ihren Chef als Verlierer dastehen zu lassen. Gönnen Sie es ihm, wenn er das schlussendlich für seine Idee hält, was Sie ihm unbedingt abtrotzen wollten.

Gelingen wird dies alles nur dann, wenn Sie in Ihrem Innersten wirklich anerkennen, dass Sie immer auch mit dafür verantwortlich sind, wie Ihr Chef Sie führt. Wenn Sie darauf verzichten, immer auf seinen ersten Schritt zu warten. Und wenn Sie die hier beschriebenen Dinge als ganz normalen Teil einer Führungsbeziehung akzeptieren – ohne Moralin, ohne Resignation und ohne die Auffassung, „eigentlich“ dürfte das alles nicht so sein. Das ist der schwierigste Teil! Wer weiß: Vielleicht profitieren Sie ja umgekehrt davon, wenn auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen Führungsbrief gelesen, verstanden und umgesetzt haben.

Führungsbrief 89 – Analoge Kommunikation

Sie wissen, in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist es so: Digitale Kommunikation umfasst die Worte (wie man sie aufschreiben könnte), analoge Kommunikation umfasst den Rest, also Tonfall, Gesten, Mimik, Körperhaltung – und sogar mitunter das, was digital gar nicht gesagt wurde („beredtes Schweigen“ also). Von solcher analoger Kommunikation soll hier die Rede sein (und nicht etwa von analogem statt digitalem HDTV oder so …). Analoge Kommunikation kennen auch Tiere, sie ist also älter als die digitale und oft unglaublich wirkungsvoll.

Ein Steckbrief

Zählen wir einmal ein paar Facetten auf, die für analoge Kommunikation charakteristisch sind, auch wenn sie sie keineswegs vollständig beschreiben:

  • Der analoge Kommunikationskanal ist immer in Betrieb. Er lässt sich nicht abstellen. „Man kann nicht nicht kommunizieren“, lehrte uns deshalb Paul Watzlawick. Nur Digitales können wir unausgesprochen lassen.
  • Mit analoger Kommunikation wird oft (aber keineswegs immer) die digitale angereichert und präzisiert. Wir zeigen mit ringenden Händen, dass wir mit unseren gesprochenen Worten selbst nicht ganz zufrieden sind und nicht glauben, uns genügend präzise ausgedrückt zu haben. Wir signalisieren mit einem Lächeln, dass unsere Mitteilung – ungeachtet einer vielleicht nicht ganz glücklichen Wortwahl – freundlich gemeint ist.
  • Wir können mit dem Tonfall und/oder dem Gesichtsausdruck aber auch deutlich machen, dass wir genau das Gegenteil von dem meinen, was wir formulieren. Kleine Kinder müssen solche Ironie zuerst lernen, sie können sie nicht einfach so richtig deuten.
  • Wir achten beim Gegenüber sehr genau – wenn auch meist gar nicht bewusst – auf seine analoge Kommunikation. Sie liefert uns die Leseanweisung für seine digitale Kommunikation, also die Worte, die es ausspricht.
  • Manche von uns beherrschen ihre analoge Kommunikation gut. Sie sind wie richtige Schauspieler. Als Eltern oder Vorgesetzte können sie im Bedarfsfall gute oder aber böse Miene zum Spiel machen – unabhängig davon, wie sie sich gerade fühlen. Andere wiederum können das nicht oder nicht gut; sie sind wie ein offenes Buch, für jeden zu lesen.
  • Analoge Kommunikation ist immer real-time und umfasst mehrere parallele Kanäle (Tonfall, Gesten, Mimik, Körperhaltung usw.), die aber nicht in jedem Fall das Gleiche signalisieren. Analoge Kommunikation klärt also nicht immer, sie verwirrt mitunter auch. Besonders da, wo wir sie (oder einzelne Kanäle davon) bewusst zu steuern versuchen. (Wussten Sie, dass nur sehr gute Schauspieler auf Befehl exakt so lächeln können, wie sie es spontan tun würden? Bestimmte hierfür nötige Gesichtsmuskeln können die meisten von uns nämlich gar nicht willentlich ansteuern.)

In der Führung resultieren aus diesen Besonderheiten mitunter Probleme, zum Teil neueren Datums.

„Moderne“ Risiken

Im Verhältnis von analoger zu digitaler Kommunikation lagen eben schon immer nicht nur (Klärungs-) Chancen, sondern auch Risiken. Ich erwähne im Folgenden nur die neueren. Betrachten Sie sie als Checkliste für Ihre eigene Führungssituation und prüfen Sie selbst, was davon für Sie relevant ist:

  • Im Unterschied zur gängigen Behauptung, wir litten alle unter einer Informationsüberflutung, ist es in der betrieblichen Kommunikation eher so, dass wir an Informationsverarmung leiden: E-Mails sind in der Regel rein digital. Ohne die Klärungsunterstützung durch die analoge Kommunikation kommt es daher sehr leicht zu Missverständnissen. (Einzig Emoticons steuern da wenigstens ein klein wenig entgegen.)
  • Das Kommunikationsspektrum hat sich kulturell verengt. Wo alle per Du sind, werden Beziehungen schwieriger lesbar. Wo sprachlich enge Höflichkeitsregeln gelten und man Konflikte kaum mehr lautstark austrägt, ist es schwieriger zu spüren, wie verstimmt der andere wirklich ist. Nur bei der Queen weiß jeder, wie ernst die Lage ist, wenn „we are not amused“. Wenn im management speak keine Probleme mehr existieren, sondern nur noch Herausforderungen, dann lässt sich manches nur noch richtig lesen, wenn es analog präzisiert wird: in einer Telefon- oder Videokonferenz (womöglich über interkulturelle Grenzen hinweg) geht das aber schlecht, und in den PowerPoint-Präsentationen lässt es sich hinterher nicht mehr nachvollziehen.
  • Wenn der tägliche Speed im Unternehmen so hoch ist, dass viele Vorgesetzte rund um die Uhr wirken, als wären sie ununterbrochen auf Ritalin, entsteht eine Kommunikation, die auf analoger Schiene permanent sehr viel mehr Stress und Krise und Konflikt signalisiert als tatsächlich gemeint ist. Damit wird Ängstlichkeit und Nervosität ausgelöst, die ihrerseits wieder auf die Kommunikationspartner zurückwirken und so die Emotionen eskalieren lassen. Diagnostiziert wird dann „operative Hektik“, obwohl sich das Problem nicht durch Aktivitätenkürzung lösen lässt. Vielmehr bräuchte es „Management by Schindler-Lift“ – wo immer schon auf einem Schild für den Notfall als Punkt 1 vermerkt war: „Ruhe bewahren!“
  • Und wenn wir schon beim Lift sind: Der bei dynamischen Managern heute so beliebte Elevator-Pitch („Sie haben 90 Sekunden, um mir zu sagen, was das Problem ist und wie Sie es lösen wollen. Los!“) zeugt von einem Verständnis von menschlicher Kommunikation, das man als überaus primitiv bezeichnen müsste, wüsste man nicht, dass es gerade die so genannt Primitiven waren, die sehr viel mehr davon verstanden und sich deshalb ausführlich Zeit nahmen, sich Geschichten (am Lagerfeuer) zu erzählen.
  • Amüsant ist dagegen, dass es ausgerechnet die modernsten digitalen (!) Tools sind, deren Entwickler die Bedeutung der analogen Kommunikation erkannt oder wiederentdeckt haben: Ihr iPad oder iPhone bedienen Sie ja längst nur mehr mit allerlei Gesten, die Ihnen ebenso selbstverständlich und intuitiv gelingen wie einem dreijährigen Kind. Amüsant ist das, weil „digital“ ja ursprünglich Finger bedeutet, die Finger hier nun aber nicht mehr zum digitalen Aufzählen, sondern zum analogen Wischen, Klicken, Dehnen, Schieben dienen.

Vielleicht sollten wir uns einer Einsicht aus der Verkehrspsychologie erinnern: „Handzeichen schaffen Klarheit!“ Jedenfalls kann es Ihnen nur nützlich sein, wenn Sie vermehrt auf Ihre eigene analoge Kommunikation zu achten lernen, wenn Sie sie hin und wieder auch ganz bewusst einsetzen und wenn Sie sich darin üben, die analoge Kommunikation der anderen zu lesen – was es mitunter nötig macht, das eine oder andere expressis verbis zu klären. Denn nicht immer erläutert die analoge die digitale Kommunikation. Manchmal ist es auch umgekehrt.

Begnadete Kommunikatoren und charismatische Führer – leider übrigens auch Psychopathen – beherrschen dieses Wechselspiel von digitaler und analoger Kommunikation aufs Vorzüglichste. Es scheint sich also um ein überaus wirkungsvolles Instrument zu handeln.

Führungsbrief 88 – Lernen

Ich fürchte, dieser Führungsbrief wird Ihnen nicht gefallen. Und wenn Sie dem, was ich im Folgenden sage, dennoch zustimmen, dann womöglich nur auf alle anderen bezogen – nicht auf Sie. Doch der Reihe nach: Lernen, so sagt man uns allenthalben, ist ungeheuer wichtig. Lernen tun wir täglich. Vor allem aus Fehlern (und falls doch nicht, gibts beim nächsten Mal Ärger – etwa mit unserem Chef). Wir alle lernen sehr gerne und sind auch jederzeit bereit dazu. Lernen können wir bis ins hohe Alter – mehr noch: nur ständiges Lernen ermöglicht uns Fitness bis ins hohe Alter. Und vor allem beruflich gilt: Wer rastet, rostet; also halten wir uns stets auf dem neuesten Stand des Wissens. Leider, ich bekenne es, ist meine Erfahrung eine völlig andere: Die Lernfähigkeit ist und wird begrenzt, die Lernbereitschaft existiert nur sehr selektiv, und viele Lernerwartungen sind substanziell fehl am Platz.

Lernfähigkeit

Selbstredend hat der Mensch eine – im Prinzip – lebenslange Lernfähigkeit. Doch lernt er nicht einfach so. Wenn immer er mit Neuem konfrontiert wird, versucht er es geistig ins Bekannte einzuordnen. Erst wenn sich etwas wirklich gar nicht mehr in die gewohnten geistigen Schubladen einzwängen lässt, eröffnet er (oft leidvoll) eine neue – und lernt also. Wer das Lernen nicht geradezu begierig sucht, kommt prima drum herum. Die häufigste Reaktion auf meine Vorträge oder Führungsbriefe oder Seminare ist: „Das hat mir sehr gefallen, es hat mich völlig darin bestätigt, dass …“. Und dann folgt nicht selten etwas, das ich so definitiv weder gesagt/geschrieben noch gemeint habe. Die Kraft, die Dinge so für sich zurechtzubiegen, dass man eben gerade nicht lernen muss, ist beeindruckend. Kein Wunder, dass das Feedback fast nie lautet: „Das habe ich noch nie so gesehen, es verwirrt mich, ich werde versuchen, das auch mal so wie Sie anzuschauen; bin gespannt, ob es mich weiterbringt.“

Unzweifelhaft ist die Lernfähigkeit überall dort aber groß, wo erstens die Lernbereitschaft auch groß ist und es zweitens um etwas geht, das man wirklich lernen kann (Charisma zum Beispiel kann man nicht „lernen“). Auf diese zwei Aspekte gehe ich in Kürze ein.

Zunächst aber Folgendes: Ein wichtiger Grund, warum wir weniger lernen, als unserem Selbstbild lieb wäre, ist, dass die menschliche Psyche sehr erfolgreich mit festen Mustern arbeitet – um den Preis freilich, dass wir auch dann in die hergebrachten Muster verfallen, wenn wir es besser nicht sollten. Das Immer-wieder-dem-selben-Muster-folgen kennzeichnet nicht nur so manche Schwierigkeit in Liebesbeziehungen, sondern ebenso in Führungsbeziehungen. In der Führungsentwicklung kommt es denn auch immer wieder zu dem Punkt, wo eine Führungskraft sagt: „Ich bin eben, wie ich bin.“ Als Authentizität verbrämte Lernunfähigkeit oder aber mangelnde Lernbereitschaft, so muss man hier diagnostizieren. Oder feststellen, dass Lernen oft erst auf Verlernen folgt.

Lernbereitschaft

Selbstredend hat mir noch nie jemand gesagt, er oder sie sei nicht lernbereit. Das Gegenteil ist der Fall. Aber allzu oft sind das nur leere Beteuerungen, die am ehesten noch von der Person geglaubt werden, die sie äußert. Wirklich lernbereit sind wir immer da, wo wir etwas neu können/beherrschen möchten – und es nicht gegen unser Selbstwertgefühl geht, dass wir es heute also noch nicht oder nicht gut genug können. Wenn Sie fliegen können oder Chinesisch beherrschen wollen, dann werden Sie auch bereit sein, es zu lernen. Es kann dann zwar am Aufwand oder an Ihrem Talent scheitern, aber Ihre Bereitschaft wäre nicht das Problem. Ganz anders, wenn es sich nicht um etwas für Sie Erstrebenswertes handelt (sondern um den Druck Ihrer Chefs oder die Erwartungen Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder um die Mahnung eines Führungstrainers). Dann wird es mit Ihrer Lernbereitschaft nicht sehr weit her sein – obwohl Ihre Lernfähigkeit durchaus gegeben wäre.

Das vielleicht wichtigste Hemmnis für unsere Lernbereitschaft (nebst Bequemlichkeit, natürlich) ist jedoch die implizite Bedrohung unseres Selbstwertgefühls: Wo noch Potenzial zum Lernen ist, ist die Leistung noch nicht maximal. Wenn ich mich also bereits für den Máximo Líder halte, werde ich nicht wirklich dazulernen wollen.

Dazu kommt noch als weitere mögliche Beeinträchtigung unserer Lernbereitschaft die Angst zu scheitern, es trotz Anstrengung hinterher doch nicht besser zu beherrschen – und davor dann die Augen nicht verschließen zu können. Die Ist-Situation sind wir uns wenigstens gewöhnt, ob eine Veränderung wirklich eine Verbesserung wäre (und nicht bloß Verunsicherung zur Folge hätte, beispielsweise), bleibt riskant. Hier liegen auch die Gründe dafür, warum so viele Menschen, wenn sie um „konstruktives“ Feedback bitten, nur Bestätigung, wenn nicht gar Lob suchen.

Lernerwartungen

Im Führungsbereich liegt eine der größten Barrieren für erfolgreiches Lernen aber in unzulässigen Lernerwartungen: Man fordert Lernen ein für etwas, das gar keine Fertigkeit darstellt. Sie können nicht Schönheit lernen – aber Sie können lernen, sich besser zu schminken oder zu frisieren. Sie können nicht Zufriedenheit lernen – aber Sie können lernen, besser auf Ihre Bedürfnisse zu achten. Sie können nicht Musikalität lernen – aber Sie können lernen, Noten zu lesen. Und natürlich können Sie sich über alles und jedes in der Welt Wissen aneignen – aber das führt noch nicht zwingend zu Können/Fähigkeit/Kompetenz (die Begriffe sind hier leider etwas unscharf).

In der Führungsentwicklung wird hier besonders viel gesündigt. Man erwartet von Ihnen eine Verbesserung Ihrer Führung, als wäre es eine von Ihnen allein einzubringende Fertigkeit. Dass Führung ein Beziehungsgeschehen ist, wird dabei ignoriert. Und Sie selbst spielen das Spiel mit: Sie halten Ihre Führung für Ihre Leistung, als ob kein anderer daran beteiligt wäre. Und so konfrontiert man Sie und Sie sich selbst mit Lernerwartungen, die der Sache gar nicht gerecht werden.

Der Teufelskreis setzt danach ein: Selbst wenn Sie Ihre Fertigkeiten (solche gibt es natürlich auch in der Führung) verbessert haben, wollen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre eigenen Muster aufrechterhalten, und sie werden Ihre neu gelernten Fertigkeiten so lange ignorieren, bis auch Sie wieder ins alte Muster zurückfallen. It ain’t easy, möchte man da singen.

Ich bin weit davon entfernt, Ihnen mit all dem das Lernen als etwas ohnehin Unmögliches oder Hoffnungsloses ausreden zu wollen. Im Gegenteil: Ich setze voll aufs Lernen (vielleicht mitunter gar bis hart an die Grenzen des pädagogischen Wahns, würden manche sagen). Aber man kann nur auf Lernen setzen, wenn man die Klippen kennt, die den Lernerfolg gefährden. Wenn man sich keinen Illusionen hingibt bezüglich der eigenen Fähigkeiten, der eigenen Bereitschaft und der konkreten Erwartungen, die man mit seinen Lernzielen verfolgt.

Der erste Schritt hierfür besteht darin, nicht so grenzenlos naiv übers Lernen zu denken, wie es der Zeitgeist tut, den ich im ersten Abschnitt zusammengefasst habe. Man muss sich ja nicht gerade auf Blut, Schweiß und Tränen einstellen – aber ein Sonntagspaziergang ist es eben auch nie, wenn man wirklich weiterkommen und tatsächlich dazulernen will.
Zum Glück ist bekannt, dass gerade auch anstrengende Touren mitunter mit herrlicher Weitsicht belohnt werden.

Führungsbrief 87 – Change

Das einzig Konstante ist der Wandel – das hat sich herumgesprochen. Change Management ist deshalb unverändert „in“ und ernährt seit Jahren so manchen Berater. Doch Fakt ist, dass sich die Verhältnisse über die letzten Jahre geändert haben, und man heute gar nicht mehr so einfach pauschal von Change Management reden kann. Change Management ist eben nicht gleich Change Management.

Lassen Sie mich das Thema dritteln und jede der drei Sorten von Change Management separat etikettieren und akustisch anders betonen.

Change Management

Betonen Sie das erste Wort! Hier geht es darum, wie man den Wandel – sprich: einen Veränderungsprozess – handhaben soll. Ziel ist, durch geeignetes Vorgehen die angestrebten Ziele zu erreichen und den Widerstand (respektive die Reibungsverluste) auf dem Weg dorthin so gering wie möglich zu halten. Das ist klassisches Change Management. Sie können es Organisationsentwicklung nennen, auch wenn der eine oder andere Theoretiker da selbstredend Unterschiede finden würde. Entscheidend hierbei ist, dass es einen Status quo – nennen wir diesen Zustand A – gibt, der nun durch handfeste Änderung der betroffenen soziotechnischen Systeme in einen Zielzustand B überzuführen ist. Dafür braucht es nachvollziehbare unternehmerische Gründe (also nicht bloß Lust und Laune oder Mode). Und es geht darum, dass man den Zielzustand B hinterher stabilisieren und eine Zeitlang behalten will. Das geht mit dem bewährten, wenn auch angejahrten Modell von Unfreeze–move–freeze. Wenn man dabei professionell vorgeht, dann klappt das auch. Wenn Sie so was brauchen, können Sie mich anrufen.

Change Management

Betonen Sie das zweite Wort! Man ist unzufrieden mit dem Status quo und ändert deshalb das Management. Das ist der Fußball-Trainer-Ansatz; die Mannschaft verliert, also wechselt man den Trainer. So billig das klingt (und so wenig billig es schließlich kommt), der Ansatz hat durchaus etwas für sich. Denn frische Besen kehren gut. Und nicht selten gelingt einem neuen Manager etwas, was sein Vorgänger nicht schaffte. Einfach, weil es allen Beteiligten ein psychologisches Control-Alt-Delete ermöglicht und das ganze System so neu zu booten gestattet. Hier können Sie mich nicht anrufen – wir vermitteln/selektionieren keine Führungskräfte. Aber es gibt auch dafür professionelle Unterstützung. Doch auch mit professioneller Neuselektion der zuständigen Führungskräfte bleibt es riskant, ob der Wandel dann gelingt. Und es ist meist auch nur ein vorgelagerter Schritt, bevor man dann gleichwohl den eingangs beschriebenen Pfad von Change Management beschreiten muss. Oder den folgenden.

Change, Management!

Führungskräfte, bewältigt den Wandel in eurem Führungsalltag! Die eingangs geschilderte Prämisse eines stabilen, aber unbefriedigenden Zustands A, der in einen erwünschten und wiederum zu stabilisierenden Zustand B zu überführen wäre, entspricht immer öfter gar nicht mehr den realen Verhältnissen. Viel öfter heißt Wandel heute, dass vieles permanent im Fluss ist. Da gibt es keine klare A/B-Unterscheidung mehr, und ein sauberes Unfreeze–move–freeze ist wenig realistisch.

Hier wird der Change zu einer „normalen“ Führungsaufgabe. Auf allen Ebenen. Ohne eine besondere Projekt­organisation. Ohne definierten Anfang und ohne definiertes Ende. Wohl meist auch ohne Berater. Die erste Telefonnummer, die Sie hier anrufen müssen, kennen Sie – es ist Ihre.

Change Management geht also mehr und mehr zurück in die Linie. Die besondere Herausforderung für die Betroffenen – nicht nur für Sie als verantwortliche Führungskraft, sondern vor allem auch für Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – liegt hierbei in einer permanent notwendigen Flexibilität, die primär als Ungewissheit erlebt wird:

Man muss bereit sein, sich kontinuierlich auf Neues einzustellen und auch immer wieder Eingespieltes, Gewohntes, Bewährtes, Geschätztes aufzugeben. Und was alles verschärft: Man weiß nicht im Voraus, wann, wer, was, wie, warum. Damit werden mitunter auch Veränderungen zur Belastung, die gar nicht kommen – doch hätten kommen können.

Dass Veränderungen – seien es tatsächliche oder nur erwartete – als Belastung erlebt werden (können), ist ganz einfach normal. Das verliert sich immer erst dann, wenn sie als echte Verbesserung erlebt werden – und dies ist im betrieblichen Alltag nun halt nicht immer oder nicht für alle der Fall. Natürlich gibt es Leute, die offener sind als andere, die sich leichter auf eine Veränderung einlassen als andere. Beim Spiel „Change, Management!“ ist es jedoch gerade die Aufgabe der Führungskraft, mit diesen unterschiedlichen Charakteren zurechtzukommen. Ihnen auf je unterschiedliche Weise gerecht zu werden. Ihnen die Ungewissheit zu nehmen oder ihnen die Gewissheit zu geben, dass sie nicht einfach allein gelassen werden mit ihren Befürchtungen und Ängsten.

Wie man das als Führungskraft macht, ist gar nicht grundsätzlich anders als jede „normale“ Führung. Es ist nur viel, viel intensiver und auch anstrengender. Denn es braucht Zeit, Geduld, Nerven und die innere Bereitschaft, sich auf die Probleme anderer Menschen einzulassen. Nicht gerade Überschussartikel im modernen Management …

Viele Führungskräfte überfordert dies. Vielleicht, weil sie Schönwetterkapitäne sind. Vielleicht, weil sie den Aufwand scheuen oder zeitlich ganz einfach nicht schaffen. Vielleicht, weil sie schon für „normale“ Führung gar nicht wirklich geeignet sind. Und oft wohl, weil sie ihrerseits mit ihrer Ungewissheit im Stich gelassen werden.

Eine erste Voraussetzung, an dieser Führungsaufgabe nicht zu scheitern, besteht natürlich darin, die Aufgabe Change-im-Führungsalltag überhaupt als die eigene Aufgabe zu akzeptieren. Sie also nicht einfach wegzuwünschen. Nicht zu meinen, es müsste doch jetzt endlich Ruhe einkehren und alles wieder sein wie früher. Und auch nicht zu versuchen, das Problem zum Problem der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu machen.

Eine zweite Voraussetzung ist, zu erkennen, wo sich die Aufgabe nur im Netzwerk mit anderen Führungskräften bewältigen lässt. Weil nämlich die gemeinsame Kultur dem individuellen Change-Vorhaben entweder förderlich oder aber hinderlich ist. Da muss man dann nicht ein Kulturprojekt (im Sinne von Change Management, Typ I) starten, sondern man muss sich in der Führungsarbeit häufig und gut mit anderen über das Wohin abstimmen.

Und die dritte Voraussetzung ist, dass man erkennt, dass nicht jeder Widerstand gegen Veränderung – der Kasus knackus jeden Change Managements – aus Angst oder mangelnder Einsicht erwächst. Bei Ihnen nicht. Aber auch bei Ihren Leuten nicht. Er kann auch daher kommen, dass der angestrebte Wandel unter Umständen gar keine Verbesserung darstellt. Nicht jede neue Idee ist eine gute Idee. Und es sind nicht immer die Veränderungswilligen, die dem Unternehmen am meisten dienen.

So kann es eben auch mal sinnvoll sein, die Bremse zu ziehen und zu sagen: „Halt, das da, das machen wir jetzt mal nicht!“ Ich finde ohnehin, dass man heute sehr bewusst und explizit auch Not-to-do-Listen führen müsste. Man muss nämlich gar nicht jeden Schmarren (mit-)machen.

Führungsbrief 86 – Führung abschaffen

Lassen Sie uns diesmal ein kleines, aber radikales Gedankenexperiment unternehmen: Was wäre zu tun, wenn wir Führung komplett abschaffen wollten?

  • Zunächst einmal müssten wir die formale Unterscheidung zwischen Führungskräften und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abschaffen. Es gäbe nur noch Kooperanten, Menschen, die miteinander kooperieren, um vereinbarte unternehmerische Ziele zu erreichen. Es gäbe keine an Personen gebundene Hierarchie mehr („Vor-Gesetzte“), sondern Netzwerke mit funktionalen (häufig nur temporären) Zuständigkeitsverteilungen.
  • Große Teile der HR-Abteilungen würden abgeschafft. Statt der klassischen Personaladministration gäbe es juristisch-fachlich spezialisierte Zuständige für Kooperantenverträge. Die könnten so vielfältig sein wie heutige Lieferantenverträge (oder manchmal auch Abmachungen mit Kunden oder Sourcing-Partnern und externen Spezialisten). Es wären also einfach die vertraglichen Bindungen (auch) mit Kooperanten zu regeln (IBM stellt sich beispielsweise schon heute vor, die Zahl der „richtig“ Angestellten drastisch zu reduzieren; ich bin hier also nicht sehr unrealistisch …).
  • Ersatz bräuchten wir für die Entscheidungsfunktion von Führungskräften. Stellen wir uns hierfür eine Art Schiedsgericht vor. An dieses würde man sich erst wenden, wenn man in der normalen Netzwerk­kooperation nicht zu einem Konsens (oder sonst zu einem Entscheid) gekommen wäre.

Man würde dem Schiedsgericht das zu entscheidende Problem vorlegen, zeigte auf, was man sich überlegt hatte und welche Alternativen es gäbe, nennte die widersprüchlichen Argumente, die bislang einen Konsens verhindert hätten – und erhielte dann rasch und garantiert einen Entscheid (der gälte, ob man ihn billigte oder nicht). Eigentlich wie heute, nur dass man im Unterschied zu diesem imaginären Schiedsgericht vom Chef oder dem Chefchef heute ja längst nicht immer einen Entscheid erhält. Wie das Schiedsgericht konkret organisiert wäre, braucht uns momentan nicht zu kümmern. Es änderte ja ohnehin nichts daran, dass sich auch fürderhin alle Entscheide erst hinterher als richtig oder falsch erwiesen.

  • Für Dinge wie Initiative, Ideen, Impulse bräuchten wir keinen Ersatz. Es gibt keinen Grund, so etwas für hierarchisch vor-gesetzte Führungskräfte zu reservieren. Wir würden (von mir aus in unterschiedlicher Ausprägung) von sämtlichen Kooperanten erwarten, dass sie das Unternehmen und seine Zukunft mitgestalten wollten und ihren Sachverstand dafür ins Netzwerk einbrächten. Dies gälte selbstredend auch für das höhere Wissen und die fundiertere Erfahrung, die heute häufig bei Führungskräften alloziert sind. Hier geht es um die gruppendynamisch selbstverständliche zwischenmenschliche Führung, die nicht auf formale Hierarchie angewiesen ist, sondern spontane Strukturen herausbildet und diese auch immer wieder verändert.
  • Auch für spezielle Steuerungsfunktionen, die klassischerweise hierarchisch hoch platziert sind – wie etwa die Strategieentwicklung oder Finanzen oder Recht – bräuchten wir keinen besonderen Ersatz. Das Netzwerk müsste sich (notfalls mit Unterstützung des Schiedsgerichts) darauf einigen, wie diese Dinge organisiert werden, wie Prozessabläufe zu erfolgen haben, welche Spielregeln gelten und was was oder wer wen übersteuern kann. Analoges gälte für Kontrollfunktionen, die es – in irgendeinem Ausmaß – immer braucht. Es sind Funktionen, die zum Teil auch an Menschen gebunden werden können, ohne dass man daraus Vor-Gesetzte machen muss.
  • Recht heikel wird es, wenn wir den patronalen Teil der Führung ersetzen wollten. Aber nicht unmöglich: Viele Erwartungen heutiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (nach Lob, Ermahnung, Feedback, Förderung, Anregung usw.) könnten genauso gut durch ältere oder erfahrenere oder sozial besonders kompetente andere Kooperanten im Netzwerk erfüllt werden. Das ist, wie oben erwähnt, eine normale zwischenmenschliche Führung.
  • Nur vermeintlich heikel wäre die Frage der Verantwortung. Sie wird ja schon heute leider häufiger behauptet als wahrgenommen. Echte persönliche Verantwortung – nicht juristische Haftung – würde heißen, die eigenen Entscheide zu verantworten. Dies freilich wäre von jedem Kooperanten im Rahmen seines Handlungsspielraums zu fordern und beschränkte sich überhaupt nicht auf vor-gesetzte Führungskräfte.
  • Keinen Ersatz bräuchten wir für die formale Hierarchie. Die hier skizzierte Organisation gliche eher dem Modell des Internets als dem eines Mainframe-Computers (will sagen, dem eines zentralistisch organisierten Unternehmens). Letzterer ist ja nicht die einzig mögliche Form funktional effizienter und effektiver Organisation. Es gab und gibt genügend Beispiele von Kooperationsnetzwerken, die ohne formale Hierarchie auskommen.
  • Und schließlich gibt es noch die personale Hierarchie. Es soll ja Menschen geben, die wollen über anderen stehen. Ob es ihnen dabei um Status oder Macht oder Eitelkeit geht, sei jetzt mal dahin gestellt (alle „edleren“ Motive ließen sich, wie oben gezeigt, auch ohne personale Hierarchie befriedigen). Dieser Wunsch der einen, vor-gesetzt zu sein, sowie dessen Entsprechung von anderen, die das bequeme Weniger-selbst-denken-müssen schätzen, könnte bei komplett abgeschaffter Führung mangels formaler Hierarchie halt nicht bedient werden. Man kann sich ja immer noch einen Vierbeiner anschaffen.

Das wärs. Sie sehen, wir könnten Führung durch Vor-Gesetzte durchaus abschaffen, wenn wir die aufwändigeren Abstimmungsprozesse nicht scheuten und wenn wir denn bereit wären, komplett ohne Hierarchie zu leben.

Sollte Ihnen diese schöne neue Welt jedoch nicht gefallen (zum Beispiel, weil sie Ihnen als ineffizient, anstrengend oder unattraktiv erscheint), dann sollten Sie auch konsequent sein und sich gegen entsprechende Trends wehren. Denn immer häufiger zeigt sich, dass Führung im Begriff ist, mehr und mehr zu entschwinden. Sie wird ersetzt durch immer zahl- und trickreichere HR-Tools (oder -Formulare oder -Prozesse). Sie wird substituiert durch immer engere Prozessdefinitionen (so dass kaum ein Chef mehr einem Mitarbeiter sagen muss, was er zu tun hat oder wie). Kontrollen werden delegiert oder in falsch verstandene Eigenverantwortung abgeschoben. Entscheide – die ja die Kernaufgabe aller Vorgesetzten wären – werden immer öfter statt durch persönliche Führung oder kollektive Bemühung einfach via kollektive Ermüdung erreicht (aussitzen, totreden oder quasi­demokratisch diskutieren usw.) oder direkt erübrigt durch unkritisches Mitmachen im Mainstream der Managementmoden.

Das kann es ja gewiss nicht sein: Sich nach und nach alle anspruchsvollen, vielleicht auch anstrengenden Teile der Vorgesetztenführung (vom Zeitgeist oder den Managementmoden oder zentralen Funktionen oder wem auch immer) wegnehmen zu lassen – und womöglich letztlich nur noch den Ego-Trip der personalen Hierarchie als Vor-Gesetzter behalten zu wollen!

Wir sollten uns – darauf will ich hinaus – schon sehr bewusst damit auseinandersetzen, was wirklich zu einer Führungsrolle gehört und nicht von ihr abgespalten werden darf. Sich die Zügel einfach schleichend aus den Händen nehmen zu lassen und es noch nicht einmal bemerken, ist wohl kaum der Weisheit letzter Schluss.

Ich glaube übrigens nicht, dass es befriedigend wäre, wenn für Führungskräfte nur eine Mischung von hektischer Sachbearbeitung und dem Ego schmeichelnder personaler Hierarchie übrig bliebe. Was gute Führungskräfte antreibt, ist mehr als das. Und sie gewinnen damit Respekt und Anerkennung, mitunter gar Dankbarkeit seitens der Geführten. Freilich nur dann, wenn sie sich dieses „mehr“ nicht einfach haben substituieren, mechanisieren, automatisieren, zentralisieren oder überflüssig machen lassen.

Führungsbrief 85 – Delegieren

Eigentlich ist es erstaunlich, dass ich das Thema „Delegieren“ in diesen Führungsbriefen so lange aufschieben konnte. Immerhin ist es ein Top-Seller auf der Liste jeglicher Führungskurse seit Jahrzehnten. Sind Sie im Stress? Delegieren Sie mehr! Wollen Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickeln? Delegieren Sie mehr! Haben Sie unerledigte Pendenzen­berge? Delegieren Sie mehr! Wollen Sie sich vermehrt auf das Strategische konzentrieren? Delegieren Sie mehr! Und es sind nicht nur die Führungskurse, die das Mantra des Delegieren-Sollens unaufhörlich repetieren. Auch viele Führungskräfte sagen (zum Beispiel in Coachings): „Ich weiß, ich müsste einfach mehr delegieren.“ – Wenn sich schon alle derart einig sind, warum tun sie es dann nicht einfach?

Der Webfehler in der Argumentation zum Thema „Delegieren“ liegt meines Erachtens darin, dass man es als ein „How-to-do?“-Thema behandelt. Wie soll ich delegieren? Was darf/soll/muss ich delegieren? Wem kann ich es delegieren? Unterstellt wird mit diesen Fragen, dass man selbstverständlich schon delegieren würde – wenn bloß diese praktischen Fragen geklärt wären.

Fakt ist, dass jede Führungskraft delegieren kann. Denn sie tut es täglich. Sonst hätten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gar nichts zu tun. Dass viele Führungskräfte es nicht mehr oder nicht konsequenter tun, liegt nicht am Können. Wir sollten das Thema „Delegieren“ aus der Schublade „Wie mach’ ich das bloß?“ herausnehmen. Wenn Sie eine Aufgabe tatsächlich delegieren wollen und wenn Sie jemanden haben, dem Sie sie auch delegieren können – dann werden Sie das ganz einfach tun, und Sie müssen sich nicht fragen, wie Sie das tun sollen.

Aber eben: Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre …

Wollen Sie die Aufgabe X tatsächlich delegieren? Oder haben Sie Angst davor – zum Beispiel, weil Sie befürchten, Ihr Mitarbeiter würde sie nicht gut genug erledigen? Oder weil Sie befürchten, Ihre Mitarbeiterin würde sie besser erledigen als Sie selbst? Oder erledigen Sie sie einfach zu gerne selbst? Oder brauchen Sie Ihre Überlast als sichtbaren Beweis Ihrer Unersetzbarkeit? Leiden Sie unter Kontrollverlust, wenn Sie etwas delegiert haben? Bringt Ihr Chef Sie in Bedrängnis, weil er jederzeit unverzüglich von Ihnen Auskunft über den Stand der Dinge haben will – die Sie vielleicht nicht geben können, wenn die Aufgabe delegiert ist?

Können Sie die Aufgabe überhaupt delegieren, ich meine, gibt es jemanden, der dafür geeignet ist? Wenn nicht, fehlt es an der zeitlichen Kapazität Ihrer Leute oder an ihrem Können? Für beides tragen Sie ja letztlich auch die Verantwortung …

Zwei Grenzfälle will ich hier ausklammern: Den Fall, wo sich Führungskräfte überlasten, weil sie schlicht besonders hilfsbereit sind und aus ihrem besonderen Verantwortungsgefühl heraus sich sehr solidarisch für ihre Leute engagieren. Solche Führungskräfte wollen sich eben nicht mittels möglichst viel Delegation entlasten. Und umgekehrt den Fall, wo Führungskräfte Delegation missbrauchen, um sich rücksichtslos auf Kosten ihrer Leute selbst zu entlasten.

Ich plädiere dafür, Ihre tatsächliche Praxis des Delegierens (oder eben Nicht-Delegierens) als einen Indikator für Ihre Führungskompetenz zu lesen. Sag mir, wie/was/wann du delegierst, und ich sage dir, wie du führst!

Wenn in Ihrem Auto die Ölstandanzeige rot leuchtet, dann versuchen Sie ja auch nicht, ein grünes Lämpchen reinzuschrauben. Das rote Lämpchen ist ja nicht das Problem, sondern der Indikator für das Problem. Vernünftigerweise füllen Sie dann Öl nach, und meistens erlischt das rote Lämpchen wieder. Ebenso ist Delegieren nicht das Problem, sondern der Indikator für das Problem. Was aber auch heißt, dass Delegieren auch nicht die Lösung ist, sondern der Indikator für die Lösung!

Wenn Sie also auf eine gute Art delegieren, dann heißt das:

  • Vermutlich haben Sie eine vernünftige Arbeitstechnik.
  • Sie haben sich gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgesucht, und/oder Sie haben sie gut ausgebildet respektive entwickelt.
  • Sie haben die Gelassenheit, auch ohne Kontrollverlustängste delegieren zu können.
  • Sie sind fähig, Vertrauen zu schenken.
  • Sie anerkennen und wertschätzen wahre fachliche Expertise – auch und gerade bei Unterstellten.
  • Sie halten Stress und Arbeitsüberlastung bei sich in Grenzen. Zumindest beziehen Sie nicht Ihr Selbstwertgefühl daraus, ständig viel zu viel zu tun zu haben. Und Sie brüsten sich nicht mit Ihren Pendenzenbergen.
  • Sie werden als Führungskraft vermutlich respektiert, denn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schätzen es in aller Regel, wenn an sie verantwortungsvolle Aufgaben delegiert werden.
  • Sie sind souverän gegen oben, denn Sie meinen nicht, jederzeit über jedes Detail in Ihrem Bereich informiert sein zu müssen.
  • Kurzum: Sie führen gut.

Umgekehrt gilt logischerweise das jeweilige Gegenteil. Zumindest müssten Sie sich immer die Frage stellen, ob bei Ihnen nicht das Gegenteil von einigen der obigen Spiegelstrichen zutrifft.

Wo immer Sie die Hypothese nicht von der Hand weisen können, dass das Gegenteil eines oder mehrerer dieser Punkte bei Ihnen zutrifft, braucht es unter Umständen einige persönliche oder zeitliche oder gar materielle Investitionen (zum Beispiel in die Ausbildung oder die Selbstständigkeit Ihrer Leute), bis sich etwas ändert. Aber unverändert gilt: Ob und wie Sie delegieren (und ob Sie nach und nach besser respektive mehr delegieren können), ist der Maßstab für Ihre Führung – nicht die Lösung für Ihre Führungsprobleme.

Der Fairness halber gebe ich gerne zu, dass auch die beste Führungskraft beim Delegieren mitunter vor ganz praktischen Problemen stehen kann: Man muss beurteilen können, welche Aufgaben nicht delegiert werden dürfen. Man muss einschätzen können, an wen man was delegieren kann. Man muss Wege finden, um das Delegierte sinnvoll zu überwachen. Und so weiter. Doch das sind Schwierigkeiten des Einzelfalls, und den kann man beim nächsten Mal korrigieren. Übers Ganze gesehen bleibt es dabei: Ihr Delegieren zeigt, wie gut Sie führen.

Die geistige Leitlinie, die Sie bei diesen praktischen Problemen führen soll, heißt: Begründungspflichtig ist, wenn Sie eine Aufgabe nicht delegieren wollen. Was immer Sie delegieren wollen, dürfen Sie auch delegieren – vorausgesetzt, die Aufgabe wird „im Sinne des Erfinders“ effizient und effektiv erfüllt, und vorausgesetzt, Sie können alle Aufgaben, die Sie selbst erfüllen wollen, auch ohne die delegierten Tätigkeiten ebenfalls „im Sinne des Erfinders“ effizient und effektiv erfüllen.

Selbstredend ist das nicht immer einfach zu beurteilen. Aber darum geht es mir hier nicht. Ich will Sie hier nur dazu einladen, einen anderen, vielleicht ungewohnten Blickwinkel auszuprobieren: Delegieren weder als Problem noch als Lösung des Problems, sondern als Indikator für Ihre Führungskompetenz zu sehen.

Nehmen Sie es bitte nicht mir übel, wenn das entsprechende Lämpchen rot aufleuchtet.

Führungsbrief 84 – Unten – Mitte – Oben

Trotz unbestreitbarer Gemeinsamkeiten ist Führung oben und unten in der Hierarchie nicht einfach identisch. Von unten nach oben nehmen in der Regel zu: Die Anzahl der Unterstellten, die Breite der Aufgaben, die Verantwortung, der Handlungsspielraum, die Entscheidungskompetenz, die Budget-, Kosten- und Ergebnisverantwortung, das Salär, der Status, der Stress und die Fremdbestimmung der Agenda. Das ist ebenso allgemein bekannt wie der Grundsatz: Je weiter oben, desto strategischer – je weiter unten, desto operativer. Und es versteht sich von selbst, dass es im Einzelfall auch mal anders aussieht. Hier geht es aber um eine andere Differenzierung: Hier geht es um den inhaltlichen Fokus, der unten, in der Mitte und oben ein je anderer sein muss. Ich muss die Dinge hier leider etwas holzschnittartig vereinfachen und zuspitzen, für mehr reicht der Platz nicht.

Von diesen Kategorien gehe ich hier aus:

Unten: Das sind die Führungskräfte, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führen, die ihrerseits nicht auch Führungskräfte sind. Teamleiterinnen und Teamleiter, klassischerweise.

Mitte: Das sind die Führungskräfte darüber, die also Führungskräfte führen, aber nicht zu den Obersten gehören.

Oben: Das sind die Geschäftsleitungen. Das muss nicht gleichbedeutend sein mit Unternehmensleitung. In größeren Firmen kann es auch die Leitung eines in sich geschlossenen Geschäftsbereichs – einer Business Area – sein.

Diese „Definitionen“ stimmen nicht zwingend mit den üblichen betrieblichen Begriffen der Kaderordnung überein, aber sie sind ausreichend für die unvermeidlichen Vereinfachungen und Akzentsetzungen im Folgenden.

Worin unterscheiden sich die inhaltlichen Fokusse dieser drei Ebenen?

Unten: Team

Auf der untersten Führungsstufe steht das Team im Vordergrund. Teamleiterinnen und Teamleiter müssen die Kohäsion – also den persönlichen und sozialen Zusammenhalt – ihres Teams im Fokus haben. Hier steht Kohäsion vor Lokomotion. Als Lokomotion bezeichnet man die Führungsaufgabe, Ziel- und Leistungsorientierung zu vermitteln. Das ist zwar auch nötig auf Teamstufe, aber nicht der primäre Fokus. Ein Team, das eine tolle Mannschaft darstellt, wird „von sich aus“ auf Sieg spielen. Von Vorteil dafür ist, wenn das Team eine echt gemeinsame Aufgabe hat. – Führungskräfte auf der untersten Stufe legitimieren sich aus der Gegenwart: Maßgeblich für ihren Erfolg ist, wie gut sie im Alltag mit ihren Leuten zurechtkommen.

Mitte: Regeln

Auf der mittleren Führungsebene steht umgekehrt Lokomotion vor Kohäsion. Hier finden sich Führungskräfte mit sehr guten Fachkenntnissen in ihrem Gebiet. Sie sind es, die die Regeln des Spiels bestimmen. Sie sorgen für Prozessdefinitionen, für klare Ziel- und Leistungsvorgaben, und sie bauen damit – bildlich ausgedrückt – die unternehmerische „Maschine“. Sie definieren, wie die Dinge gemacht werden müssen. Ihre Teamleiter dagegen definieren hinterher, wie die Dinge tatsächlich gemacht werden. Darin liegt natürlich Konfliktpotenzial, aber im Grunde ist es eine durchaus intelligente „Doppelmoral“: Definieren muss man den reinen Fall, aber in der Praxis muss man mit Augenmaß damit umgehen können. – Führungskräfte auf der mittleren Stufe legitimieren sich aus der Vergangenheit: Maßgeblich für ihren Erfolg ist, dass sie sachlich/fachlich/geschäftlich wissen, wie der Hase läuft. Und sie müssen die „Maschine“ am Laufen halten.

Oben: Window Dressing

Führungskräfte auf der obersten Ebene haben einen Hauptfokus, für den es leider keinen treffenden deutschen Ausdruck gibt, man nennt das auf Englisch „Window Dressing“, d.h. dafür sorgen, dass die Schaufensterauslage stimmt. Dies umfasst mehrere Teilaufgaben, und ich kalauere sie im Folgenden – zur besseren Erinnerbarkeit –
allesamt ins WD-Kürzel für Window Dressing:

  • Window Dressing: Wie stellen wir uns als Unternehmen dar? Was soll man von uns sehen? Was wollen wir verkaufen? (Das ist das Window Dressing im engeren Sinn.)
  • Wegen Dem: Warum tun wir, was wir tun? Warum tun wir es, wie wir es tun? (Die oberste Führung muss die Sinnzusammenhänge stiften.)
  • WegDrücken: Was tun wir nicht? Was schließen wir aus? Wo spielen wir nicht mit? (Das ist ein wichtiger Teil der Strategie.)
  • Weniger Details: Was ist das „big picture“? Wo geht die Reise hin? (Das lässt viele operative Fragen offen, die erst später und von anderen zu klären sind.)
  • WeiterDenken: Was kommt als Nächstes? Was als Übernächstes? Was wollen wir als Nächstes/Übernächstes? (Stets vorausschauen, sich über die eigenen Annahmen bezüglich der Zukunft Rechenschaft ablegen und diese permanent überprüfen.)

Für all das braucht es etwas, das für die Führungskräfte weiter unten manchmal nach „Weitweg-Dummheit“ riecht: Es ist Teil der unterschiedlichen inhaltlichen Fokusse auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen, dass man zuoberst mit einer Distanz an die Dinge herangeht, die viele praktisch zu erwartenden Zwänge und Notwendigkeiten zunächst einmal ausblendet. – Führungskräfte auf der obersten Stufe legitimieren sich aus der Zukunft: Maßgeblich für ihren Erfolg ist, als wie treffend sich ihre Prognosen über die bevorstehenden Entwicklungen und Herausforderungen erweisen. Erst dann zeigt sich, ob sie sich nicht der anderen, negativ konnotierten Bedeutung von „Window Dressing“ bedient haben, die Augenwischerei oder Bilanzkosmetik meint …

Es ist klar: Diese unterschiedlichen Fokusse der verschiedenen hierarchischen Ebenen können – ja, müssen – zu Spannungen und Zielkonflikten führen. Aber das ist nicht etwa ein Fehler dieses „Systems“, es ist sein Sinn! Daher ist es die wichtigste Aufgabe aller Führungskräfte, mit ihrem eigenen Fokus in die unvermeidbaren Spannungen mit den anderen Fokussen einzutreten und das Spiel so konstruktiv wie möglich zu spielen. Wie Sie sich erinnern werden: Spannungen braucht es für jede Entwicklung, aber sie müssen produktiv gestaltet werden.

Das geht natürlich nur, wenn man weiß, dass und verstanden hat, wieso andere Mitspieler einen anderen Fokus im Auge haben als man selbst. Wenn nämlich nicht, so ist man ständig gefährdet zu glauben, die anderen seien ganz einfach doof. Doch das ist meist nur eine naheliegende, nicht jedoch eine zutreffende Erklärung. Weder für die unten noch für die in der Mitte, noch für die ganz oben. Sie alle haben nur einen je unterschiedlichen Job.

Beim Versuch, diesen unterschiedlichen Job gut zu machen, lauern auch unterschiedliche Gefahren. Ich nenne hier nur gerade die Gefahr der besonderen Illusion, der man sich auf jeder Ebene leicht hingibt: Unten ist das die Illusion, bei einem Unternehmen handle es sich um einen Wohlfühlclub. In der Mitte die Illusion, „eigentlich“ müsste immer alles wie am Schnürchen laufen. Oben die Illusion, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten doch wie Unternehmer denken und handeln. – Wenn einen der Führungsalltag dann mal wieder desillusioniert, sollte man also nicht enttäuscht sein: Man hat nur auf den Boden der Realität zurückgefunden.

Führungsbrief 83 – Alarmismus

Die Lage ist ernst! Kennen Sie auch nur eine Firma, bei der die dominierende Melodie der internen Kommunikation lautet: „Leute, wir sind prima unterwegs. Weiter so!“ Ich auch nicht. Bestenfalls wird nach außen kommuniziert, wie gut man sei. Nach innen aber gilt:

Der Untergang ist nah! Offenbar scheinen die Top-Manager überwiegend zur Auffassung zu neigen, jedermann würde in sofortigen Tiefschlaf verfallen und gar nichts mehr leisten, wenn man nicht ununterbrochen Alarm schlage. „In gewisser Weise müsse man, erklärt XY [der CEO], immer wieder die Firma künstlich in einen Krisenzustand versetzen, damit die Herausforderungen den Mitarbeitern überhaupt deutlich würden“, stand kürzlich in der NZZ im Bericht über einen amerikanischen CEO eines Technologieunternehmens.

Ich halte solchen Alarmismus für lächerlich, gefährlich und kontraproduktiv:

Lächerlich, weil wir – trotz Finanz- und anderen Krisen – in der Ersten Welt auf einem derart hohen Niveau klagen, dass kaum anzunehmen ist, dass es ständig allen Firmen in allem schlecht geht.

Gefährlich, weil wenn jemand alle fünf Minuten „Fürio!“ schreit, irgendwann keiner mehr hinhört. Und zwar auch dann nicht mehr, wenn es mal wirklich brennen sollte.

Kontraproduktiv, weil solch permanenter Alarmismus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schleichend jeden Glauben daran raubt, dass das Top-Management die Dinge auch nur ein wenig im Griff haben könnte.

Überdies stört mich das implizite Menschenbild, das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – einschließlich des gesamten Kaders unterhalb der Spitze! – als unwissend und dumm darstellt und annimmt, die Menschen seien nicht in der Lage, die sie betreffenden Daten, Informationen und Fakten selbst mit hinreichendem Sachverstand zu lesen, zu verstehen, zu gewichten und zu interpretieren. Wären die Menschen wirklich so unfähig, dann würde ich mir die Sache mit der Demokratie jedenfalls nochmals überlegen …

Der Fairness halber seien zwei Einschränkungen gemacht: Nicht jeder CEO redet so (zumindest nicht permanent), und es sind auch nicht nur Top-Manager, die im Spital des Alarmismus krank sind (auch weiter „unten“ meint manch eine/r, nur auf diese Weise effektiv führen zu können).

Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Führungskräfte haben ein Anrecht darauf, kontinuierlich eine Art Eco-Feedback zu erhalten:

  • Sie brauchen die für sie relevanten Daten, Informationen und Fakten, um Bescheid darüber zu wissen, wo sie stehen. Das können Finanzdaten sein, Angaben zu Qualität, Fehlern, Durchlaufzeiten, Rückständen etc. – was immer eben für sie und das Unternehmen relevant ist.
  • Sie brauchen Wissen darüber, wie sich diese Daten ermitteln, wie sie beeinflusst werden können und in welchem Zusammenhang sie zum Ganzen stehen.
  • Sie müssen genügend von der Strategie des Unternehmens verstehen, um all das auch einordnen und werten zu können.
  • Sie brauchen auch regelmäßige Unterstützung ihrer Vorgesetzten darin zu lernen, wie die Dinge zu beurteilen sind.
  • Aber es reicht nicht, ihnen nur das Endresultat der ganzen Übung – ohne alle Beurteilungsgrundlagen – bekannt zu geben. Denn sonst gilt mit der Zeit: Ohne Nachvollziehbarkeit keine Glaubwürdigkeit. Und dann kann man als Chef so lange „Fürio!“ schreien, wie man will – man wird nicht mehr gehört werden.

Ich hatte inzwischen übrigens Gelegenheit, mit einem Mitglied des Verwaltungsrats des eingangs erwähnten amerikanischen Technologiekonzerns zu reden. Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in manchen Unternehmen die Lage wirklich sehr ernst ist – und das aber keiner merkt oder wahrhaben will. Und dass man in diesem Fall dann eben doch „Fürio!!!“ schreien muss. Ziemlich laut sogar. Da gebe ich ihm gerne recht. Nur: Vielleicht ist es mit dem Alarmismus wie mit der Frage des Führungsstils, die man vor über einem halben Jahrhundert untersucht hat. Damals verglich man die Effektivität von autoritärem mit partizipativem und mit einem Laisser-faire-Führungsstil. Arg verkürzt: Laisser-faire schneidet schlecht ab. Autoritäre und partizipative Führung ungefähr gleich gut. Nur – sobald der Chef aus dem Haus ist, sinkt die Effektivität bei autoritärer Führung dramatisch ab, während sie bei der partizipativen erhalten bleibt.

Auf unser Thema übertragen wage ich die Behauptung: Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer nur mit lauten Fürio-Rufen aufgeschreckt werden, werden sie lethargisch, so dass man immer lauter rufen muss. Wenn sie jedoch „empowert“ sind – also Zugang zu allen relevanten Informationen haben und befähigt wurden, diese zu lesen und zu verstehen –, dann werden sie selbst (vielleicht sogar noch vor ihren Chefs!) den Ernst der Lage erkennen und ihre Anstrengungen darauf fokussieren. Voraussetzung hierfür ist, dass man die Menschen ernst nimmt. Und man muss sich im Klaren darüber sein, dass diese Voraussetzung gleichzeitig die Voraussetzung dafür ist, dass man selbst von den Leuten ernst genommen wird.

Ich hege den Verdacht, dass manch einer mit Alarmismus seinen Mangel an kommunikativer Überzeugungskraft und/oder seinen persönlichkeitsmäßig wenig reifen Hang zur Zwängerei und/oder seine in Wahrheit dürftigen Gründe kaschieren will, wenn er Alarm über Information setzt. Lautstärke war noch nie ein gutes Argument.

Auf das Empowerment und damit die Urteilsreife respektive das Problembewusstsein der eigenen Leute – man nennt dies heute „sense of urgency“ – zu setzen, kann aber nicht am Vorabend der Krise begonnen werden. Alles Nötige hierfür muss in beharrlicher und geduldiger Führungsarbeit aufgebaut worden sein, damit es im Krisenfall dann auch trägt. Und falls man bis gestern eher dem Alarmismus gehuldigt hat, dann wird das Umstellprogramm für die Führungskräfte besonders anstrengend.

Der Preis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heißt handkehrum: Interesse für den Gang der Geschäfte des Unternehmens. Leute, die lieber in süßer Unwissenheit eingelullt sein wollen bis zum Tag des Alarms, haben da freilich keinen Platz. Ernst genommen zu werden ist eben nicht nur lustig.

Bevor Sie sich nun aber frohgemut daran machen, Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit allen möglichen Informationen einzudecken, sollten Sie sich bewusst sein, dass wir hier häufig mit einem Paradox konfrontiert sind: Wenn die Leute wirklich gut informiert sind, nimmt ihr Vertrauen in die Führung zu. In der Folge verlassen sie sich aber gerne darauf, dass man es ihnen dann schon sagen werde, wenn die Lage ernst würde. Sie wollen in der Folge gar nicht mehr ständig die Anstrengung auf sich nehmen, alle Informationen selbst zur Kenntnis zu nehmen und zu verarbeiten. Kurzum: Zwar sollten Sie Ihre Leute also wirklich sehr gut informieren – nur um dann festzustellen, dass das Interesse dafür wieder abnimmt, weil man darauf vertraut, dass Sie dann schon rechtzeitig Alarm schlagen werden. In der Tat – Sie haben es nicht immer leicht. Nehmen Sies als Trost, dass Sie in dem Fall aber gleich beim ersten Alarm gehört und ernst genommen werden. Ein vernehmbarer Alarm reicht dann, jeden aufgeregten Alarmismus dagegen können Sie sich sparen.

Führungsbrief 82 – Killer-Apps

Der Traum jedes Erfinders einer neuen Technologie ist das, was man heute eine Killer-App nennt. Eine Applikation für diese Technologie, die jegliche Konkurrenz aus dem Feld schlägt, weil sie so durchschlagend erfolgreich ist. Auch gesellschaftlich ist bereits die Rede von Killer-Apps: Zumindest gibt es einen Historiker, der den Vorsprung des Westens der letzten Jahrhunderte glaubwürdig mit einer ganzen Reihe von (hier natürlich gesellschaftlich verstandenen) Killer-Apps zu erklären vermag.

Wer die Führungsliteratur der letzten Jahrzehnte anschaut, kommt zum Schluss, dass auch Führung auf der Suche nach den ultimativen Killer-Apps ist. Wäre es nicht schön zu wissen, dass es auf exakt diese drei (oder sieben) Dinge ankommt, damit man als Führungskraft Erfolg hat? Irgendwann, vielleicht uneingestanden, dürfte jede Führungskraft diesen Wunsch verspüren. Die Führungsliteratur (vor allem die angloamerikanische) bedient ihn nach Kräften – und sie erhält ihn damit natürlich auch am Leben. Auch ich kann nicht leugnen, dass in manchem meiner Führungsbriefe zumindest implizit auch die Botschaft vermittelt wird: „Genau darauf kommts an – tu das, und du wirst Erfolg haben!“

Der Wunsch, die Killer-Apps für Führungskräfte zu kennen, ist verständlich. Entsprechende Behauptungen erweisen sich aber nicht selten als Mogelpackung. Meist zwar nicht von der plumpen Art der beliebten Rezepte „Abnehmen – ohne hungern zu müssen“. Häufiger hingegen deshalb, weil sie den Erfolg schon implizieren: Wer sagt, beim Fußball sei die Killer-App, mehr Tore als die anderen zu schießen, hat zweifelsohne recht. Aber ist das hilfreich? Mehr Tore zu schießen als die anderen, ist ja überhaupt erst das, wofür die Fußball-Killer-App gesucht wird.

Es kann also nicht darum gehen, für die Führung das als Killer-App herauszustreichen, was erst mittels einer Killer-App zu erreichen wäre. Dass es gelingt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die unternehmerischen Ziele zu begeistern, beispielsweise. Oder dass ein guter Teamgeist erzeugt werden kann. Oder dass man als ein gutes Vorbild wahrgenommen wird. Der Clou ist hier ja immer der, dass man als Führungskraft nichts garantierterweise bei anderen erzeugen kann. Denn diese anderen haben eigene Ziele, Motive, Bedürfnisse, Erwartungen, Wahrnehmungen, Einstellungen, Fähigkeiten, Un- und Eigenarten – und all das kann der Führungskraft die beabsichtigte Wirkung durcheinander bringen, um nicht zu sagen, vermiesen. Führung ist bekanntlich Beziehungsgestaltung, und die kann man nie alleine bewerkstelligen. Sie erinnern sich: It takes two to tango! Natürlich ist ein gewinnendes Wesen mit viel Ausstrahlung für die Führung nützlich – nur entscheidet es sich in den Augen der anderen, was ein gewinnendes Wesen ist. Gleiches gilt für kommunikative Fähigkeiten, für argumentative Stärke und für vieles mehr, was man mit erfolgreichen Führungskräften zu assoziieren pflegt.

Nichtsdestotrotz ist es nicht ja unsinnig, sich zu fragen, welchen Anteil an der Beziehungsgestaltung man als Führungskraft wirklich vollständig in eigener Regie leisten kann. Am ehesten könnte ich mir dazu Folgendes vorstellen:

  • Sie brauchen eine Einschätzung Ihrer Führungskompetenz. Zu der gelangen Sie natürlich nicht ohne die Feedbacks anderer. Aber wenn Sie dann unter dem Strich zusammenzählen: Würden Sie sich zur Führungskraft machen? Halten Sie sich für talentiert und willens dazu? Oder sind Sie Führungskraft geworden, weil das der einzige Weg zu mehr Freiraum, Status, Lohn oder Ansehen war? – Ihr ganz alleiniger Anteil hierbei ist, sich reinen Wein einzuschenken und gegebenenfalls bereit zu sein, aus der Führung auszusteigen. (Ich weiß, das war jetzt noch nicht grad das, was Sie sich von der Aufzählung der ultimativen Führungs-Killer-Apps erhofft haben, sorry!)
  • Sie wissen aus eigener passiver Erfahrung um die Bedeutung von Persönlichkeit und Charakter für eine erfolgreiche, nämlich glaubwürdige Beziehungsgestaltung in der Führung. An Ihrer Persönlichkeit und Ihrem Charakter können Sie (falls Sie über etwa dreißig sind) nicht mehr viel ändern. – Ihr ganz alleiniger Anteil hierbei aber ist die Frage der Authentizität: Stehen Sie zu Ihrer Persönlichkeit und Ihrem Charakter, oder versuchen Sie, jemanden ganz anderes darzustellen? Achtung: Nichts ist dagegen einzuwenden, dass mit der Führungsrolle auch schauspielerische Elemente verknüpft sein können. Davon rede ich hier nicht. Eine gute Performance verletzt Authentizität keineswegs, im Gegenteil, sie kann Teil davon sein. Bloß falschspielen sollen Sie nicht.
  • Führungskräfte sind Menschen, die anderen Menschen vor-gesetzt sind, und haben, wie Sie wissen, ihre primäre Berechtigung darin, dass sie Entscheide vorbereiten, herbeiführen, fällen und durchsetzen müssen. Vieles davon machen sie sinnvollerweise keineswegs allein, sondern gemeinsam mit Betroffenen als Beteiligten. Aber es gibt ein Element darin, das sie ganz alleine zu verantworten haben, und zwar den Einsatz ihrer „Basta-Kompetenz“! Sie allein müssen wissen, wann Sie von dieser Befugnis Gebrauch machen und irgendeiner Sache ein Ende setzen, indem Sie „basta“ sagen. Die Kunst hierbei besteht im Timing und in der Auswahl der Richtigen, die dadurch glücklich respektive frustriert werden. Selbstredend kommt diese Basta-Kompetenz in unterschiedlichsten Größenordnungen vor: Von „Jemandem das Wort entziehen“ über „Beenden einer Diskussion“ bis hin zu „Entscheiden über Kündigungen“ etwa. Obwohl Sie häufig jemanden frustrieren, wenn Sie von dieser Kompetenz Gebrauch machen, wird man es von Ihnen grundsätzlich erwarten. Ihre Chefin, Ihre Kollegen, Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sicherlich unterschiedliche Erwartungen an Sie, wann und wie Sie von der Basta-Kompetenz Gebrauch machen sollen – aber alle erwarten sie, dass! Es dürfte Ihre einflussreichste Killer-App bezüglich des Erfolgs Ihrer Führung sein.
  • Eine letzte Killer-App sehe ich in Ihrer Bereitschaft, Ihre eigene Führung respektive Ihre Führungsbeziehungen immer wieder kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Geschickterweise machen Sie das nicht nur alleine, sondern auch in Zusammenarbeit mit wichtigen Bezugspersonen. Zum Beispiel mit Vorgesetzen und/oder Kollegen und/oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und/oder einem Coach und/oder mit Freunden oder Ihrem Ehepartner. Aber die Bereitschaft, sich der Selbstkritik und Fremdkritik zu öffnen – die müssen Sie ganz alleine aufbringen. Lernen, sich weiterentwickeln, sich verbessern ist alles schon schwierig genug. Ohne Ihre Bereitschaft dazu wird es Ihnen aber sicherlich nicht gelingen. Diese Bereitschaft verlangt zuallererst Offenheit gegenüber Feedback. Auch wenn Sie keineswegs jedes Feedback als „wahr“ oder „berechtigt“ akzeptieren müssen, so müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen, dass man es Ihnen gegeben hat. Und Sie sollten sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Die Doofheit der Feedbackgeber allein dürfte es in den meisten Fällen nicht hinreichend erklären.

Ich gebe zu: Diese vier Killer-Apps (reinen Wein, Authentizität, Basta-Kompetenz und Lernbereitschaft) reichen allein sicherlich nicht aus für den ultimativen Führungserfolg. Aber sie tragen viel dazu bei. Und sie haben den unschätzbaren Vorteil, von Ihnen ganz allein – ohne fremdes Zutun – zum Einsatz gebracht werden zu können. Geben Sie also niemandem die Schuld, wenn Sie das versäumt haben.

Führungsbrief 81 – Agenda

Hier beginnt alles. Was es in Ihre Agenda schafft, findet – von den ständigen Umbuchungen abgesehen – später statt. Was immer Sie hier also „falsch“ machen, werden Sie später ausbaden müssen. Was immer hier keinen Platz findet, fehlt nachher in Ihrer Führung. Es wäre also zweifelsohne lohnend, hier achtsam zu sein.

Frage 1: Wie füllt sich Ihre Agenda?

  • Sie werden wiederkehrende Termine haben, die sich wie ein liturgischer Kalender (Ostern, Weihnachten etc.) übers Jahr verteilen. Dazu gehören regelmäßige Geschäftsleitungs- oder Abteilungs- oder Teamsitzungen. Dazu gehören aber auch „Bilas“ (bilaterale Gespräche; heutzutage oft 1-to-1 genannt) mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
  • Sie haben vielleicht Kundentermine.
  • Sie werden von höheren Stellen zu Meetings aufgeboten.
  • Sie arbeiten in Projekten mit, die ihrem eigenen Rhythmus folgen.
  • Sie haben Weiterbildungen und ähnliche Veranstaltungen, die terminlich fremdgesetzt sind.
  • Sie haben vielleicht Präsenzzeiten vor Ort (Pikettdienst im weitesten Sinn).
  • Sie haben „freie“ Zeit, die Sie zum Abarbeiten von Mails, zum Telefonieren, zum Lesen von Unterlagen und zum Vorbereiten von Papieren oder Präsentationen brauchen.

Was fehlt? Haben Sie auch eingeplante Zeit zum Denken, oder ist dies höchstens ein „Abfallprodukt“ zwischen allen geplanten Aktivitäten? Was von Ihren Aktivitäten ist/war – wenigstens grundsätzlich – Ihr freier Entscheid? Sind die eingeplanten Zeitbedarfe realistisch? Die führt uns zur zweiten, ungleich wichtigeren Frage:

Frage 2: Wie fühlt sich Ihre Agenda an?

  • Fühlen Sie sich meist als Herr Ihrer Zeit? Oder als Sklave anderer?
  • Haben Sie Luft zum Atmen?
  • Entspricht der Zeitanteil der einzelnen Aktivitäten den Prioritäten, die Sie sich setzen würden?
  • Was bleibt am ehesten – wenn nicht sogar in unschöner Regelmäßigkeit – auf der Strecke, obwohl es Ihnen wichtig wäre? Und warum?
  • Wie gut sind Sie darin, Korrekturen an Ihrer Agendaplanung vorzunehmen, wenn Sie dafür andere verärgern müssen?
  • Ist das Portfolio Ihrer Aktivitäten – also das Gesamtmuster Ihrer Agenda, nicht die einzelnen Aktivitäten – stimmig zu Ihrer Leistungsbereitschaft, angemessen für Ihre Leistungsfähigkeit im Tagesverlauf und geeignet, um den Kopf jeweils bei der Sache zu haben, die ansteht (statt bei der vorigen oder der übernächsten)?
  • Fühlen Sie sich besser, wenn Ihre Agenda voll ist (so dass Sie einfach „funktionieren“ können) oder wenn sie viel leeren Raum lässt (so dass Sie spontan entscheiden können, was Sie jetzt gerade tun)?
  • Oder andersrum: Macht Ihnen eine leere Agenda Angst? Respektive: Gibt Ihnen eine volle Agenda das Gefühl der Wichtigkeit und des Gebrauchtwerdens?
  • Wie geht es Ihnen, wenn Sie erst am Morgen früh erfahren, dass der Termin für den ganzen Tag ausfällt?

Damit kommen wir zu der Frage, die vermutlich am schwierigsten zu beantworten ist, aber abschließend darüber entscheidet, wie gut es Ihnen in Ihrer Arbeit geht, wie geeignet Sie dafür sind und wie erfolgreich Ihre Führungsarbeit überhaupt sein kann:

Frage 3: Wie anders sähe Ihre Agenda aus, wenn Sie sie völlig frei gestalten könnten?

Man könnte die Frage auch umformulieren zu: Was würden Sie tun, wenn Sie keine Angst hätten? Denn es ist doch so: Vieles von dem, was Sie tun, obwohl Sie es lieber nicht oder lieber etwas anderes täten, tun Sie nur deshalb, weil Sie die Folgen einer Verweigerung fürchten. Zum Beispiel: Dass sie Ihnen jemand übel nimmt. Dass jemand gekränkt ist. Dass Sie Ihren Einfluss nicht geltend machen können. Dass Sie nicht „dabei“ sind. Dass man von Ihnen eine Rechtfertigung verlangt. Dass Sie etwas verpassen. Bitte setzen Sie hier Ihre eigenen Befürchtungen ein.

Je größer das Delta zwischen Ihrer Ist- und Ihrer Wunsch-Agenda ist, desto dringlicher aber müssen Sie sich auch noch die folgende Frage stellen:

Frage 4: Was verpasse ich mit dem aus meiner Wunsch-Agenda, das es nicht in die Ist-Agenda geschafft hat?

Merkwürdigerweise beschleicht uns die Angst in diesem Falle nicht gleich schnell wie beim Vorigen. Denn man ist sich ja nicht jederzeit bewusst, was „eigentlich“ auch noch in die Agenda rein sollte. Und nur am Rande: Nicht alles aus der Wunsch-Agenda findet man jederzeit „lustig“. Da hat es vieles drin, das man als notwendig und wichtig erkennt und deshalb – zumindest im Grundsatz – will, auch wenn es nicht immer gleich viel Spaß macht.

Der Trick ist nun der: Bauen Sie sich zuerst eine Wunsch-Agenda. Nehmen Sie sich dafür genügend Zeit. Machen Sie sie voll! Denn Sie sollen Ihre Zeit ja nicht verplempern. Ohne fremdbestimmte Termine könnten Sie dann also ganz nach Ihren Wünschen und Prioritäten leben (respektive zumindest arbeiten). Aber selbstredend kommen ja dann doch fremdbestimmte Termine. Bevor Sie diesen nun zustimmen, müssen Sie prüfen, ob Sie Ihnen wirklich wichtiger sind als das, was bereits in Ihrer Agenda steht. Wenn ja, müssen Sie sich fragen, gegen was Sie die als nachrangig qualifizierte Tätigkeit austauschen könnten, was seinerseits noch nachrangiger ist. Auf diese Weise steigt die Chance, dass Ihre Agenda nicht einfach von Höheren oder Hartnäckigeren respektive von schlechten Gewohnheiten oder von schierer Nachlässigkeit bestimmt wird.

Klar: Ich meine diesen Tipp nicht ganz wörtlich, denn sonst sind Sie ja nur noch mit Umbuchen beschäftigt. Aber ich meine ihn ernst im Sinne einer Gedankenübung oder einer Geisteshaltung. Wenn Sie sich nicht bewusst machen, was Sie wirklich wollen, dann können Sie auch nicht priorisieren. Dann werden Sie priorisiert.

Nicht umsonst hat der englische Begriff agenda setting für uns einen doppelten Klang: Wer seine Agenda nicht passend zu seinen Werten, Zielen, Prioritäten und Aufgaben gestalten kann, der hat auch sonst nichts zu sagen.

Und etwas zu sagen – sprich zu entscheiden – haben, ist nun mal die Kernaufgabe einer Führungskraft.

Führungsbrief 80 – Gerüchte

Ich weiß, Sie erzählen keine Gerüchte. Sie nicht. Damit sind wir zwei allerdings allein auf weiter Flur. Und so lohnt es sich nicht, diesen exotischen Fall hier weiter zu vertiefen. Andere Menschen hingegen erzählen Gerüchte. Damit wollen wir uns nun befassen. In jedem – jedem! – Betrieb, in dem ich als Berater zu tun habe, sagt mir jemand früher oder später: „Wissen Sie, das ist eine Schwatzbude hier. Alle wissen immer alles. Nichts lässt sich geheim halten.” Ich finde, das ist a) vermutlich immer wahr und b) auch ganz okay so.

Natürlich führt der offizielle Moralin-Kodex in sämtlichen Unternehmen (und darüber hinaus) das Gerüchte-Verbreiten auf der Liste der ganz üblen Sünden. Und noch nie ist mir ein Mensch begegnet, der sich selbst dieser Sünde bezichtigt hätte. Damit würde er sich zu sehr ins soziale Offside stellen. Aber es ist mir auch noch nie ein Mensch begegnet, der auf die Einleitung „Wussten Sie schon, dass Meyer, dieser …, jetzt angeblich …“ nicht mehr zugehört hätte. Meist merkt man schon bei der Einleitung an der ganzen Tonalität, dass nun gleich ein Gerücht folgt, das selbstredend nie als Gerücht etikettiert wird, aber dennoch zweifelsfrei als „on-dit“ erkennbar ist.

Was dem Affen das Lausen, sind dem Menschen die Gerüchte: Es ist das Medium der Festigung sozialer Netzwerke. Indem man ein Gerücht weitererzählt (der eigentliche Erfinder verliert sich ja meist im Dunkeln), zeigt man sich interessiert, befriedigt man seine Neugier, erweist man sich als informiert, erntet man Aufmerksamkeit, baut man seine Macht aus, nimmt man Einfluss, erfährt man umgehend Neues und hat man Spaß. Daran ist so viel attraktiv, dass man sich nicht wundern muss, dass es zuoberst auf der Sündenliste steht. Das ist ja auch beim Essen und sonst noch bei ein paar Dingen so.

Ich wage die Behauptung: Wer nie ein Gerücht erzählt, wird sozial isoliert, ausgeschlossen, abgehängt. Das kann man nicht im Ernst von jemandem verlangen. Hören Sie also bitte auf, eine entsprechende Forderung in Ihre Führungsgrundsätze, Wertekataloge und Unternehmenskulturparagrafen hineinzuschreiben. Es wäre scheinheilig.

Zugegeben, man kann Gerüchte „schlimmer“ und „weniger schlimm“ erzählen. Weniger schlimm ist natürlich besser: Dazu gehört, dass man wo möglich sagt, woher man das Gerücht hat, und dass man wie bei der Lebensmitteldeklarationspflicht dazu sagt, wie sicher oder unsicher, wie belegt oder nur vermutet die Sache sei. Freilich kann man auch auf diesem Weg äußerst scheinheilig sein: „Ich will ja nichts gesagt haben, aber …“

Wer ein „schlimmer“ Gerüchteerzähler ist, verkauft lauter unbewiesene Dinge als nackte Tatsachen, schmückt sie da und dort noch aus, weiß genau, wem er damit wie eins reindrückt und freut sich diebisch daran. Was er meist übersieht, ist, dass er zwar häufig Aufmerksamkeit, aber gleichzeitig viel Verachtung erntet. Die anderen hören der üblen Rede noch so gerne zu, denn sie erfahren nicht nur Interessantes, sondern haben danach auch noch Grund, schlecht über den Gerüchteerzähler zu reden. Schwatztanten allenthalben!

Viel relevanter als der Aspekt des Gerüchteerzählens ist das Problem des Gerüchtehörens. Was machen Sie mit dem, was Sie in der Gerüchteküche hören (außer weitererzählen, natürlich)?

Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Hier erweist sich, wer sozial kompetent und mikropolitisch gewaschen ist. Ein absolutes No-Go ist selbstverständlich, alles, was man gerüchtehalber hört, einfach zu glauben und für bare Münze zu nehmen. Das wäre naiv. Nachfragen, um den Wahrheitsgehalt zumindest ansatzweise einschätzen zu können, sind oft nützlich, brauchen aber Geschick: Man darf ja nicht zwischen den Zeilen dieser Nachfragen dem Gerüchteüberbringer mitteilen: „Dir glaube ich eigentlich kein Wort.“ Das könnte die soziale Bindung schädigen, statt sie – wie das Lausen bei den Affen – zu kräftigen.

Beliebt ist, das Gerücht mit einem interessierten – aber nicht zu interessierten! – „Was Sie nicht sagen!” entgegenzunehmen und es dann baldmöglichst bei konjunktivischem Weitererzählen an Dritte zu testen: „Stimmt es eigentlich, dass …?“ Wer bloß fragt, macht sich scheinbar nicht schuldig. Die meisten Menschen sehen das ja nicht so streng wie der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Journalistenfragen, die mehr unterstellten als wirklich fragten, mit der Bemerkung abzuschmettern pflegte: „Das ist eine Frage vom Typus ‚Stimmt es, dass Sie seit gestern Ihre Frau nicht mehr schlagen – ja oder nein?‘“

In der Champions League in Sachen Umgang mit vernommenen Gerüchten geht man direkt zum Betroffenen und konfrontiert ihn mit dem Gehörten. Das aber muss gekonnt sein, denn es birgt mehrere Risiken:

  • Sie setzen sich damit der Gefahr aus, selbst der Erfindung des Gerüchts oder zumindest seiner Proliferation bezichtigt zu werden.
  • Sie riskieren, dass der Angesprochene von Ihnen enttäuscht ist, da er Sie ja verdächtigen muss, das Absurde überhaupt für möglich zu halten: „Traut der mir das wirklich zu?“
  • Sie gefährden das letzte Glied in der Gerüchtekette, dasjenige gerade vor Ihnen, denn Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit aufdecken müssen, von wem Sie diesen Unsinn gehört haben.
  • Sie wissen nicht von vornherein, was der mit dem Gerücht konfrontierte Betroffene danach tut. Das heißt, Sie riskieren womöglich einen Flächenbrand sozialer Konflikte, den Sie nicht mehr löschen können.

Kein Wunder also, wenn Sie dann doch davor zurückschrecken, direkt zum Betroffenen zu gehen.

Vielleicht sollte man das Ganze sehr viel lockerer sehen: Erstens, Gerüchte gehören zum Menschen. Zweitens, jede/r erzählt und vernimmt Gerüchte. Drittens, man sollte beim (aktiven, aber auch passiven) Umgang mit Gerüchten nicht nur bedenken, wem man möglicherweise schadet, sondern auch, was dabei auf einen selbst zurückfallen könnte.

Der dritte Punkt ist der entscheidende. Es geht hier nicht nur um Wahrheit oder Ethik oder Anstand und ähnliche edle Werte. Es geht um die harte Währung sozialer Geltung: Als was oder wer stehen Sie da, wenn Sie dies oder jenes in die Welt setzen, weiterverbreiten oder ungeprüft glauben? In dieser Währung sollten Sie Ihren Umgang mit Gerüchten bilanzieren. Und natürlich haben Sie als Führungskraft die Aufgabe, ein Gerücht über etwas oder jemanden in Ihrem Zuständigkeitsbereich substanziell abzuklären. Es kann ja sein, dass es (zumindest teilweise) wahr ist und von Ihnen eine Reaktion oder Intervention erfordert. Aber in dem Moment ist es für Sie zumindest eine handlungsrelevante Information und kein Gerücht mehr.

Das universelle und unvermeidliche soziale Phänomen der Gerüchteküchen lehrt uns aber auch noch etwas ganz anderes: Versuchen Sie niemals, etwas als so geheim zu behandeln, dass es unter keinen Umständen auskommen – sprich in der Zeitung stehen – dürfte. Ich verspreche Ihnen: Es kommt sowieso aus. Zuerst als Gerücht. Offen ist dann nur noch, ob es schon morgen oder erst nächste Woche in der Zeitung steht. Das ist das Schöne an den Gerüchten: Sie geben Ihnen eine Vorlauffrist. Sobald sie – bezüglich Ihres „Geheimprojekts“ – in Umlauf kommen (und das ist unvermeidlich), wissen Sie, dass nun allerhöchste Zeit für aktive und offensive Kommunikation ist. Vielleicht schaffen Sie das gerade noch bis zur nächsten Zeitungsausgabe.

Führungsbrief 79 – Persönliche Ziele

Führen über Zielvereinbarungen ist heute Standard. Die einschlägigen HR-Tools sind wohl elaboriert. Der Begriff „Vereinbarung“ suggeriert dabei, die darüber geführten Personen hätten die betrieblichen Ziele so sehr zu ihren eigenen Motiven gemacht, dass sie nun in einem engeren psychologischen Sinne in ihrem Handeln dadurch geleitet würden. Wie gut programmierte Cruise Missiles würden diese Menschen nun unbeirrt ihr Ziel verfolgen und dabei sämtliche Hindernisse gekonnt überwinden. Diese Vorstellung ist naiv.

Obwohl ja jeder Manager weiß, dass in diesem Prozess manch einer die Zielvorgabe eher zähneknirschend schluckt als wirklich akzeptiert, lügt er sich wenig später doch in die Tasche und unterstellt, man hätte die Ziele wirklich vereinbart. Vereinbarungen verlangen gleiche Augenhöhe, und die ist in einem hierarchischen Gefüge definitionsgemäß nicht gegeben. Faktisch geht es – von glücklichen Ausnahmen abgesehen – um eine Zielvorgabe. Selbstverständlich kann es sein, dass diese Zielvorgabe sachlich überzeugend begründet ist, so dass sie tatsächlich akzeptiert wird. Und in einem gut geführten Prozess wird sich der „Zielvorgeber“ nötigenfalls durch gute Argumente überzeugen lassen, wenn die von ihm ursprünglich angedachte Zielvorgabe nicht realistisch oder akzeptabel ist. Dann kann man zwar von einer Vereinbarung sprechen – aber das Ergebnis bleibt Vorgabe.

Das Tool der Zielvereinbarung sollte der Führungskraft nicht die Illusion geben, dass damit die Führungsarbeit einfacher werde. Das Gegenteil ist der Fall, denn wenn eine fremdbestimmte Vorgabe im freundlichen Kleid einer Vereinbarung daherkommt, dann vergessen beide Beteiligten leicht, was wirklich Sache ist: Denn dass Menschen, egal auf welcher hierarchischen Stufe, immer auch persönliche Ziele verfolgen, wird ausgeblendet. Die Unternehmen wollen das in Anlehnung an den bayerischen Komiker Karl Valentin freilich „gar net erst ignorieren.“

Man kann Menschen umso leichter für unternehmerische Zielvorgaben gewinnen, je besser sich diese mit persönlichen Zielen verbinden lassen. Das heißt, mit der Unterschrift auf dem Zielvereinbarungsblatt ist die Sache führungsmäßig keineswegs erledigt – die Arbeit für den Chef beginnt erst: Er muss seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (einzeln oder als Gruppe) dafür gewinnen, sich für die unterschriebenen Ziele auch wirklich einzusetzen.

Und wieder kommen elaborierte HR-Tools zum Einsatz, nämlich Bonus- und Prämiensysteme. Sie implizieren, mittels Geld könne man die Brücke zu den persönlichen Zielen schlagen, da Geld ja universell verwendbar ist. Weit gefehlt! Die Kopplung zwischen Zielvereinbarung und Bonus/Geld macht das ganze Thema keineswegs etwa leichter, sondern häufig noch schwieriger. Monetäre Reize verleiten womöglich dazu, die Zielvorgabe nicht mehr sinngemäß zu verstehen, sondern kreativ zu lesen – das heißt herauszufinden, wie der eigene Bonus optimiert werden kann. Die Leute sehen sich nun also bereits vor potenziell drei nicht gleichläufigen Zielgrößen: die vereinbarte Zielvorgabe, deren bonusoptimierte Uminterpretation (oder auch bonusoptimierte Einengung) und die nach wie vor existierenden persönlichen Ziele, die im Zweifelsfall alles andere zu übersteuern vermögen.

An Letztere muss anschließen können, wer wirklich zielorientiert führen will und dies nicht mit dem Abarbeiten der geltenden HR-Tools verwechselt. Und damit wird es noch einmal schwerer. Denn der Versuch, die persönlichen Ziele vom Mitarbeitenden zu erfragen, wird wohl in vielen Fällen zu „unwahren“ Antworten führen. Da die wenigsten überhaupt wissen, welche Ziele sie in ihrem Innersten wirklich verfolgen. Diese Ziele zeigen sich höchstens im Handeln der jeweiligen Person (zumindest teilweise). Es gilt also, nahe beim Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sein, um sie zielorientiert führen zu können. Man muss sich involvieren in Umsetzungspläne, diese hinterfragen, Alternativen aufzeigen, Meilensteine vereinbaren etc. Dann beginnt man am ehesten zu erkennen, was die Leute in ihrem Tun „triggert“. Gleichzeitig muss man als Führungskraft selbst reflektieren, was einen persönlich bewegt: Anerkennung? Geld? Macht? Was ist man willens zu leisten? Was nicht?

Nur am Rande: In der Psychologie geht man davon aus, dass sich die Menschen überwiegend drei grundlegenden Motivlagen zuordnen lassen, die ihre persönlichen Ziele prägen: Macht, Leistung, Anschluss. Die Macht-Motivierten sehen sich im Wettkampf mit anderen. Die Leistungs-Motivierten stehen im Wettkampf mit sich selbst. Die Anschluss-Motivierten wollen akzeptiert und geliebt werden. Wozu Sie gehören, stimmt übrigens mit Ihrem Selbstbild nicht unbedingt überein. Die Chance ist zum Beispiel groß, dass Sie sich für leistungsmotiviert halten, tatsächlich aber entweder macht- oder anschlussorientiert sind. Und selbstredend gibt es Mischformen.

Es geht also um die innere Motivlage: Ich strebe nach Macht und Einfluss. Ich muss besser sein als die anderen um mich herum. Ich will von allen bewundert und geliebt werden. Ich will respektiert, notfalls gefürchtet werden. Ich will reich werden. Ich will nichts verantworten müssen. Ich will eine ruhige Kugel schieben. Ich suche Spaß mit Kolleginnen und Kollegen. Ich suche eine interessante Beschäftigung, damit die Zeit vergeht. Ich will meinem Chef (wie einst meinen Eltern) beweisen, wie gut ich bin. Und so weiter.

Damit wir uns richtig verstehen: All diese (und noch manche weitere) persönlichen Ziele sind legitim. Ein Moralinfinger ist nicht angebracht. Worum es führungsmäßig geht, ist Interesse für die Menschen. Was treibt sie an? Was beflügelt sie? Was lässt sie kalt oder langweilt sie? Ein Vorgesetzter, der solche Fragen in Bezug auf seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beantworten kann, wird sie besser und gezielter führen können. Eine Vorgesetzte, die bei Rekrutierungen daran interessiert ist, etwas über die persönlichen Ziele von Kandidaten in Erfahrung zu bringen, wird glücklichere Personalentscheide treffen. Leicht ist es nicht, Menschen in dieser Hinsicht treffend zu beurteilen. Nicht einmal in Bezug auf uns selbst, denn wir alle neigen dazu, uns in einem rosa Spiegel zu sehen.

Dennoch: Stellen Sie sich die Frage nach den persönlichen Zielen – bei sich selbst, bei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei Kandidaten, bei Ihren Vorgesetzten. Seien Sie aber nicht zu voreilig bei Ihren „Diagnosen“. So schwer Sie sich nämlich damit tun, bei sich selbst Macht-Orientierung zu erkennen, so schnell werden Sie mit genau dieser Diagnose Ihren Chef etikettieren. Vorsicht also! Erkennen Sie auch Mischformen. Seien Sie offen genug, Ihre vermeintliche Einsicht zu korrigieren, wenn sie sich als falsch herausstellt.

  • Reden Sie mit Menschen. Fragen Sie sie nach Zielen und Motiven. Aber nehmen Sie nicht alles beim Nennwert. Was immer man Ihnen sagt: Fakt ist lediglich, dass man das gesagt hat.
  • Nehmen Sie es biblisch: „An ihren Früchten sollt ihr sie messen.“ Lesen Sie das, was implizit im Tun von Menschen zum Ausdruck kommt. Mit Achtsamkeit erkennt man recht gut, ob jemand im Wettkampf gegen andere (Macht) oder im Wettkampf gegen sich (Leistung) oder außerhalb von Wettkämpfen (Anschluss) steht.
  • Wagen Sie Prognosen. Wenn meine Einschätzung von X stimmt, dann müsste sich X für oder gegen eine bestimmte Aufgabe/Funktion/Verantwortung/Herausforderung entscheiden. Tut er oder sie das dann auch?

Je besser Sie mit der Zeit persönliche Ziele erkennen (bei anderen, aber eben auch bei sich selbst), desto stimmiger werden Sie Ihre Führungsbeziehungen gestalten können. Es ist wie bei dem bekannten Ratschlag „Gehe nie zu einem Arzt, dessen Lieblingsdiagnose du nicht kennst!“: Arbeiten Sie nie enger mit jemandem zusammen, dessen persönliche Ziele Sie nicht kennen!

Aber suchen Sie jetzt bloß nicht nach einem Umsetzungstool. Seien Sie bloß offen dafür, dass Sie mit individuell verschiedenen Menschen arbeiten, die persönliche Ziele haben. Nicht mit genormten Stellenprofilinhabern.

Führungsbrief 78 – Produktive Spannungen

Es gibt wohl in jeder Organisation Spannungen. Mal mehr, mal weniger. Spannungen existieren zwischen Menschen oder Gruppen, zwischen Themen, Aussagen, Beschlüssen, Zielen, Regelungen und so weiter. Oft sind Spannungen unangenehm, man möchte sie am liebsten los sein. Auch wenn dieser Wunsch menschlich verständlich ist – Spannungen sind dennoch nötig. Nicht immer und überall, nicht in jedem Ausmaß. Aber ohne Spannung bewegt sich nichts. Es ist wie bei der Elektrizität: Ohne Spannung fließt kein Strom. Spannungen sind die Quelle jeglicher Entwicklung.

Das gilt auch für Führung. Es braucht eine produktive Spannung im Führungsraum, damit etwas erreicht werden kann. Produktiv heißt in der Regel: „bewältigbar groß“. Allzu große Widersprüche erzeugen nämlich eine dysfunktionale Spannung – und daraus erwächst nicht viel Gutes. Es geht um eine „Balance-kritische Entwicklung“.

Mit der Definition „bewältigbar groß“ wird das Kriterium, das über produktiv/dysfunktional entscheidet, – leider – auf die Betroffenen überwälzt. Denn Spannungen sind nicht absolut, sondern für jemanden noch bewältigbar oder aber zu groß. Wenn also die Beteiligten dazu in der Lage sind, können sie auch aus sehr großen Spannungen eine überaus konstruktive Entwicklung ableiten. Umgekehrt sind andere aber kaum in der Lage, selbst relativ kleine Spannungen produktiv zu nutzen. Darauf will ich hier aber nicht weiter eingehen, sondern im Folgenden das Augenmerk auf die Art der interessierenden Spannungen legen.

Lassen wir hier die zwischenmenschlichen, also sozialen Spannungen weg. Die sind meist augenscheinlich. Lassen wir auch die sachlichen Spannungen weg, wie sie aus schwierig zu lösenden Sachproblemen oder Zielkonflikten resultieren. Über die stolpert man zwangsläufig. Konzen­trieren wir uns hier auf psychologische Spannungen im engeren Sinn. Diese Art von Spannungen übersehen Führungskräfte oft, wodurch sie leicht dysfunktional werden oder zumindest nicht produktiv genutzt werden können.

Zuerst ein paar Beispiele für solche dysfunktionalen psychologischen Spannungen:

  • Zwischen dem, was in einem Unternehmen explizit behauptet wird, und dem, was sich implizit aus dem Verhalten und den Fakten des Unternehmens herauslesen lässt: Man behauptet (explizit) in den Führungsgrundsätzen, dass man auf eigenverantwortliche Menschen setze. Aber man praktiziert ein so lückenloses Kontrollsystem, dass damit (implizit) völlig klar wird, dass niemand an Eigenverantwortung glaubt.
  • Zwischen Dingen, die als kollektiv, und solchen, die als individuell betrachtet werden: Der Chef sagt ununterbrochen „Wir wollen …“, aber es ist nur er, der tatsächlich will.
  • Zwischen außen und innen: Das Unternehmen will sich auf dem Markt von den Wettbewerbern differenzieren – macht aber intern (via „Benchmarks“, „Best Practice“) ständig alles nach, was die Konkurrenz tut.

Die Beispiele sind so gewählt, weil sich in Organisationen typischerweise in den darin angesprochenen drei Polaritäten psychologische Spannungen zeigen: explizit/implizit, individuell/kollektiv, innen/außen. Sicherlich nicht nur dort, aber es lohnt sich, darauf zu achten, ob in diesen drei Polaritäten Spannungen bestehen und ob respektive wie sie produktiv genutzt werden können.

Produktiv sind Spannungen, wenn sie es erlauben, konstruktiv genutzt zu werden. Wenn also beispielsweise eine Struktur (= explizit; das schließt Prozesse mit ein) eingeführt wird, die etwas mehr Eigenverantwortung verlangt, als in der Kultur (= implizit) bereits gelebt wird. Da kann die Kultur nachziehen. Oder wenn sich jemand bewusst (= explizit) einer Herausforderung stellt, die er sich innerlich (= implizit) nicht so ohne Weiteres zutrauen würde. Daran kann man wachsen. Oder wenn man etwas, das objektiv außen ist (zum Beispiele eine andere Abteilung) – temporär – als innen betrachtet und sich fragt, wie man die Zusammenarbeit in diesem Fall organisieren würde.

Übrigens: Spannungen – produktive wie auch dysfunktionale – können natürlich nicht nur auf der sozialen, der sachlichen oder der psychologischen Ebene, sie können auch auf der Zeitachse – also zwischen gestern und heute oder heute und morgen – existieren. Auch dort liegt also ein produktives Entwicklungspotenzial.

Ziel einer Balance-kritischen Entwicklung ist freilich nicht so etwas wie Gleichgewicht. Führung muss Spannung ja gerade im Ungleichgewicht suchen, eine Spannung, die sich produktiv nutzen lässt.

Typischerweise überlegt man sich – bezogen auf psychologische Spannungen – Fragen von etwa folgender Art:

  • Ist es sinnvoller, etwas explizit zu benennen, oder soll man es nur implizit gelten und wirken lassen?
  • Ist etwas ein individuelles Problem oder/und ein kollektives? Kann man andere Lösungswege erkennen, je nachdem, ob man es (oder Teile davon) als individuell oder als kollektiv anschaut?
  • Verändert sich etwas in der Optik auf ein Problem, wenn man es als innen oder als außen betrachtet? Abzuprüfen sind also die Varianten „Nehmen wir mal an, es sei mein/unser Problem“ versus „Nehmen wir mal an, es sei sein/ihr Problem“.
  • Wo erblickt man psychologische (aber auch andere) Spannungen? Werden sie als produktiv erlebt oder nicht?
  • Fehlt Spannung, wo sie „eigentlich“ sein müsste? Sind Bereiche, Personen oder Gruppen in einer Komfortzone, in der überhaupt kein psychologischer Druck mehr für Entwicklung wachsen kann?

Ich glaube, am häufigsten dysfunktional sind heute psychologische Spannungen zwischen Kultur und Struktur. Man sieht es daran, wie unterschiedlich sich die beiden derzeit entwickeln. In aller Kürze:

Struktur ist auf dem Vormarsch: Bürokratisierung und Standardisierung nehmen zu und sind Ausdruck davon. Viele Aspekte von Führung werden dadurch substituiert – oder drohen, vernachlässigt zu werden. Folge dieser Entwicklung ist auch eine Zentralisierung, die diesen Prozess steuert und kontrolliert. Lokale Entscheidungsspielräume – und damit Spielräume für Führung – werden immer enger. Die zeitliche Kadenz der Erneuerungen auf struktureller Ebene verunmöglicht zudem häufig, jemals die Ernte von dem zu genießen, was man eigentlich säen wollte.

Kultur ist – der Rede nach – „in“. Sie wird als Allerweltheilmittel proklamiert, weil man sich erhofft, dass die Dinge ganz von alleine entsprechend den Erwartungen laufen würden, wenn man nur die richtige Kultur hätte. Als „richtig“ wird dabei eine Kultur der Selbstständigkeit, der Eigenverantwortung, der Initiative und Autonomie sowie einer unternehmerischen Haltung auf jeder Stufe beschrieben. Dass diese Kultur – so man sie überhaupt „einführen“ könnte – in einem unauflösbaren, also keineswegs produktiven Spannungsverhältnis zu den Trends im Strukturbereich steht, wird meistens ausgeblendet. Kaum verwunderlich, dass die kulturellen Appelle vor diesem Hintergrund ungehört verhallen.

Bei dem, was man als Führungskraft tut, muss man sich also immer fragen, welche Spannungen es induziert. Und ob sich erwarten lässt – besser: wie man dafür sorgen kann –, dass diese Spannungen produktiv sind. Dies ist zweifelsohne eine Kunst. Es gibt keine festen Regeln. Aber ebenso zweifelsohne kann man daran arbeiten, seine Kunstfertigkeit zu verbessern. In diesem Fall ist das sogar ganz ausgesprochen „spannend“.

Führungsbrief 77 – Ihr heimliches Drehbuch

Wenn ich mit Ihnen über Ihre Arbeit reden würde, dann würden Sie mir wohl von Ihren Aufgaben erzählen, Sie würden vielleicht Ihre Ziele nennen, auf besondere Umstände,

Herausforderungen und Rahmenbedingungen verweisen, kann sein, dass Sie mir ein Organigramm Ihres Zuständigkeitsbereichs zeigen würden, und vielleicht gäbe es einiges über laufende Projekte zu berichten. Ich würde erfahren, wie Sie Ihre Rolle verstehen, vor welchen Zielkonflikten Sie womöglich stehen und was Ihre Führungsüberzeugungen oder -grundsätze sind. Sie würden mir – Offenheit jetzt einmal vorausgesetzt – das sagen, was Ihnen in Bezug auf Ihre Arbeit bewusst ist. Es ist das, was Ihrem eigenen Denken zugänglich ist und was Sie explizieren, also sprachlich ausdrücken können. Nennen wir den Teil, der sich so von Ihnen zeigt, Ihr „Bewusstsein“ – wobei hier freilich nur oder vor allem vom arbeitsbezogenen Bewusstsein die Rede ist.

Dieses Bewusstsein ist aber nur ein Teil von dem, was Ihr Denken und Handeln steuert und die Basis für Ihre Gefühle und Emotionen darstellt.

Ein anderer, wesentlich größerer Teil ist Ihnen jedoch nicht bewusst und wirkt lediglich implizit – das heißt, er kommt in Ihrem Verhalten zwar zum Ausdruck, aber eben nur indirekt und unausgesprochen. Entstanden ist dieser (hier wiederum primär arbeitsbezogene) unbewusste Teil von Ihnen im Laufe Ihrer Berufsbiografie. Sie haben über die Jahre viele Dinge erlebt, Erfahrungen aller Art gemacht und daraus (ob bewusst oder nicht) Lehren gezogen. Das Unbewusste enthält die Verdichtung all dessen, und die wirkt wie ein heimliches Drehbuch Ihres Verhaltens. Es prägt Muster, in denen Sie vielleicht gefangen sind, es beeinflusst den Stil Ihres Verhaltens, es warnt Sie vor Gefahren (respektive Dingen, die Sie ängstigen) und es verleitet Sie mitunter zu Verhaltensweisen, die Ihr Ich keineswegs billigt und hinterher immer wieder bereut.

Zwei Dinge sind nun prekär bei diesem psychologischen Zwei-Kammer-System in Ihrem Kopf:

  • Ihr Unbewusstes ist Ihnen definitionsgemäß nicht unmittelbar zugänglich. Auch Sie können (wie ein fremder Beobachter) höchstens aus Ihrem faktischen Tun Rückschlüsse über Ihr „heimliches Drehbuch“ ziehen. Anders aber als ein fremder Beobachter wird Ihr bewusstes Denken vieles davon gar nicht wahrhaben wollen, sondern im Lichte der eigenen Überzeugungen geradebiegen. Man könnte wahrlich behaupten, dass Ihnen Ihr eigenes „heimliches Drehbuch“ noch weniger zugänglich ist als einem (sorgfältigen) fremden Beobachter.
  • Aus der Hirnforschung wissen wir, dass in unseren geistigen Prozessen der unbewusste Teil sehr viel größer ist als der bewusste. Seeehr viel größer. Man schätzt, dass das Gehirn eine Million Mal mehr Bits pro Sekunde unbewusst verarbeitet als bewusst. Salopp gesagt: Nur jedes Millionste Bit in Ihrem Gehirn dringt in Ihr Bewusstsein. Zwar wird viel von der ungleich größeren unbewussten Verarbeitung für das Aufrechterhalten Ihrer körperlichen Prozesse und für automatisierte Routinen (wie Gehen oder Autofahren) verwendet, aber sehr vieles fließt eben als „heimliches Drehbuch“ ein in Ihr Denken und Tun – und zwar ohne Ihr Wissen!

Ihre bewussten Überzeugungen und Ihr „heimliches Drehbuch“ sind nun keineswegs immer gleichgerichtet. Das bewusste Denken ist Argumenten oder der Logik durchaus zugänglich – solange es das „heimliche Drehbuch“ erlaubt. Denn das Unbewusste ist Chef im Haus! Wenn ich Sie von etwas überzeugen will, das Ihrem „heimlichen Drehbuch“ nicht passt, dann wird es Ihr Bewusstsein anweisen, die wildesten Argumente zu erfinden, um mich zu widerlegen.

Kann gut sein, dass Sie das alles gar nicht glauben. Zumindest nicht für Ihre Person. Sie halten es für undenkbar, dass das, was Sie den ganzen Tag bewusst denken, von einer unbewussten „dunklen Macht“ wie ein heimliches Drehbuch gesteuert sein soll, das sich Ihnen gar nicht zeigt. Das kann ich gut verstehen, mir geht es – mit Bezug auf meine Person – gleich, denn ich bin ja nicht anders gestrickt als Sie. Aber die Forschungsergebnisse hierzu beweisen das Gegenteil. Tut mir leid.

Zwei Methoden sind besonders gut geeignet, um etwas über das „heimliche Drehbuch“ einer Person zu erfahren: Die eine nennt man das Narrative Interview. Da erzählt eine Führungskraft viele Geschichten und Erlebnisse aus ihrer Führungsbiografie, und wenn man die sorgfältig genug analysiert, dann kann man viel über ihr „heimliches Drehbuch“ herauslesen. Narrativ kommt übrigens vom Lateinischen, narrare heißt erzählen.

Die andere Methode ist die Verhaltensbeobachtung. Ohne wissenschaftlichen Anspruch betreiben alle Menschen gegenüber allen anderen (für sie relevanten) Menschen diese Methode ununterbrochen. Und zwar gar nicht mal schlecht. Wir lesen im Verhalten anderer, wie deren „heimliches Drehbuch“ sie steuert – und wir glauben dem mehr als allen mündlichen Beteuerungen, die sie in ihrem bewussten Argumentieren von sich geben. Glücklich also, wer sehr authentisch ist, das heißt mit wenig Diskrepanzen zwischen seinem bewussten Denken und seinem „heimlichen Drehbuch“ leben kann.

Authentisch zu sein ist nicht immer einfach. Für Führungskräfte ist es heutzutage sogar besonders schwierig (und das ist auch der Grund, warum ich Ihnen diese ganze Psychologielehrstunde zumute): Es gibt immer mehr sehr konkrete Erwartungen, wie Führungskräfte ihre Rolle auszufüllen haben. Führungskräfte passen sich diesen Erwartungen auf der Ebene ihres bewussten Denkens an. Damit besteht die Gefahr, dass sie nur noch eine Rolle spielen. Natürlich haben sie eine Rolle zu spielen, aber eben nicht nur. Sie müssten auch persönlich authentisch sein dürfen. Wenn nur noch das Bewusstsein zählt und das eigentlich steuernde „heimliche Drehbuch“ tunlichst heimlich bleiben respektive wo nötig übersteuert werden soll, dann kann man nicht als authentisch erlebt werden. Die Glaubwürdigkeit einer Führungspersönlichkeit wird damit untergraben.

Das Problem wird verschärft durch einen Trend, der eigentlich gar nichts mit unserem Thema zu tun hat: Der Zeitgeist steht auf das Explizite. Heutzutage muss alles irgendwo ausdrücklich gesagt, besser aufgeschrieben werden. Davon zeugen nicht nur Qualitäts­managementsysteme, bürokratische Reportingsysteme, formalisierte Mitarbeitergespräche und uferlose PowerPoint-Präsentationen zu jeder kleinsten Maßnahme, sondern auch, dass Werte und Führungsgrundsätze eher formuliert (und grafisch schön dargestellt) als gelebt werden. Die Musik spielt ausschließlich auf der Ebene des Bewusstseins – das individuelle „heimliche Drehbuch“, das sich dem Bewusstsein ja definitionsgemäß verweigert, gilt da nicht als besonders interessant. Sich ohne explizite Argumente auf Erfahrungen zu berufen, ist daher verpönt. Individuelle Unterschiede stören, eigenartige Persönlichkeiten werden kaum mehr geduldet. Die Folge: Führungskräfte reflektieren ihr „heimliches Drehbuch“ kaum mehr. Wozu auch? Sie versuchen es – wo es sich im Verhalten zu zeigen droht – eher mit „genormtem“ Verhalten zu übertünchen: Sie lernen blitzschnell, wie sie sich ausdrücken müssen, welche Begriffe erwünscht sind, wie man argumentieren muss. Zeitungsinterviews mit Managern sind in den allermeisten Fällen so, als hätte das immergleiche PR-Büro den Text verfasst – von der Persönlichkeit des jeweiligen Managers und dem sie prägenden „heimlichen Drehbuch“ ist nichts Authentisches spürbar. Mir gefällt diese Entwicklung nicht.

Führungsentwicklung kann nur erfolgreich sein, wenn eine Führungskraft ihr Selbstverständnis reflektiert, in dem ihr „heimliches Drehbuch“ zum Ausdruck kommt. Nur so wird sie eine Chance haben, sich als Führungskraft wirkungsvoll weiterzuentwickeln. Anpassungen auf der Ebene des Verhaltens reichen hierfür nicht. Beobachten Sie sich und lernen Sie etwas über Ihr „heimliches Drehbuch“, reflektieren Sie es und bleiben Sie authentisch.

Doch missbrauchen Sie bitte meine Argumentation nicht, um sich vor persönlicher Weiterentwicklung zu drücken. Authentisch sein heißt nicht, seine Fehler für gottgegeben und unabänderlich zu halten.

Führungsbrief 76 – Disziplin

Manchmal werde ich bei Teamentwicklungen oder in Führungsentwicklungsworkshops mit der Frage konfrontiert: „Wie können wir (kann ich) erreichen, dass …?“. Und dann werden Dinge genannt wie „… dass unsere Sitzungen pünktlich beginnen“ oder „ … dass ich die Abgabetermine pünktlich einhalte“ oder dergleichen. Die Frage wird in einem Tonfall gestellt, als gälte es, mit viel Intelligenz eine äußerst innovative Lösung für ein ganz und gar anspruchsvolles Problem zu finden. Dabei geht es oft – und ich rede hier nur von den Fällen – um überhaupt nichts anderes als um Disziplin. Bloß, das will keiner hören. Denn Disziplin ist out.

Wer von Disziplin redet, kann seinen Moralinfinger kaum verstecken. Er wirkt altväterisch-preussisch-oberlehrerhaft-streng, also ziemlich uncool. Wir haben eine gesellschaftliche Phase hinter uns, die Kinder „antiautoritär“ zu erziehen versuchte. Das hats zwar nicht gebracht, aber ein Rückfall in alte Muster kam nicht in Frage. Und so resultierte oft ein profilloses Wischiwaschi. Parallel dazu hat sich ja auch in der Führungswelt eine Ablösung von der autoritären Führung ereignet – Gottseidank! –, aber der Weg zu einer neuen Klarheit wurde noch nicht immer gefunden.

Unter dieser Entwicklung hat auch die Selbst-Führung gelitten: Wie gehe ich mit mir, wie gehen wir mit uns selbst um? Hier gibt es für Disziplin (auch Selbstdisziplin, Willenskraft, Willensstärke genannt) einen nicht zu unterschätzenden Platz.

Was wissen wir aus der psychologischen Forschung darüber?

  • Für das Geheimnis der Lebenszufriedenheit haben Psychologen zwei besonders wichtige Eigenschaften identifiziert: Intelligenz und Selbstdisziplin.
  • Mit seiner Intelligenz muss man sich mehr oder weniger abfinden, an seiner Selbstdisziplin kann man arbeiten.
  • Willenskraft ist eine Kraft – sie braucht Energie, sie kann erschöpft werden und sie kann trainiert werden. Wir können also lernen, uns selbst besser in den Griff zu bekommen.
  • Wenn wir nach unseren persönlichen Stärken gefragt werden, dann nennen wir oft Ehrlichkeit, Güte, Humor, Kreativität, Mut, sogar Bescheidenheit – aber kaum je Selbstdisziplin. Bei einer Befragung von mehr als zwei Millionen Menschen in aller Welt landete die Selbstdisziplin an letzter Stelle der abgefragten „Charakterstärken“. Dafür stand bei den Schwächen die mangelnde Selbstdisziplin ganz oben.
  • Es gibt beruflich wie privat heutzutage mehr Ablenkungen als je zuvor. Es wächst also die Bedeutung der Disziplin, wenn man sich nicht durch allerlei Unwichtiges von seinen eigentlichen Vorhaben abbringen lassen will.
  • Unsere Willenskraft hat Grenzen und wird bei Benutzung geschwächt.
  • Wir benutzen dieselbe Willenskraft für alle möglichen Aufgaben.
  • Die Erschöpfung der Willenskraft – beispielsweise nach einer Reihe von Tätigkeiten, die Willenskraft und Disziplin erforderten – nennt sich fachlich Ego-Depletion (Ego-Erschöpfung) und lässt sich physiologisch messen. Es ist also nicht empfehlenswert, schwierige Entscheide, die viel Willensstärke brauchen, treffen zu wollen, wenn man vorher grad während Stunden für irgendetwas viel Disziplin aufbringen musste: Die Willenskraft ist dann womöglich schon allzu erschöpft.
  • Ohne genügend Glukose im Blut gibt es keine Willenskraft. Füttern Sie die Disziplin! Aber nicht mit Zucker, denn der wirkt zwar schnell, aber nur kurz, und der anschließende Glukosemangel ist umso heftiger. Ich nehme an, Sie kennen die gängigen Ernährungsregeln.
  • Disziplin ist auf realistische Ziele angewiesen. Zumindest auf realistische Zwischenziele. Die Anonymen Alkoholiker nehmen sich nicht vor, nie mehr zu trinken. Sie lernen bloß, „heute das erste Glas stehen zu lassen“.
  • Ihre Willenskraft können Sie an beliebigen Dingen trainieren. Egal, ob Sie sich mit der linken Hand die Zähne putzen oder versuchen, nicht mehr „Äh“ und „Öh“ zu sagen. Training stärkt die Kraft, aber es ermüdet auch.
  • Am wenigsten Energie braucht Disziplin, wenn sie in Gewohnheit übergeführt werden kann. Das zu erreichen, braucht zumindest anfänglich aber viel Disziplin.
  • Manche Tricks, wie wir sie etwa aus den Anleitungen zur persönlichen Arbeitstechnik kennen, helfen beim Trainieren der Disziplin. Dazu gehört auch, sich auf eine Selbstverpflichtung einzulassen oder sich gegenüber Dritten zu verpflichten (für Letzteres gibt es heutzutage schon Apps …).
  • Kontrollieren Sie sich selbst. Stellen Sie sicher, dass Sie jederzeit wissen, ob Sie in den Dingen diszipliniert waren, in denen Sie diszipliniert sein wollten.
  • Sagen Sie niemals nie. Seien Sie nicht absolut. Disziplin ist kein Selbstzweck, sondern eine Kraft, die Sie dann zur Verfügung haben sollten, wenn Sie ihrer bedürfen.
  • Akzeptieren Sie Ihre Grenzen: Nobody is perfect!

In der Arbeitswelt haben/hätten wir es eigentlich viel einfacher mit all diesen Dingen. Denn wir sind unter permanenter sozialer „Überwachung“. Das können wir nutzen. Wenn wir uns gegenseitig darauf verpflichten, gewisse Dinge sehr diszipliniert einzuhalten, dann lässt sich das relativ leicht tun. Man kann eine paradoxe Tatsache feststellen: In Unternehmen, bei denen Sitzungen pünktlich beginnen, ist es ganz einfach, pünktlich zur Sitzung zu erscheinen – und umgekehrt.

Es gibt jedoch ein großes Aber: Nichts aus der Forschung zur Disziplin erklärt, weshalb wir X oder aber eben Y wollen. Es wird lediglich erklärt, was es braucht, um mit Willensstärke und Selbstdisziplin dranzubleiben, wenn wir ein bestimmtes Ziel erreichen wollen. Woher das Ziel oder Motiv kommt, bleibt dabei völlig ungeklärt.

Für unseren Kontext heißt das: Wenn Sie etwas wirklich durchsetzen wollen und wenn Sie dazu „nur“ hinreichende Selbstdisziplin brauchen – dann lässt sich dies erreichen. Nicht allzu leicht vielleicht, aber es ist mit der nötigen Übung möglich. Wenn Sie sich die Mühe der Übung und des Trainings der erforderlichen Willenskraft aber nicht machen, dann ist zu bezweifeln, dass Ihnen das angestrebte Ziel wirklich wichtig ist. Dann ist es wohl eher ein „Man sollte …“ als ein „Ich will …“ respektive „Wir wollen …“. In dem Fall wird die Sache also noch viel einfacher: Streichen Sie das Ziel! Denn es ist Ihnen die Mühe offenkundig nicht wert.

Damit wir uns richtig verstehen: Es kann nicht darum gehen, eine Unternehmenskultur der militärischen Kultur herbeizudrillen. Das wäre öde. Doch wenn Sie ein Ziel erreichen wollen, für das man nur Disziplin braucht, dann suchen Sie nach keiner anderen Lösung. Für diesen Fall aber sollte Ihre Willenskraft hinreichend trainiert sein. Alles andere endet in Frust, Enttäuschung und geistigem Muskelkater.

Führungsbrief 75 – Regenschirme

In Führungsentwicklungsseminaren lassen wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer manchmal ein Bild ihrer Führungssituation zeichnen. Ich habe es schon einmal berichtet hier: Jede/r kriegt einen großen Papierbogen und vier Farben Filzstifte. Ob man Führung nach unten oder seitlich oder oben oder außen versteht, ist egal – Hauptsache, man zeichnet die Dinge, die einen führungsmäßig beschäftigen. Vor allem bei unteren Kadern ist nun eines der am häufigsten gezeichneten Motive die Führungskraft selbst, die einen großen Regenschirm über ihr Team hält und so ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor all dem Mist schützt, der von oben auf sie einprasselt.

Etwas irritiert reagieren die Leute, wenn ich sie bitte, sich in die Lage der obersten Geschäftsleitung zu versetzen. Deren Aufgabe ist es ja, das Unternehmen zu führen. Dazu ergreift sie Maßnahmen, die im Prinzip im ganzen Unternehmen wirksam werden müssten und oft bis ganz zuunterst in der Hierarchie gelten sollten. Ihr wichtigstes Instrument, um dies zu tun, ist die ganze Hierarchie von Führungskräften – von zuoberst bis zu den Teamleitern zuunterst. Und nun realisiert diese Geschäftsleitung plötzlich, dass sie Gas gibt und Gas gibt und dass aber irgendwer zuunterst im Kader seine Hauptaufgabe darin sieht, heimlich auf die Kupplung zu drücken, so dass der Motor zwar lärmt und heult und die Drehzahl hoch ist – aber kein einziges PS auf die Straße kommt!

Solche Kupplungstreter gibt es auf verschiedenen Ebenen, bei den Teamleitern dürften sie aber insofern am häufigsten vertreten sein, weil denen ja nicht mehr Führungskräfte, sondern „normale“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstellt sind. Nicht selten schätzen diese es dann auch außerordentlich, von ihrem Chef auf diese Weise beschützt zu werden. Und sie schenken ihrem Teamchef dafür auch ihre wärmste Zuneigung.

Aber kann dies Führungsaufgabe sein?

Nein. Regenschirme aufspannen ist keine Führungsaufgabe. Zwar darf es auch nicht sein, dass Führungskräfte alles, was von oben kommt, einfach unverändert weitergeben. Denn sonst braucht es diese Führungskräfte – als reine Durchlauferhitzer – gar nicht. Auch das habe ich schon früher erwähnt. Aber ich sage „unverändert“, nicht „ungefiltert“! Nicht filtern ist ihre Aufgabe, sondern verdeutlichen, verständlich machen, konkretisieren, auf den Einzelfall beziehen, begründen, erklären, einbetten in größere Zusammenhänge usw.

Und da zeigt sich nun, dass diese Aufgabe gerade für die unterste Führungsstufe am allerschwierigsten ist. Denn da sind die einzigen Führungskräfte, die sich auf niemanden weiteres verlassen können und die als Einzige noch alle Fehler korrigieren können (und sogar müssen), die kommunikativ weiter oben gemacht worden sind.

Was ist die Führungsaufgabe von Teamleiterinnen und Teamleitern?

  • Zielorientierte Führung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das bedeutet nicht bloß, von oben vorgegebene Ziele nach unten durchzureichen. Es ist auch nicht mit dem formalistischen Abspulen des jährlichen Zielvereinbarungsprozesses getan. Ich denke auch nicht an eine Befehlsausgabe. Aber es reicht auch nicht, darauf zu setzen, dass die Leute von selbst wissen, was zu tun ist (weil es ja Aufgabenbeschreibungen, Prozessdefinitionen, Vorschriften und vieles mehr gibt). Vielmehr ist es die Aufgabe der Führungskräfte, dafür zu sorgen, dass die Leute verstanden und akzeptiert haben, was sie zu tun haben und warum. Und dass ihnen klar und für sie nachvollziehbar ist, woran die Zielerreichung zu beurteilen ist.
  • Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Führungskräfte müssen dafür sorgen, dass ihre Leute das richtige Wissen und Können, die geeigneten Mittel und Bedingungen sowie den optimalen Handlungsspielraum haben, um eine gute Leistung erbringen zu können. Es reicht nicht, auf die Ausbildungsabteilung und die IT zu zählen (respektive zu warten). Man kann nicht bloß auf die guten Rekrutierungsleistungen der Personalverantwortlichen warten. Vielmehr geht es darum, Stärken und Schwächen seiner Leute gut zu kennen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dementsprechend einzusetzen und ihnen gezielt Möglichkeiten zu verschaffen, sich kontinuierlich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln.
  • Systementwicklung. Teamleiterinnen und Teamleiter können am allerbesten beurteilen, wo die Organisation (Strukturen wie auch Prozesse) suboptimal ist und wie sie verbessert werden könnte. Zumindest dann, wenn sie nahe genug bei ihren Leuten sind, um zu wissen, wo deren Probleme liegen. Für kontinuierliche Verbesserungen müssen sie sich als Vorgesetzte gegen oben immer wieder stark machen.
  • Grenzregulation. Führungskräfte auf Teamstufe müssen dafür sorgen, dass sich die Schnittstellen zu anderen Teams und Organisationseinheiten möglichst reibungsfrei gestalten. Es ist ihre Aufgabe, aus Schnittstellen – die immer potenziell konfliktträchtig sind – Kooperationspunkte zu machen.

Diese vier allgemeinsten Führungsaufgaben gibt es zwar auf jeder Führungsstufe. Auf der untersten Führungs­ebene stellt sich aber die besonders schwierige Herausforderung, sie so zu erfüllen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den dahinterstehenden Sinn verstehen und nachvollziehen können.

Das ist keineswegs einfach. Denn tatsächlich erleben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel von dem, was von oben kommt, einfach als „Mist“. Zu erkennen, dass dieser Mist vielleicht Düngemittel ist, zu sehen, was denn hier eigentlich gedeihen soll, mehr über all das zu wissen als die „einfachen“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – das ist echte Führungsarbeit.

Dass von oben manchmal auch Dinge kommen, deren Sinn sich selbst Führungskräften nicht unmittelbar erschließt, ist freilich unbestritten. Dann aber ist es ihre Pflicht, so lange nachzuhaken, bis sie entweder den Sinn erkennen – oder aber, bis ihre Vorgesetzten wiederum erkennen, dass etwas anderes sinnvoller wäre. Nicht jeder Mist ist Düngemittel. Und wenn er nur auf dem Weg statt auf der Wiese liegt, sowieso nicht.

Bloß ist eben aus der Optik „unten“ längst nicht immer das Gleiche sinnvoll wie aus der Optik von „oben“. Strategisch kann etwas sinnvoll und notwendig sein, das operativ eine echte Erschwernis ist (das gilt zum Beispiel für die meisten Sparübungen). Umso wichtiger ist es dann, die lange Brücke zwischen strategischem Sinn oben und den vielleicht unbequemen operativen Auswirkungen unten schlagen zu können.

Wenn es Teamleiterinnen und Teamleitern gelingt, ihren Leuten in Bezug auf vermeintlichen Mist überzeugend Sinn zu vermitteln, dann haben sie diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eine viel nachhaltigere Weise wetterfest gemacht, als wenn sie nur einen Regenschirm über ihren Kopf aufspannen.

Ach, und eine Frage wäre da noch: Ob all die mittleren, oberen und obersten Kader auch wirklich wissen, in welcher „Last-man-standing“-Position sich ihre Teamleiterinnen und Teamleiter zuunterst in der Hierarchie befinden – und welche Unterstützung sie ihnen darin eigentlich geben müssten?

Führungsbrief 74 – Entscheide erleben

Mein Lieblingssoziologe, Niklas Luhmann, hat eine eigene Systemtheorie entwickelt, der zufolge sich Systeme durch jeweils genau eine Operation definieren. Organisationen zum Beispiel definieren sich dadurch, dass sie Entscheide prozessieren. Prozessieren bedeutet hier: Entscheide werden vorbereitet, herbeigeführt, gefällt, kommuniziert, umgesetzt, vielleicht revidiert oder umgestoßen. Das ist das Kerngeschäft von Organisationen respektive die Kernaufgabe des Managements. Kein Wunder also, dass in den bisherigen Führungsbriefen das Wort „Entscheid“ durchschnittlich gut zweimal pro Brief vorkommt.

Wir können in der bunten Welt der betrieblichen Organisationen (Politik zum Beispiel klammere ich mal aus) vier Arten, Entscheide zu treffen, unterscheiden. Diese vier Arten werden von den Betroffenen unterschiedlich erlebt. Und aufs Erleben kommt es an (zumindest, wenn wir mit Entscheiden auch Menschen bewegen wollen)!

Da ist zunächst die (kardinals-) rote Art des päpstlichen Entscheids. Die gibt es nicht nur in Rom, sondern auch anderswo. Wenn Papst Benedikt oder Papst Brady oder Papst Andreas oder Papst Steve entschieden haben, dann ist entschieden. Jeder in der Organisation weiß und akzeptiert das. Mit dem Entscheid mag man nicht immer glücklich sein, aber man weiß, woher er kommt. Und man weiß, dass er gilt.

Dann gibt es die (uniformen-) grüne Art des militärischen Entscheids. Die gibt es nicht nur in der Armee (in Friedenszeiten übrigens gerade dort am allerwenigsten, aber das ist ein anderes Thema), sondern auch in der Hierarchie der Ärzte oder bei Piloten und Schiffsbesatzungen. Hier gibt es eine glasklare „line of command“, und jeder kennt seinen Platz darin und hält sich daran. Hinterfragen zählt nicht. Insubordination ist sträflich. Das ist nicht immer angenehm, aber immer entlastend.

Weiter gibt es die (nebel-) graue Art des anonymen Entscheids. Diese ist heutzutage weitverbreitet in den Unternehmen. Sie ist auf einem pseudodemokratischen Zeitgeist gewachsen und besteht darin, dass niemand erkennbar ist, der den Entscheid gefällt hat. In der Fachsprache redet man von Emergenz: Entscheide emergieren, das heißt, sie tauchen aus dem Nirgendwo auf und sind plötzlich da. Die Dinge werden auf verschiedensten Ebenen hin und her erörtert und plötzlich scheint nur noch eine Option übrig zu bleiben, so dass man die für den gefällten Entscheid hält. Vielleicht sah man auch bloß keine Alternative. Es ist weder ein Mehrheitsentscheid noch ein Chefentscheid, sondern bestenfalls eine Art von Konsens. Schlechtestenfalls aber ist es eher ein Nicht-Entscheid oder – nicht selten – ein Ermüdungsergebnis.

Es sind diese grauen Entscheide, die den Menschen in den Organisationen Mühe machen. Man ist ihnen ausgeliefert wie den roten oder grünen – aber man kann sie im Unterschied zu diesen nicht sauber adressieren. Das bedeutet, dass man sie auch nicht einklagen kann. Und man findet längst nicht immer jemanden, der sie einem erläutern kann. Das gibt ein Gefühl der Hilflosigkeit und den Eindruck, „die da oben“ würden gar nichts entscheiden.

Dass die grauen Entscheide weitverbreitet sind, liegt auch daran, dass sich Manager heutzutage für alles verantworten müssen, selbst für Entscheide, die sie gar nicht getroffen haben. Und manch ein Entscheid wird heute bejubelt, morgen aber schon verteufelt. Und all das in einer erbarmungslosen externen Öffentlichkeit, die es früher so nicht gab. Kein Wunder, wenn sich manch einer anonym hinter grauen Nebelschwaden verstecken möchte.

Der Zeitgeist scheut sich vor „Ich“-Entscheiden. Auch die roten und die grünen Entscheide sind bei genauer Betrachtung nämlich keine. Die roten (päpstlichen) werden häufig viel weiter unten getroffen, aber man trifft sie im Namen respektive im Geiste des Oberhirten. Die grünen (militärischen) werden oft als Gehorsam gegenüber noch weiter oben – und damit auch nicht als persönlich zu verantworten – deklariert. Beide berufen sich aber auf eine höhere Macht (Religion, Gesetz, Vorschriften usw.) und werden deshalb weitgehend akzeptiert.

Führungskräfte aber hätten die Aufgabe, Entscheide als Personen zu treffen. Nur tun sie (oder zumindest viele von ihnen) das offenbar ungern. Selbst wenn sie eine glasklare Meinung haben, richten sie häufig eine Art von Partizipation oder Quasidemokratie ein und hoffen, das Ergebnis der Debatte stimme mit ihrer Ansicht überein. Unnötig zu sagen, dass sie die Beteiligten frustrieren, sobald diese merken, dass der Beteiligungs- oder Mitspracheprozess so lange fortgesetzt wird, bis sie ganz zwanglos zur Meinung des Chefs gelangt sind …

Oder, auch sehr beliebt, Führungskräfte drücken sich vor persönlichen Entscheiden, indem sie beklagen, sie hätten keine oder zu wenig oder zumindest keine klare Entscheidungskompetenz.

Natürlich plädiere ich hier nicht für selbstherrliche „Ich“-Entscheide. Aber ich votiere für eine vierte Farbe, nämlich für (scheinwerferlicht-) weiße Entscheide. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass – zumindest intern – klar ersichtlich wird, wie sie zustande gekommen sind und wer sie verantwortet.

  • Ein GL-Mitglied sagt dann nicht mehr bloß „Die GL hat entschieden, dass …“, sondern fügt bei, wie es selbst dazu steht.
  • Ein CEO macht klar, ob er selbst entschieden hat oder ob er eine Mehrheit der GL hinter sich haben wollte (und andernfalls nicht so entschieden hätte) oder ob er auf einem Konsens bestanden hat.
  • Subalterne Führungskräfte verdeutlichen, ob etwas ihr Entscheid (und ihre Kompetenz) war oder ob sie höhere Entscheide ausführen respektive weitergeben (müssen).
  • Gremien oder Projektgruppen nennen explizit, auf welchem Modus ihr Entscheid basiert: Auf Abstimmung oder Konsens oder Chefentscheid.
  • Protokolle, soweit vorhanden, enthalten immer auch eine eindeutige Verantwortlichkeit zu den getroffenen Entscheiden und erwähnen die Regel, nach der der Entscheid zustande gekommen ist.

Was mir also vorschwebt, ist das genaue Gegenteil von dem, was wir vor Jahren bei einem Kunden erlebt haben. Der dortige Geschäftsführer (damals gab es in der Schweiz noch keine CEOs) pflegte die Diskussionen derart ungeführt laufen zu lassen, dass schließlich völlig unklar war, wer welche Meinung vertrat und was denn nun zu tun sein. Auf dem jeweiligen Höhepunkt der Verwirrtheit sagte er fröhlich und mit mannhafter Stimme: „Also mameseso!“ (zu Deutsch: Machen wir es so!). Damit war die Sitzung aufgehoben, alle zerstreuten sich, und keiner wusste, was denn nun entschieden worden war. Das hat unschätzbare Vorteile, denn keiner kann zur Verantwortung gezogen werden, nie ist jemand schuld und alle machen weiterhin, was sie wollen. Es hat freilich den klitzekleinen Nachteil, dass das Unternehmen so nie vorankommt.

Eine weiße Entscheidkultur hat dagegen den Vorzug, dass alle wissen, woran sie sind. Das fördert nicht nur die Akzeptanz von Entscheiden, es schafft sogar Glaubwürdigkeit von Entscheiden, die von der eigenen Meinung abweichen. Und darüber hinaus gestattet eine weiße Entscheidkultur, im Bedarfsfall einen Entscheid umzustoßen und abzuändern, ohne dass damit „die da oben“ gleich das ganze Vertrauen in ihre Führungsfähigkeit verspielen. Klüger werden darf man nämlich. Nur herumeiern sollte man nicht. Entscheide sind immer nur so gut, wie sie als glaubwürdig erlebt werden.

Stellen Sie sich und Ihr gesamtes Management vor einen Spiegel: In welcher Farbe werden die Entscheide, die bei Ihnen getroffen werden, von Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erlebt?

Führungsbrief 73 – Handlanger

Handlanger, sollte man meinen, gibt es praktisch nicht mehr. Selbst Arbeitskräfte ohne formelle Ausbildung werden heute innerbetrieblich ausgebildet oder angelernt. Handlanger, wie sie früher gang und gäbe waren, sind von der Bildfläche verschwunden. Könnte man denken.

Doch dieser Eindruck täuscht. Die Handlanger von heute sehen nämlich nur anders aus als früher. Sie tragen Krawatte oder Deuxpièces. Man nennt sie Führungskräfte. Und sie verdienen auch mehr als frühere Handlanger.

Dass ich sie (Sie?) als Handlanger bezeichnen muss, ist zwar bedauernd, aber nicht etwa despektierlich gemeint und hängt mit folgender Entwicklung zusammen: In den Unternehmen ist ein gigantischer Wandel im Gang, den man je nach Optik als Bürokratisierung oder McDonaldisierung oder Mechanisierung bezeichnen kann.

Der erste Begriff verweist darauf, dass Unternehmen heute immer mehr in übergeordnete Vorschriften und Regelungen eingebunden sind. Ob die aus (z.B. EU-) Normen oder aus Qualitätsvorschriften oder aus einer zunehmenden Regulierung im Interesse der „Good Corporate Governance“ resultieren, macht keinen Unterschied.

Der zweite Begriff verweist darauf, dass vor allem große Unternehmen wollen, dass ihre Produkte und Dienstleistungen auf stets gleichbleibendem Niveau angeboten werden. Ein McDonald’s-Laden ist ein McDonald’s-Laden ist ein McDonald’s-Laden – weltweit. Ein Apple-Händler in der Schweiz bekommt aus Cupertino auch noch das letzte Detail seiner Ladengestaltung vorgeschrieben.

Der dritte Begriff verweist darauf, dass man mittels weitestgehender Computerisierung und detailliertester Prozessdefinitionen auf einen Zustand hinstrebt, der die ganze Organisation als eine einzige große Maschine begreift, die möglichst auf Knopfdruck zu laufen hat.

Führungskräfte sind die Handlanger nicht etwa von jemandem (z.B. ihrem Chef), sondern sie sind die Handlanger dieser Tendenzen. Sie sind das Schmieröl in der Maschine. Sie setzen die Regelungen um und die Vorgaben durch, und sie beseitigen Störungen. Sie sind überaus funktional für Effizienz wie auch Effektivität des Ganzen. Aber sie gestalten (es) nicht mehr.

„Erfunden“ werden die Regelungen und Vorgaben sowie das Design der unternehmerischen Großmaschine von wem auch immer. Aber nicht von den betroffenen Führungskräften selbst. Nur bezogen auf Einzelheiten kann man manchmal den/die Urheber angeben, aber das Insgesamt dieses Wandels ist „systemisch“, also meist nicht mehr persönlich adressierbar. Es geschieht einfach. Wir können nur mitmachen. Als Handlanger. Wenn auch mit Krawatte oder Deuxpièces.

Wenn Ihnen diese Sicht zu pessimistisch erscheint, wenn Sie darin sich selbst sowie Ihr Unternehmen nicht (oder noch nicht?) zu erkennen vermögen, so schauen Sie sich doch einmal als normale/r Zeitungsleser/in in Ihrem Alltag um:

  • Die Börsen werden nicht von Händlern, sondern (inzwischen bereits zu zwei Dritteln) von Computerprogrammen bewegt. Auch und gerade in den wilden Berg- und Talfahrten.
  • Alles, was Unternehmen „erfinden“, um sich von ihren Wettbewerbern zu differenzieren, folgt einer genau identischen Logik. Alle hören (pro Markt/Branche natürlich) von den gleichen Beratern die gleichen Vorschläge und rennen somit parallel in die gleiche Richtung.
  • Führungskräfte sind überwiegend damit beschäftigt, zwischen dem Druck, der von verschiedensten Seiten auf sie einwirkt, nicht aufgerieben zu werden. Sie sind vornehmlich reaktiv, kaum je aktiv. Sie gestalten nicht, sondern sie versuchen, Begründungen für Zwänge zu finden und zu geben und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu zu bewegen, sich diesen Zwängen zu unterziehen.
  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind nicht mehr freundlich zu Kunden, weil sie persönlich so sind oder weil ihre Vorgesetzten sie dazu geführt haben, sondern sie spulen am Telefon die standardisierten Floskeln herunter, die man ihnen vorgeschrieben hat. Und zwar so schnell, dass ich von ihrem „Firma XY, mein Name ist NN, was kann ich für Sie tun?“ meist gar nichts verstehe.
  • Und wenn Sie selbst als Kunde mal eine Reklamation anbringen wollen, dann erhalten Sie zwar detaillierteste Begründungen und Beschreibungen interner Prozesse, Abläufe, Vorschriften, Normen und Regelungen – aber sicherlich keine Hilfe.

So weit, so unerfreulich.

Aber nun kommt hinzu, dass immer mehr Führungskräfte (vor allem aus dem Top-Management) beklagen, ihre Führungskräfte würden viel zu wenig führen. Und Leute wie ich stoßen ins gleiche Horn und rufen unbeirrt und ununterbrochen danach, Führungskräfte müssten führen.

Also wie nun? Zuerst degradieren wir Führungskräfte zu Handlangern in einer bürokratisierten, mcdonaldisierten, mechanisierten Maschine, wo sie als Maschinengehilfen Störungen beheben, Reibungen vermindern und Vorgaben umsetzen sollen – und dann rufen wir entrüstet aus: „Ja, nun führen Sie doch mal endlich!!!“

Führung braucht Handlungsspielraum. Handlungsspielraum bedeutet nicht die Freiheit, die Dinge genau so zu tun, wie sie vorgeschrieben sind. Handlungsspielraum bedeutet, Dinge mindestens innerhalb gesetzter, aber nicht zu enger Bandbreiten nach eigenen Überzeugungen gestalten zu können.

Wir sollten uns entscheiden, was wir von den Führungskräften erwarten. Und wenn wir beides gleichzeitig erwarten – mal reaktiver Handlanger und mal aktiv Führender –, dann müssen wir uns gut überlegen, wie wir Führungskräfte in diesem schwierigen Balance-Akt unterstützen können. In den herkömmlichen Führungs­entwicklungshandbüchern steht das bislang noch nicht.

Komplizierend kommt hinzu, dass Sie alle ja nicht nur Opfer dieser Handlanger-Entwicklung sind. Sie sind öfters auch Täter. Denn wenn es eingangs so schön hieß, dieser Wandel sei „systemisch“, so ist damit nicht gemeint, dass ihn keiner vorantreibt, sondern vielmehr, dass letztlich jeder daran mitspielt. Auch Sie. Manchmal, indem Sie Ihre Leute in die Rolle von Handlangern drängen, die gefälligst bloß eine mechanische Maschine reibungslos am Laufen zu halten haben. Manchmal aber auch, indem Sie Ihren eigenen verbleibenden Handlungsspielraum gar nicht mehr sehen und sich selbst auch dort noch zum Handlanger degradieren, wo das gar niemand von Ihnen erwarten würde.

Nehmen Sie sich den größtmöglichen Handlungsspielraum! Und geben Sie Ihren Leuten den größtmöglichen Handlungsspielraum! Tragen Sie mit ein wenig Mut und etwas Fantasie dazu bei, die Bürokratisierung zu bremsen! Die große Maschine verhindern Sie damit nicht. Aber wenn Sie in Ihrer Jugend ein Töffli besaßen, wissen Sie: Auch eine Maschine muss man manchmal frisieren.

Führungsbrief 72 – Schlechte Stimmung

Seit Längerem verfolgt mich ein Phänomen – nicht immer, aber immer öfter: Ich bin bei irgendeinem Kunden und treffe dort auf dem Flur den einen oder die andere aus dem Kader, den/die ich kenne. Führungskräfte also, mit denen ich in dem Moment nicht verabredet bin, so dass man nur ein bisschen Smalltalk macht. Binnen weniger Minuten sagt mir diese Führungskraft, meist mit besorgter Miene, die Stimmung im Unternehmen sei schon seeehr schlecht. Ich frage dann nach, was wie wo wann. Dann lautet die Präzisierung in aller Regel, generell sei die Stimmung schlecht. Die Ursache liege bei der obersten Führung (sprich: Geschäftsleitung), weil die ja nichts entscheide oder warum auch immer. Und nein, in seinem/ihrem eigenen Team sei die Stimmung ansonsten sehr gut.

Mich erinnert das an Untersuchungen, die gezeigt haben, dass mehr als 80% der Autofahrer überzeugt sind, sie würden besser als die allermeisten anderen fahren. Oder dass fast 90% der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen von sich sagen, ihre Leistungsbereitschaft und ihre Leistung lägen deutlich über dem Durchschnitt in dieser Firma …

Wie kann es sein, dass in der ganzen Firma die Stimmung schlecht ist – außer gerade im Team jener Führungskraft, die ich zufällig auf dem Flur treffe – und das noch jedes Mal, egal, mit wem ich spreche?

Betrachten wir einmal die Psychodynamik hinter diesem Phänomen. Sie verbindet vier beliebte psychologische Mechanismen:

  • Verantwortungsabschiebung: Sollte etwas nicht gut sein, dann sind die da oben (in der Geschäftsleitung) verantwortlich. Mit mir hat das nichts zu tun.
  • Erfolgsselbstzuschreibung: Meine eigene Führung ist super. Deshalb ist in meinem Team die Stimmung ja auch gut – trotz der schlechten Großwetterlage in der ganzen Firma.
  • Versteckter Appell: Lieber Unternehmensberater, du bist ja sicher grad auf dem Weg zum CEO oder in die GL. Bitte mach doch denen mal Dampf unterm Hintern, so dass ab morgen alles besser wird.
  • Mitleidserheischung: Siehst du eigentlich, wie schwer wir es hier haben? Tja, es wäre schon alles anders, wenn ich in der GL wäre …

Irgendwie bezweifle ich, dass dies die reifen Reaktionsweisen einer Führungskraft sind, wie man sie im Management erwartet. Insbesondere, da jede Führungskraft von sich behaupten würde, sie würde nie jammern. So wie ja auch nie jemand Gerüchte weiterverbreitet ...

Natürlich dient Jammern primär der eigenen Psychohygiene. Aber das gibt Führungskräften noch nicht das Recht zu jammern, denn als Führungskraft hat man eine Verantwortung für die Stimmung im Unternehmen. Stimmungen werden beeinflusst dadurch, ob jemand die Stimmung als gut oder eben als schlecht „besingt“. Stimmungen werden sogar dadurch geschaffen.

In Grenzen natürlich, denn ich mag den amerikanischen „Yes, we can“-Gesundbetungsstil nicht, bei dem Menschen auch bei einer Krebserkrankung oder sonst einem schlimmen Ereignis primär die Chancen und Herausforderungen sehen sollen. Was Mist ist, ist Mist. Fertig. Ich will also weder aufs Gesundbeten noch aufs Rosamalen hinaus. Aber eben auch nicht aufs Krankjammern und Schwarzmalen.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dürfen meines Erachtens immer und überall ihre eigene Stimmung akkurat so beschreiben, wie sie sie empfinden. Aber nur ihre eigene. Nicht die Stimmung des „man“ oder – als ob sie es beurteilen könnten – die Stimmung „aller“. Führungskräfte dagegen sind in einer Rolle. Immer. Das schließt ein, dass sie nicht einfach jedem gegenüber sagen können, was sie jetzt grad finden. Sondern sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass die eigenen Äußerungen Führungswirkung haben. Und die haben sie zu verantworten. Denn mit ihren Äußerungen zur Stimmung prägen Führungskräfte eine Stimmung aktiv mit.

Auch wenn ich nun ein wenig mit dem Moralinzeigefinger gewedelt habe: Es gibt nicht nur aus der Optik von „oben“ Argumente gegen diese Jammerei. Ich bin überzeugt, dass jammernde Führungskräfte immer auch selbst unter den Kollateralschäden ihrer Jammerei leiden. Sie merken nur nicht, dass sie einen Teil der schlechten Stimmung, die sie wahrzunehmen glauben, selbst erzeugt haben. Aber sie finden sich dann wieder in der Rolle des vergeblichen Trösters. Und genau das müsste nicht sein, wenn sie nicht ständig schlechte Stimmung herbeireden würden.

Interessanterweise ist es nämlich so, dass die Stimmung „objektiv“ gar nie über längere Zeit bei allen gleichermaßen schlecht sein kann. Zwar besingt man durchaus gerne gemeinsam, was alles zu beklagen sei – aber dieses solidarische Klagen wirkt schon fast wie ein Stimmungsaufheller! Freilich gilt dies nur unter seinesgleichen. Von seinem Kapitän will man nun wirklich nicht hören, dass das Schiff vermutlich nächstens untergehen werde.

Ich habe mir angewöhnt, mir das Jammern der Führungskräfte auf dem Flur mit einem höflichen Seufzer anzuhören – und es dann gleich wieder zu vergessen. Früher fragte ich manchmal explizit nach, ob ich denn nun mit dem CEO (oder sonst einem Angeklagten) reden solle. Die Antwort war ausnahmslos: Nein, nicht nötig. Was besagt: Du willst mir doch nicht etwa den Anlass meines Jammerns wegnehmen? Nee, würd ich nie tun!

Ich hoffe, solche Führungskräfte haben wenigstens das Talent der Handwerker und Bauern, die seit jeher gelernt haben zu klagen, ohne zu leiden. Aber ich habe auch da meine Zweifel.

Was ich jedoch befürchte, ist, dass es den Dauerjammerern irgendwann geht wie dem Spaßvogel, der immer wieder „Feuer, Feuer“ schreit. Wenn es dann wirklich mal brennt, dann hört keiner mehr auf seine Hilferufe.

Und da hört der Spaß eben auf. Wenn eine oberste Führung angesichts eines dauernden, unspezifischen, undifferenzierten, nicht belegten Jammerns so weit ermattet, dass sie nichts mehr von der Stimmung im Land wissen will, dann nimmt ein Unternehmen echten Schaden.

Führungskräfte täten also gut daran, die Stimmung bei ihren Leuten sorgfältig zu beobachten. Wenn sie ein Absinken der Stimmung feststellen, dann sollten sie sich fragen, was sie dagegen tun können. Wenn sie selbst nicht mehr weiterwissen, so müssten sie der Sache so weit auf den Grund gehen, dass sie nachher wüssten, zu wem sie gehen und was sie von dem fordern sollten, um die Stimmung wieder zu verbessern.

Die Stimmung im Land wird nicht vom Bundesrat gemacht. Aber der Bundesrat ist die Projektionsfläche für alle Klagen am Stammtisch.

Im Unternehmen ist das analog. Nur ist da nicht vorgesehen, dass Sie als Führungskraft am Stammtisch sitzen.

Führungsbrief 71 – Wozu statt warum

Wie gewinnen Sie Ihre Leute für Veränderungen? Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass Kommunikation und Information nicht die schlechtesten aller Mittel sind. Dennoch bleibt der gewünschte Überzeugungseffekt nicht selten aus. „Allein, mir fehlt der Glaube“, brummen manche. „Ja, aber …“, sagen die meisten. „Nein“, denken fast alle. Kurzum – Sie reden sich den Mund fusselig, und wenn denn alles nichts nützt, dann verzichten Sie halt auf das begeisterte Mitziehen Ihrer Leute, setzen Ihren Entscheid (oder den Ihrer Chefs) per Order de Mufti durch und hoffen darauf, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Zeit schon an die Neuerung gewöhnen werden. Was sie ja dann auch meistens tun.

Sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirklich so uneinsichtig oder stur oder veränderungsresistent, dass man sie nicht mit guten Argumenten überzeugen kann?

Ich glaube nicht. Ich glaube eher, dass die Argumentationskette nicht immer geschickt gewählt ist. Zu oft setzt man darauf, Gründe für Veränderungen zu nennen, statt ihren Zweck aufzuzeigen. Man beantwortet also die Warum-Frage, statt sich auf die Wozu-Frage zu konzentrieren. Antworten auf das Warum haben in unserem Kontext aber gravierende Nachteile, Antworten aufs Wozu erhebliche Vorzüge:

„Warum?“

  • Antworten auf die Warum-Frage können nie vollständig sein; zumindest kann man immer vermuten, es stecke doch sicherlich noch „etwas ganz anderes dahinter“. Dieser Zweifel kann kaum ausgeräumt werden.
  • Tatsächlich steckt immer noch mehr dahinter. Zwar kann es einen objektiven Grund für – sagen wir – eine Reorganisation geben. Aber es kann gleichzeitig auch sein, dass man – etwa weil man neu in der Verantwortung steht – zeigen will, dass man die Dinge entschlossen anpackt. Oder dass man selbst gewinnt durch die angestrebte Lösung – sei es Macht, Einfluss, Reputation.
  • Gründe für eine Maßnahme „gehören“ primär dem, der die Maßnahme anstrebt. Grund und Motiv sind ja letztlich identisch. Ein Nachteil daran ist freilich, dass sich diese Gründe höchstens zufällig mit den Motiven der Betroffenen decken.
  • Gründe liegen in der Vergangenheit. Sie sind daher nicht mehr gestaltbar.
  • Ein objektiver Grund zwingt eigentlich zum Handeln. Er lässt uns keine Wahl.

„Wozu?“

  • Zwecke von Maßnahmen können auch für diejenigen nützlich sein, die die Maßnahmen nicht selbst initiiert haben.
  • Zwecke liegen in der Zukunft. Sie sind also gestaltbar.
  • Ein überzeugender Zweck kann überaus attraktiv sein – ohne dass man sich zu irgendetwas gezwungen fühlte.

Wir könnten unsere Unterscheidung auf die kurze Formel bringen: Gründe zwingen – Zwecke locken.

Damit Sie sich auf das Prinzip „Wozu statt warum“ einlassen können, müssen Sie sich von zwei Dingen verabschieden. Das eine ist die Auffassung, in einer hierarchischen Organisation sei es letztlich egal, ob die Leute verstehen, wozu sie etwas tun oder lassen müssen. Sie sollen es halt einfach tun. Das klappt deshalb häufig nicht, weil der Teufel bekanntlich im Detail steckt. Wenn jemand eine Vorgabe umsetzt, deren Zweck er nicht einsieht, dann wird er die Details kaum zweckdienlich ausgestalten. Das Resultat wird Sie selten zufriedenstellen. Das zweite ist die Auffassung, persönliche Motive dürften im betrieblichen Handeln keine ausschlaggebende Rolle spielen. Diese Auffassung ist gleichzeitig falsch, naiv und dumm: Falsch, weil auch fremde Motive erst dann zum Handeln veranlassen, wenn sie persönlich geworden sind (also übernommen wurden); naiv, weil die Erfahrung überdeutlich zeigt, wie oft Ego, Gier, Eigennutz oder Neid die wahren Treiber sind; dumm, weil man sich damit die Chance vergibt, Dinge gerade dadurch zu bewegen, dass man die Kraft der persönlichen Motive zulässt und so – absolut im Interesse des Unternehmens – nutzt.

Kurzum:

  • Zeigen Sie bei einer Veränderung auf, was Sie damit bezwecken.
  • Geben Sie den Betroffenen die Chance herauszufinden, welchen ganz und gar persönlichen Nutzen sie selbst davon haben könnten, wenn dieser Zweck erreicht wird.
  • Verzichten Sie wenn immer möglich darauf, über Gründe zu reden. Sprechen Sie höchstens über Anlässe – also Ereignisse oder Veränderungen im Umfeld, die Sie veranlasst haben, etwas in Frage zu stellen und neue Ideen zu entwickeln, die unternehmerisch zweckdienlich sind.
  • Stehen Sie im Bedarfsfall lieber zu persönlichen (durchaus auch egoistischen) Gründen, die für Sie mitspielen. Leugnen ist kontraproduktiv. Authentizität ist glaubwürdig.

Funktionieren tut dies aber alles nur dann, wenn Sie in der Lage sind, als Chef/in zu sagen: „Ich will!“. Weder „Wir müssen“ noch „Auch alle anderen tun das“. Denn es ist ja letztlich immer willkürlich, welchen Zweck man als erstrebenswert auswählt.

Managen kann man auch ohne „Ich will!“. Projekte leiten oder Prozesse gestalten kann man auch ohne „Ich will!“. Sachbearbeiter/in sein und Mails abarbeiten sowieso. – Aber führen kann man nicht ohne „Ich will!“

Andere Menschen – Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – werden Ihr „Ich will!“ jedoch nur akzeptieren, wenn es von einem auch für sie nachvollziehbaren, glaubwürdigen, ebenfalls attraktiven Wozu geleitet ist. Wie oben erwähnt, liegen Gründe in der Vergangenheit, Zwecke in der Zukunft. Nichts an der Zukunft ist zwingend. Ein „Ich will!“ stellt die Weiche, ob die Zukunft so oder anders herauskommt. Ob sich das Ergebnis bewährt, wird sich erst später erweisen.

Der Umkehrschluss lautet: Spielen Sie nicht mit, wenn man Ihnen noch so gute/starke/überzeugende Gründe für etwas nennt, aber nicht sagen kann, wozu die Sache dient. Fragen Sie nach dem Zweck der Übung. Leisten Sie so lange Widerstand, bis es Ihnen irgendwie gelingt, aus der Not eine Tugend zu machen. Bis zumindest Sie einen attraktiven Zweck gefunden haben, den Sie im gleichen Aufwasch erreichen wollen.

Führungsbrief 70 – Fußballtrainer u.a.

Stellen Sie sich ein Kartenspiel vor, bei dem auf jeder Karte ein Beruf steht und aufs Kürzeste verdichtet, was eine Führungskraft von diesem Beruf – respektive von einem Profi darin – lernen könnte. Diese „Learnings“ wären immer als allgemeine Weisheit formuliert: „Als Führungskraft müssten Sie von einem Profi in diesem Beruf lernen, dass ...“. Das imaginäre Kartenset umfasst sämtliche Berufe dieser Welt. Sie können nun auswählen, welche – sagen wir – eineinhalb Dutzend Karten/Berufe/Learnings Ihr persönliches Führungsverständnis am besten nachzeichnen.

Ich beispielsweise wähle (unsortiert) folgende Berufe und postuliere damit – für Sie – folgende Lehren:

… Pianistin:
Dass Sie eine breite Tastatur beherrschen und in der Lage sein sollten, manchmal leise und manchmal sehr laute Töne anzuschlagen. Weiter, dass auch sitzende Tätigkeiten anstrengend, ja schweißtreibend sein können.

… Schmied:
Dass Sie das Eisen schmieden sollen, so lange es heiß ist. Vielleicht aber auch, dass Sie nie einen Hammer schwingen sollten, für den Sie nicht die nötige Kraft in den Armen haben.

… Fußballtrainer:
Dass es Momente gibt – und zwar nicht selten die matchentscheidenden –, wo Sie Ihre Leute machen lassen müssen und Ihre Finger (pardon: Füße) vom Ball lassen sollten.

… Sexarbeiterin:
Dass man menschliche Schwächen auch mal übersehen können muss. Aber dass man sich persönlich keineswegs alles bieten lassen muss.

… Jazzmusiker:
Dass es nicht für jedes gute Zusammenspiel einen braucht, der sagt, wo es lang geht – vorausgesetzt, alle Beteiligten sind fähig und bereit, auf einander zu achten und jedem einmal den Vortritt fürs Solo zu lassen.

… Bauern:
Dass man – von glücklichen Ausnahmefällen abgesehen – nur ernten kann, wenn man auch gesät hat. Und dass man erst ernten kann, wenn die Zeit dafür reif ist.

… Steuerrevisor:
Dass man mit Kleinlichkeit nun wirklich jedem auf den Keks gehen kann. Und dass man gewisse Berufe nicht wählen sollte, wenn man es nicht erträgt, dass auch ein gewisser Arschlochfaktor dazu gehört.

… Piloten:
Dass man auch vielfach geübte Dinge manchmal sauber strukturiert „nach Checkliste“ angehen soll und sich dabei Schritt für Schritt (ja, laut ausgesprochen) bewusst machen sollte, was wirklich „completed/checked“ ist.

… Marketingfachfrau:
Dass auch die beste Idee erst einmal verkauft sein muss, bevor sie auch anderen als eine beste Idee erscheint. Und dass man nichts verkauft, wenn man seinen Zielmarkt nicht kennt oder ganz falsch einschätzt.

… Autohändler:
Dass man nicht immer ganz bei der Wahrheit bleiben kann. Aber dass man auf Dauer schlechte Geschäfte macht, wenn man zu oft und zu dreist lügt.

… Geigenbauer:
Dass man vielleicht gerade dann einen erstklassigen Job macht, wenn man anderen ermöglicht, den großen Auftritt und wärmsten Applaus zu haben.

… Tennisstar:
Dass man früh anfangen sollte, dass man bis zum Schluss und bis in die höchste Liga stets und hart trainieren muss und dass man wissen sollte, wann es Zeit ist, aufzuhören und anderen das Feld zu überlassen.

… Psychotherapeut:
Dass es manchmal sinnvoller und vor allem hilfreicher ist, zuzuhören als zu reden. Dass Zuhören aber gelernt sein muss, da es mehr ist, als bloß selbst nichts zu sagen.

… Mafiaboss:
Dass man wissen muss, wer Freund und wer Feind ist. Dass man aber unterscheiden können muss, was persönlich und was rein geschäftlich ist.

… Bestattungsunternehmer:
Dass ein Beruf nicht immer pures Vergnügen ist und dass man manchmal eine ganz bestimmte Rolle spielen muss, weil man das anderen schuldig ist – ganz unabhängig von der eigenen Befindlichkeit.

… Bergführer:
Dass man sich auch als sehr erfahrener Profi an die elementarsten Spielregeln seines Handwerks hält und nicht meint, man sei stärker als der Berg.

… Balletttänzerin:
Dass eine perfekt getanzte Figur verbirgt, was an Übung und Disziplin und Anstrengung und vielleicht auch an Schmerz dahintersteckt. Und dass Performance manchmal auch ohne Worte auskommt.

… Politiker:
Dass man als Persönlichkeit klar für eine Meinung einstehen muss. Dass man keine Chance hat, wenn man nicht auch Bündnisse schließen kann, und dass es aus ist, wenn man seine Glaubwürdigkeit verspielt hat.

Welche Karten würden Sie ziehen? Von wem haben Sie am ehesten gelernt? Von wem würden/wurden Sie als Führungskraft in Ihrem Selbstverständnis am ehesten inspiriert? Von Geistlichen oder Ladendieben, von Krankenschwestern oder Pokerspielern, von Entwicklungshelfern oder Armeegenerälen, von Galeerentrommlern oder Unternehmensberatern? – Malen Sie es sich aus. Wählen Sie moralinfrei aus der ganzen Bandbreite. Reflektieren Sie, welche Weisheit (oder welchen Allgemeinplatz) Sie am treffendsten mit diesem Beruf verbunden sehen.

Nicht uninteressant wäre sodann, von Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu erfahren, mit welchen Berufsgattungen sie Ihr Führungsselbstverständnis am ehesten vergleichen würden und warum. Hoffen wir, dass es Sie nicht kränken würde. Zumindest aber gäbe es Ihnen Ideen, falls Sie irgendwann doch keine Führungskraft mehr sein wollten.

Führungsbrief 69 – Sich souverän abgrenzen

Wir können den herrschenden Zeitgeist in einem Wort zusammenfassen: Mehr! Alle Unternehmen wollen mehr Erfolg, mehr Profit, mehr Rentabilität, mehr Kunden, mehr Marktanteil, mehr Effizienz, mehr Kostenbewusstsein, mehr Qualität und vieles andere mehr. (Fast) jeder und jede will mehr Lohn, mehr Anerkennung, mehr Karriere, mehr Kompetenzen, mehr Verantwortung, mehr Status, mehr Prestige, mehr Work-Life-Balance, mehr Wohlstand, mehr Glück – und ebenfalls sicherlich vieles andere mehr.

Als Führungskraft sind Sie an dieser Dynamik gleich mehrfach beteiligt: Als Vorgesetzte/r müssen Sie entsprechende Ansprüche von oben weitergeben und durchsetzen. Als Vorgesetzte/r sehen Sie sich aber gleichzeitig immer auch mit mannigfachen Ansprüchen Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konfrontiert. Als selbst ja auch Geführte/r müssen Sie mit den an Sie gestellten Anforderungen fertig werden. Als so genannter Peer stehen Sie (bezüglich beider Rollen) in einem fortwährenden Wettstreit mit Ihren Kolleginnen und Kollegen. Und zu Hause werden Sie von Ihrer Familie und Ihrem Umfeld nicht selten auch noch unter Druck gesetzt, mehr zu geben.

Im Grunde haben Sie die Wahl: Entweder Sie gehen beim Versuch, all diesen Forderungen nach mehr gerecht zu werden, drauf und fassen zeitgemäß Ihren Burn-out. Oder Sie lernen, sich souverän abzugrenzen.

Abgrenzung kann sich unterschiedlich äußern: Man sagt explizit Nein. Man tut irgendetwas einfach nicht. Man verweigert das Mitmachen. Man beteiligt sich nicht. Man verbittet sich etwas. Man ignoriert etwas oder jemanden. Man stellt sich taub. Man entzieht sich einer Einflussnahme. Man gehorcht nicht. Man begehrt auf und protestiert. Und so weiter.

Freunde macht man sich in aller Regel mit solchem Verhalten nicht. Denn es ist leider eine heikle Sache, sich abzugrenzen. Gar leicht gilt man als unwillig oder unfähig, als Widerständler oder als Uneinsichtiger. Je häufiger man sich abgrenzt, desto mehr wird man in diesem Sinne generell abqualifiziert und entsprechend negativ schubladisiert. Und wenn man es nur sehr selten tut (aus eigener Sicht heißt das vermutlich: zu selten), so reagiert die Umgebung erst recht unwirsch: Was hat er denn auf einmal? Warum reagiert sie nun plötzlich so? – Kurzum: Die Abgrenzung wird wiederum nicht akzeptiert. Man wird vielleicht nicht generell abqualifiziert, im Moment aber sicher nicht ernst genommen, kaum respektiert, sicherlich nicht geschätzt.

Ich habe die Beobachtung gemacht, dass all diese negativen Folgen einer Abgrenzung (meistens) nur dann auftreten, wenn man selbst nicht souverän hinter seiner eigenen Abgrenzung steht.

  • Wer nämlich im Innersten ein schlechtes Gewissen hat, dass er sich abgrenzt, der strahlt dies auf eine unmerkliche Weise auch aus. So wie Hunde angeblich aggressiv werden, wenn man vor ihnen Angst hat. (Was ich aus leidvoller Erfahrung selbst nur bestätigen kann.)
  • Wer selbst nicht souverän daran glaubt, dass er sich zu Recht abgrenzt, der neigt dazu, diese Unsicherheit zu übertünchen mit einem umso forscheren Tonfall. Das damit verbundene „Stämpfelen“ zeigt der Umgebung, dass die Abgrenzung nicht souverän erfolgt. Und der „ton qui fait la musique“ wird dann eher disharmonisch, was den anderen wiederum das Recht gibt, sich über den Abgrenzer zu beschweren.
  • Wer zwar rational überzeugt ist, sich zu Recht abzugrenzen, emotional aber gleichzeitig von all dem Moralin“überschwemmt wird, das man ihm in seiner Kindheit eingeflößt hat, der wirkt nicht mehr authentisch. Erkennbar wird das daran, dass er sein abgrenzendes Verhalten begründet und begründet und begründet … bis man wirklich misstrauisch wird.
  • Wer bei jeder Abgrenzung fürchtet, fortan nicht mehr geliebt zu werden, bringt sich in eine emotionale Abhängigkeit von seiner Umgebung, die souveränes Handeln massiv erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht. Denn gerade für Führungskräfte gilt ja: Führung ist kein Beliebtheitswettbewerb.

Für diejenigen, die sich für die psychologische Seite des Themas besonders interessieren: All das eben Gesagte wäre halb so schlimm, wenn wir jederzeit wüssten, was sich in unserem geistigen und emotionalen Haushalt so abspielt. Dies tun wir leider nicht. Wenn wir uns die zum Teil gegenseitigen Kräfte in unserem Denken und Fühlen als geometrische Vektoren vorstellen, die nicht selten in ganz unterschiedliche Richtungen weisen und unterschiedlich stark sind, so wird uns häufig nur die Vektorresultante bewusst. Und für die haben wir dann flugs sehr rationale – freilich keineswegs immer zutreffende – Erklärungen parat. Bedauerlicherweise hilft es jedoch nichts, sich seiner unbewussten Motive bewusst werden zu wollen. Sie heißen „unbewusst“, weil sie unbewusst sind. Wir können uns bestenfalls selbst beobachten und aus unserem Agieren und Reagieren selbstinterpretierend schließen, was uns wohl so alles (mit-) getrieben hat. Aus einer solchen aufmerksamen Selbstbeobachtung entsteht im Laufe der Zeit Lebenserfahrung. Auf die kann man aber – wenn man sie nicht schon hat – nicht warten, wenn man im aktuellen Fall handeln soll.

Wie also kann man sich souverän abgrenzen?

Lernen Sie zuallererst, sich gegen die eigenen inneren Widerstände gegen das Abgrenzen abzugrenzen. Wenn Sie denken oder empfinden, Sie müssten sich nun gegen etwas oder jemanden „eigentlich“ abgrenzen, dann streichen Sie das „eigentlich“ und grenzen Sie sich ab. Ziehen Sie erst hinterher Bilanz darüber, welchen sozialen Preis Sie bezahlt haben und wie Sie sich im Ergebnis fühlen.

Machen Sie sich klar, was Ihnen wirklich viel wert ist. Ist es Gesundheit? Wohlbefinden? Bewunderung? Akzeptanz? Ruhe? Erfolg um jeden Preis? Lebensfreude? Raum für Kontakte und eigene Bedürfnisse? – Wie auch immer: Sie werden sich nur dann souverän abgrenzen können, wenn Sie dadurch etwas für Sie Wertvolles gewinnen. Denn es geht um die positive Seite diesseits der Grenze, die Sie ziehen.

Nutzen Sie zum Erlernen des Sich-souverän-Abgrenzens eine Methode aus der Verhaltenstherapie, die Sie ohne Therapeutenkosten ganz allein anwenden können, so genannte „shame exercises“: Zwingen Sie sich, etwas zu tun – in unserem Fall: sich abgrenzen –, obwohl Ihr Innerstes flüstert: „Das darfst du doch nicht!“ Sie werden sehen, nach einigen Erfolgen beginnt diese Stimme langsam zu verstummen.

Auf diese Weise – also mittels eines erfahrungsbasierten Systems von checks and balances, sozusagen – lernen Sie nämlich ziemlich rasch, was in Ihrer ganz persönlichen geistigen/emotionalen „Vektorrechnung“ zu berücksichtigen ist und was nicht. Denn das ist der Kern meiner Argumentation: Sich souverän abgrenzen ist ein Fall fürs Üben. Wer nicht üben will, lernt nie Velo fahren, Klavier spielen oder schwimmen. Und er wird sich auch nie souverän abgrenzen können.

Beim Üben aber fällt man ab und zu auf die Nase. Erst mit der Zeit wird man „geübter“. Was beim Abgrenzen zu Beginn vielleicht „zickig“ erscheint, präsentiert sich dann als klare, souveräne Haltung. Das ist das Ziel!

Auch wenn Ihr Chef, Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenso wie Ihre Kollegen oder Ihre Familie Sie nicht in jedem Fall zu Ihrer klaren Haltung beglückwünschen werden – Sie selbst werden es.

Führungsbrief 68 – Ungenügend

Es geht ein Gespenst um in der Wirtschaft: Der Krieg um Talente! Nur wer die allerallerbesten Leute hat, kann heute noch bestehen, so klingt es allenthalben. Wirklich? Kommt da eine wunderbare Welt von nur höchsttalentierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf uns zu? Traumhaft! Freilich nagen da auch leise Zweifel: Glauben Sie wirklich, dass die Unternehmen, die nur noch die Allerallerbesten wollen, denen auch die allerallerbesten Aufgaben zu bieten haben? Jedenfalls stelle ich es mir ganz amüsant vor, wenn dann der eine akademisch bestausgebildete Magaziner den anderen akademisch bestausgebildeten Magaziner höflich fragt: „Wann eigentlich haben Sie zum letzten Mal den Nobelpreis abgelehnt?“

Natürlich brauchen Unternehmen gute, also geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – geeignet für die gestellten Aufgaben und angestrebten Ziele, geeignet für die angestrebte Unternehmenskultur, geeignet für die Teams, in die sie als konstruktive Mitspieler passen sollen. Wenn aber zur Eignung zwingend das Talent gehört, nach spätestens einem Jahr den nächsten Karrieresprung zu machen, so kann das ja wohl nicht zum unternehmerisch langfristig gewünschten Personalkörper führen. Resultat wäre vielmehr ein wildes internes Job-Hoppen und ein heftiger Kampf um die Plätze, wenn der Flaschenhals gegen oben enger wird. Der Krieg zwischen Talenten also.

Vergessen Sie bitte nicht, was die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – die ja wissen, was sie können und was nicht – herauslesen, wenn ihr oberster Boss verkündet, nur noch die allerallerbesten Talente seien für ihn gut genug: Dass sie wohl besser den Stellenanzeiger aufschlagen ...

Der Ruf nach den allerbesten Talenten gilt aber nicht nur den neu anzustellenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Tatsächlich wird auch bei allen vorhandenen, vielleicht langjährigen und verdienten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danach gerufen, kontinuierlich zu überprüfen, wer ungenügende Leistung erbringe und ihn oder sie entweder subito zu besserer Leistung zu bringen (via Führung oder Ausbildung) oder – wenn dies nicht in nützlicher Frist gelinge – auszuwechseln. Dieser kriegerische Ruf entspricht zwar keineswegs einer Unternehmenskultur, die ich persönlich gut und nachhaltig fände, aber meine Präferenzen wollen wir hier mal beiseitelassen.

Sorge hingegen bereitet mir eine Argumentation, die man immer häufiger hört: Die Leistung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verteile sich nach der berühmten Glockenkurve, die die Statistiker als Normalverteilung bezeichnen. Will sagen, es gäbe einige mit Spitzenleistung, viele mit durchschnittlicher Leistung und einige mit ungenügender Leistung. Die Zahl der Letzteren wird dann mit sagen wir 15% veranschlagt, und auf die wird nun zur Jagd geblasen.

Was ist von dieser Normalverteilungsargumentation zu halten?

  • Normalverteilung – also die sogenannte Gauß’sche Glockenkurve – ist ein statistischer Fachausdruck, der nicht etwa besagt, was „normal“ ist, sondern (grob vereinfacht) was zu erwarten ist, wenn ein Merkmal zufällig um einen Mittelwert herum schwankt. Das schließt ein, dass niemand gezielt darauf Einfluss nimmt. Leistung im Unternehmen ist also dann normalverteilt, wenn niemand darauf Einfluss nimmt und man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zufällig ausgewählt hat. Kein wirklich gutes Zeugnis für eine Unternehmensführung!
  • Statistische Verteilungen gelten für große Stichproben. Sie auf ein Team von – sagen wir typischerweise etwa – sieben Leuten zu übertragen, ist grobfahrlässig. Natürlich kann und wird es in jedem Team Leistungsunterschiede geben. Aber sie sind nicht zwingend so verteilt, dass man die untersten 15% – das entspricht einer Person – als ungenügend qualifizieren müsste. Abgesehen davon, dass Leistung meist verschiedene Facetten hat und es nicht immer die gleiche Person ist, die in jeglicher Facette relativ zu den anderen am schlechtesten abschneidet.
  • Wenn also in Unternehmen Leistungsbeurteilungssysteme eingeführt werden, die die einzelnen Vorgesetzten dazu zwingen, in ihrem Team einen vorgegebenen Prozentsatz – sagen wir eben 15% oder eine Person – als ungenügend zu qualifizieren, so zeugt dies nicht von überbordendem Sachverstand. Von einer Geschäftsleitung, die so etwas beschließt, möchte ich gerne wissen, wer in ihrem Siebnerkollegium der Ungenügende ist! Man schmeiße ihn bitte sofort raus!

Gute Führung kann durchaus erreichen, dass alle Direktunterstellten einen genügenden, ja einen guten, ja sogar einen sehr guten Job machen. Und mehr noch: Es ist die Aufgabe einer guten Führung, genau dies anzustreben. Selbstredend kann es dabei im Einzelfall vorkommen, dass man als Chef erkennt, dass jemand im eigenen Team nicht genügt. Und dann muss man auch konsequent sein und Maßnahmen ergreifen. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass man jährlich und zwar in jeweils einem Fall zu diesem Schluss kommt.

Nur am Rande: Wenn ein Unternehmen durch entsprechende Vorgaben eine Leistungsbeurteilung gemäß Normalverteilung erzwingt, dann erschafft es sich diese Normalverteilung – obwohl in Tat und Wahrheit vielleicht gar keine vorhanden (gewesen) wäre.

Dürfen wir nicht von (obersten) Führungskräften erwarten, dass sie ein ganz klein wenig über die eigene Nasenspitze hinaus denken? Dass sie sich also fragen, wohin sich ihre Unternehmenskultur entwickelt, wenn jährlich die „ungenügenden“ 15% der Belegschaft identifiziert und entsprechenden Maßnahmen zugeführt werden? Dass sie sich ausmalen können, was damit im gesamten Unternehmen an Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit zerstört, was an Angst geschürt und was an Vertuschung gefördert wird?

Dürfen wir nicht auch gleichzeitig von (allen) Führungskräften erwarten, dass sie sich unablässig die Frage stellen, ob ihr Team und jedes seiner Mitglieder leistungsmäßig genügen oder nicht? Und dass sie in der Lage sind, in geeigneter Weise damit umzugehen? Das Ergebnis genauen und kritischen Hinschauens kann ja durchaus sein, dass die Leistung aller im Team ganz hervorragend ist! In diese Leistungsbeurteilung muss freilich immer auch einfließen, wie die eigenen Direktunterstellten wiederum ihre Direktunterstellten führen und qualifizieren (das so genannte Großvater-Prinzip). Denn nur so kann verhindert werden, dass gute Leistung mit blindem Beschönigen oder aktivem Wegschauen bei tatsächlich ungenügender Leistung verwechselt wird.

Vielleicht dürfen wir schließlich von jedem und jeder im Unternehmen – auf welcher hierarchischen Stufe auch immer – erwarten, sich selbst die Frage zu stellen, ob er oder sie den gestellten Anforderungen genügt oder nicht. Bei Führungskräften zum Beispiel lautet eine dieser Anforderungen, die Leistungsfähigkeit der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kompetent, kritisch und fair beurteilen zu können …

Im Grunde ist es eine Kapitulation der Führung vor sich selbst, wenn ein Topmanagement seinem Kader diese Aufgabe nicht zutraut. Wo dieses Zutrauen zur Beurteilungsfähigkeit der Leistung der eigenen Leute zu Recht fehlt, gibt es für die Führungsarbeit des obersten Managements nur eine Note: Ungenügend!

Wir sollten uns davor hüten, den Führungskräften immer mehr von ihrer Führungsverantwortung wegzunehmen und sie durch HR-Systeme zu ersetzen versuchen. Gute Personalarbeit in Ehren. Aber Führung ist Sache der Linie.

Wo immer die Leistung eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin oder einer Führungskraft als ungenügend zu qualifizieren ist, da ist der oder die direkte Vorgesetzte gefragt. Niemand sonst. Kneifen gilt nicht!

Führungsbrief 67 – Plattitüden

Früher gab es Bauern. Und es gab Bauernregeln. Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert das Wetter, oder es bleibt, wie es ist. Wohl eine Plattitüde, zumindest aber unbestreitbar wahr.

Heute gibt es Manager. Zwar gibt es keine Managerregeln, aber wer sich umhört, findet erstaunliche Plattitüden, die unter durchaus meist gut ausgebildeten Führungskräften als „Wahrheit“ oder „Richtgröße“ oder „Einsicht“ oder „Bekenntnis“ herumgereicht werden, ohne dass man sie auch nur zwei Minuten kritisch hinterfragt.

Ein paar Müsterchen gefällig?

  • Bei mir darf jeder einen Fehler machen – bloß nicht zweimal denselben! Zum einen fände ich es nicht so toll, wenn der Chefarzt des Assistenten, der mich operiert hat, mit dieser Weisheit toleriert, dass der mir eine Lunge statt des Blinddarms rausgeschnitten hat. Zum anderen ist es offenkundig, dass wir eben alle immer wieder gerade dieselben Fehler machen. Denn Dinge, die man nach einmal Scheitern nie mehr macht, sind eher Irrtümer als Fehler. Um aus Fehlern zu lernen, müssen wir mühsam daran arbeiten, ungeeignete Muster durch geeignetere zu ersetzen. Das ist meist anstrengend und nur selten das Ergebnis einmaliger Einsicht.
  • Mein größter Fehler ist meine Ungeduld! Gäbe es einen Übersetzungsdienst für diese Plattitüde, käme auf Deutsch Folgendes heraus: Ich bin ja sooo viel schlauer, stärker und schneller als meine Leute, dass die mir nie und nimmer das Wasser reichen können. Vergeblich hecheln sie mir hinterher, die armen Würstchen. Das macht mich ganz ungeduldig. Aber von dieser Lappalie abgesehen wüsste ich beim besten Willen nicht, wo ich denn sonst noch einen Fehler haben sollte. (Mit Ausnahme einer bis gegen annähernd null ausgedehnten Reflexionsfähigkeit, möchte man ergänzen.)
  • Wir wollen nur die allerbesten Talente! So? Haben Sie denn auch die allerinteressantesten Aufgaben zu bieten? Offerieren Sie die allerbesten Konditionen und Löhne? Ist Ihr Unternehmen wirklich das allertollste? Und sind Sie selbst der allerbeste Chef? – Ganz unwillkürlich erinnert man sich der Frage Willy Brandts in solchen Fällen: „Haben Sies nicht eine Nummer kleiner?“ Wärs nicht auch ganz nett, einfach mal Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, die für ihren Job adäquat qualifiziert sind und ihn gerne und gut machen?
  • Es gibt keine Probleme, es gibt nur Herausforderungen! Schön für Sie, falls Sie tatsächlich so einfach gestrickt sind, dass Sie sich mit so einem Blödsinn selbst überlisten können. Aber lassen Sie bitte die Finger davon, andere Menschen – insbesondere Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – auf diese Weise, sorry, zu verarschen. Wer ein echtes Problem hat – das ihn nicht mehr gut schlafen lässt und das er keineswegs als netten sportlichen Challenge sieht –, soll nicht auch noch frei nach Erich Kästner genötigt werden, den Kakao zu trinken, durch den man ihn zieht.
  • Man kann alles erreichen, wenn man nur wirklich will! Tja, das könnte ja noch sein. Zumindest tendenziell, denn ein eiserner Wille kann in der Tat viel bewirken. Nur taugt diese Erfahrung dennoch nicht als Ratschlag, da man nun einfach nicht „wollen wollen“ kann. Jemandem, der scheitert, zu unterstellen, er wolle eben nur zu wenig, ist also zynisch. Abgesehen davon, dass ich daran zweifle, dass es nur das Wollen ist, das die meisten von uns daran hindert, Nobelpreisträger, Tennischampion oder Hollywoodstar zu werden.
  • Jeder bei uns muss unternehmerisch denken und handeln. Jeder? Ich bin, das gebe ich zu, schon ganz glücklich, wenn diese Anforderung wenigstens alle GL-Mitglieder einer Firma erfüllen. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können mit dem ihnen zustehenden Handlungsspielraum und der ihnen zugestandenen Verantwortung hinten und vorne nicht unternehmerisch tätig werden. Schön ist zweifellos, wenn sie alle überhaupt denken und erst dann handeln. Aber auch wenn – dann tun sie das in aller Regel nicht als Unternehmer (sonst wären sie nämlich welche) und noch nicht einmal immer nur im Sinne des Unternehmens (denn dafür bräuchten sie gar nicht zu denken, gehorchen würde genügen). Es ist schon eine Führungsaufgabe, den unternehmerischen Sinn so klar zu verdeutlichen, dass die Leute davon überzeugt sind und ihr Handeln mehrheitlich danach ausrichten. Mit einem bloßen moralischen Appell wird man diese Führungsaufgabe nicht los.
  • Wir sitzen alle im gleichen Boot. Ganz bestimmt. Aber haben wir auch alle die gleiche Klasse gebucht? Hat es für alle die gleichen Rettungsboote? Legen sich wirklich alle in die Riemen? Sitzen wir auch dann noch im gleichen Boot, wenn es hart auf hart geht? Und haben wir auch alle die gleichen Parkplätze?
  • Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Und damit immer im Wege, sagen die Zyniker. Oder sie formulieren um: Bei uns ist der Mensch Mittel. Punkt. – Ein schönes Beispiel dafür, wie so manche markige Managerweisheit bei ihren Adressaten tatsächlich gehört/gelesen wird.

Sie können jetzt natürlich einwenden, meine Argumentation sei etwas gar pingelig, denn in jedem der zitierten Sätze stecke doch auch ein Körnchen Wahrheit. Zweifelsohne! Nur gilt das auch für Sätze wie „Die Erde ist flach.“ oder „Eins und eins gleich drei.“ oder „Männer sind unsensibel.“ Aber das trifft nicht den Punkt. Der Punkt hier ist, dass die oben zitierten Manager-Weisheiten von Menschen in einer formalen Position geäußert werden: Vorgesetzten eben. Damit sind derartige Sprüche immer mehr als bloß irgendeine Meinung. Es gibt ja bei Führungskräften nicht wie beim Papst die Regel, dass Aussagen nur dann als unfehlbar gelten, wenn sie ex cathedra gesprochen wurden.

Man kann sich bei Führungskräften nie darauf verlassen, ob sie ihre „Weisheiten“ nur als kleine Stichelei respektive als rhetorische Übertreibung oder aber als Wahrheit verstehen. Und da man ihnen – aus genau diesem Grund – deshalb tendenziell eher nicht widerspricht, driften sie wiederum leicht dazu, ihre eigenen markigen Worte mit der Zeit auch noch selbst zu glauben. Der Schaden von solch unreflektierten Plattitüden – so sie aus dem Mund eines Vorgesetzten kommen – liegt wie meist in der Umgebung: Gehen Sie doch bitte noch einmal die oben zitierten Äußerungen durch und fragen Sie sich, welche mehr schlecht als recht versteckte hintergründige Botschaft Sie vernehmen würden, wenn das Gesagte von Ihrem Boss käme und Sie annehmen müssten, es sei ernst gemeint!

Unerfreulich, nicht wahr?

Tun Sie mir einen Gefallen: Kriegen Sie bitte auf offener Szene einen Schreianfall, falls Ihr Chef irgendeine der genannten Plattitüden von sich gibt. Und bitte verschlucken Sie sich auf der Stelle ganz fürchterlich, bevor Sie selbst so etwas von sich geben. Danke.

Führungsbrief 66 – Boxenstopp

Den Namen brauchen wir hier nicht zu nennen, aber es gibt eine Firma, deren Top-Management für einmal radikal nachgedacht und dann auch danach gehandelt hat. Das ganze Management dieser Firma litt, wie anderswo auch, unter der unsäglichen Hektik des Mail-/Meeting-/Mobility-Hamsterrads, in dem heute Führungskräfte strampeln, und das Top-Management kam zum Schluss, dagegen müsse tatkräftig etwas unternommen werden. Denn anders kämen die Führungskräfte nie dazu, das zu tun, was ihre eigentliche Aufgabe sei.

Während andere Firmen den Casual Friday erfinden und ihre Angestellten wenigstens am letzten Werktag von der Krawattenpflicht entbinden, hat diese Firma den Reflective Monday erfunden und mit allen Konsequenzen eingeführt. Das Konzept läuft unter dem Namen „Boxenstopp“, und die damit eingeführten Spielregeln und Erfahrungen sehen so aus:

  • Manager sollen die Woche nicht mit operativer Hektik, sondern mit Denken und Reflektieren beginnen. Erlaubt ist nur, was einer „Konversation mit Problemen“ entspricht. (Das ist nicht etwa eine problembehaftete Konversation, sondern eine geistige Auseinandersetzung mit einem unternehmerisch wichtigen Thema/Problem – sei es allein im geistigen „Dialog“ mit der Sache oder gemeinsam mit anderen.)
  • Dafür wird der Montag freigehalten. Es gibt da keine regulären Meetings, keine sonstigen festen Termine, keine Kundenbesuche. Und, seeehr speziell: Der Mailserver ist dann für die mittleren, oberen und obersten Führungskräfte abgeschaltet! Sie können von Montag 04.00 Uhr bis Dienstag 02:00 Uhr weder Mails schreiben noch empfangen. Untere Kader sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind davon nicht betroffen.
  • Gebraucht wird der Montag für einen Boxenstopp. Wie bei Formel-I-Rennen wird das nicht als verlorene Zeit gesehen, sondern als Mittel auf dem Weg zum Erfolg. Das übliche Motto „Wir haben keine Zeit, den Bagger zu holen – wir müssen schaufeln“ gilt als unerlaubt dumm.
  • In diesen montäglichen Boxenstopps finden vor allem Strategiereviews, Führungsentwicklungen und die individuell oder in kleinen Gruppierungen geführte Auseinandersetzung über offene, eher grundsätzliche Sachfragen oder auch Kulturthemen, die der sorgfältigen und nachdenklichen Abwägung verschiedenster Standpunkte bedürfen. Die Eingangsfrage lautet allerdings immer: Ist dieses Thema/Problem bei uns auf der tiefstmöglichen hierarchischen Ebene angesiedelt? Veloständerthemen sind also tabu.
  • Eine grobe Schätzung zeigte, dass sich die Themen quantitativ im Monat ungefähr so verteilen: Ein Montag strategische Fragen, einer Führungsentwicklung, einer grundsätzliche (häufig bereichsübergreifende) Sachfragen und einer individuelle konzeptionelle Denkarbeit. Selbstredend entspricht dieser Mix nicht jedem Monat, aber durchschnittlich läuft es darauf hinaus.
  • Manchmal braucht es ein wenig Planung für diese Boxenstopps. Etwa wenn sich ein ganzes Managementteam für einen Führungsentwicklungs-Workshop außer Haus treffen will. Oder wenn externe Fachleute oder ein Moderator beizuziehen sind. Aber insgesamt ist der Planungsaufwand sehr klein, weil diese Montage ja nur kurzfristig konzipiert werden und sich nur mit wichtigen, nie mit dringlichen Fragen beschäftigen. Bei der Themenbestimmung gilt hier im Zweifelsfall, wie sonst im betrieblichen Leben halt auch, „Ober sticht Under“.
  • Komplett verpönt ist es, in die montägliche Arbeit Operatives hineinzupacken. Auch wenn dafür doch gerade so schön die richtigen Leute zusammensäßen. Verpönt ist auch die übliche Telefonitis. Zwar macht man durchaus einen Anruf, um jemanden dazuzuholen, mit dem man jetzt gerade reden möchte. Aber die Mitglieder des unteren Kaders wie auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen, dass sie die „Montäger“ nicht anrufen dürfen.
  • Eine interessante Nebenwirkung des montäglichen Mail- und Telefontabus ist, dass es nicht etwa am Dienstag früh einen ungeheuren Stau gibt, sondern dass die Leute einfach gelernt haben, mehr selbstständig zu machen. Da sie wissen, dass sie am Montag von ihren Chefs eh keine Antwort mehr bekommen werden, geben sie sie sich viel häufiger selbst.
  • Natürlich verdichtet sich die operative Arbeit der mittleren, oberen und obersten Kader von Dienstag bis Freitag etwas. Aber dies wird nicht als negativ empfunden, da es mit weniger Verzettelung und mehr Fokussierung einhergeht. Denn der montägliche Denkstart leitet und bündelt auch die Wochenarbeit der nächsten Tage und hilft, die richtigen Prioritäten zu setzen.
  • Dies wiederum führte dazu, dass sich die Kunden, die das Ganze anfänglich gelegentlich irritierte, inzwischen überwiegend positiv zum Boxenstopp eingestellt sind, denn sie spüren, dass sich diese Firma und vor allem ihr Management gründlich überlegt auf das Wesentliche ausrichtet: Und das sind sie, die Kunden und ihre Bedürfnisse.
  • Und auch die unteren Kader sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich mit dem Boxenstopp ihrer Chefs angefreundet. Er brachte ihnen wie gesagt mehr Selbstständigkeit, und er reduzierte die Möglichkeiten ihrer Chefs, ihnen dreinzureden und sie bei der Arbeit zu stören. Wie einer es ausdrückte: Der Montag war zu dem geworden, was früher die industrielle Nachtschicht für Arbeiter war – eine Zeit, in der man ungestört produktiv arbeiten konnte.
  • Erfolgsentscheidend ist natürlich, dass die ganze Aktion „Boxenstopp“ eine gesamtbetriebliche Regelung dieser Firma ist, denn einer allein könnte sich nicht aus dem Hamsterrad befreien. Laut dem CEO, der den Boxenstopp eingeführt hat, konnten sich nicht alle betroffenen Führungskräfte mit dem Boxenstopp anfreunden. Einige ertrugen den Denkzwang nicht und kamen ohne Mails und Sieben-Tage-Hektik in Entzugsstress. Aber die, die den Boxenstopp zu nutzen gelernt haben, die richtigen „Montäger“ also, das sind laut dem CEO die Führungskräfte, die er sich wünscht und die diese Firma vorangebracht haben.

Die Firma ist außerordentlich erfolgreich.

Den Namen der Firma können wir leider nicht nennen. Denn es gibt sie nicht. Noch nicht.

Führungsbrief 65 – Kopfzerbrechen

Sie wissen ja, die Führungspsychologie kennt viele Heldengeschichten. Da sind die geborenen Führer, die charismatischen Leader und andere herausragende Persönlichkeiten, die eine so besondere Stellung erreichen, wie es uns Gewöhnlichsterblichen meist nicht gelingt. Die ganze Organisation ist fixiert auf diesen Grand Chef – und man wagt sich gar nicht auszudenken, was passiert, sollte der Patron mal weg sein.

Wer genau hinschaut, erkennt aber, dass es durchaus auch für gewöhnlichsterbliche Führungskräfte eine Aussicht auf Sonderstellung gibt. Möchten Sie das? Dann müssen Sie es bloß schaffen, dass Ihre Leute sich nicht mehr ihren eigenen Kopf zerbrechen, sondern Ihren!

Zugegeben, für das Unternehmen hat dies ein paar klitzekleine Nachteile. Zum Beispiel zahlt es so mehrmals einen Lohn für die immer gleiche Denkleistung. Und es verzichtet darauf, dass jemand auch Ihre Ideen einer kritischen Prüfung unterzieht. Zudem prägt eine gewisse Angst die Kultur in Ihrem Bereich, denn es ist ja für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht so leicht, sich Ihren Kopf genau richtig zu zerbrechen. Schließlich verhindert das Ganze auch, dass neues Know-how in Ihren Zuständigkeitsbereich hereinkommen und genutzt werden kann. Wie gesagt, ein paar Nachteile, mit denen man halt leben muss. Alles hat seinen Preis! Der grandiose Vorteil ist es wert: Selbst wenn Sie keine Patron-Größe, kein Charisma und keine besonderen Persönlichkeits­eigenschaften als Führungskraft aufweisen – Sie gewinnen eine absolut herausragende Stellung!

Wie aber können Sie erreichen, dass sich Ihre Leute Ihren statt den eigenen Kopf zerbrechen?

  • Betonen Sie Ihren hohen Leistungsanspruch bei jeder beliebigen Gelegenheit – aber sagen Sie nie genau, was Sie denn eigentlich ganz konkret erwarten.
  • Nehmen Sie nie ein Ergebnis Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfach so zur Kenntnis. Schon gar nicht mit einem direkten Lob. Ändern Sie in jedem Fall mindestens ein Komma oder etwas an der Darstellung oder sonst irgendein Detail. Und wenn Sie danach doch noch loben wollen (was ja manchmal nützlich ist, um Ihre menschliche Größe zu unterstreichen), dann lassen Sie durchblicken, dass es eigentlich Ihr letzter Federstrich war, der aus dem Gekritzel Ihrer Leute ein wahrhaft großes Gemälde gemacht hat.
  • Nutzen Sie den sicherlich existierenden Mangel an Qualitätsstandards in Ihrer Organisation dafür, die Menschen nach immer höherer Qualität streben zu lassen – ohne freilich zu wissen, wie diese definiert ist. Dafür genügt es, Arbeiten (zum Beispiel schriftliche Konzepte oder Präsentationen oder Anträge) mal als zu detailliert zu bezeichnen und im anderen Fall als zu oberflächlich. Wer Ihnen etwas gut Ausgearbeitetes bringt, den fordern Sie auf, das Ganze auf einen Fünftel zusammenzustreichen und endlich auf den Punkt zu bringen. Wenn jemand dagegen mit einem konzisen Wurf daherkommt, fragen Sie nach möglichst vielen Details, bis dem Armen klar wird, dass er ohne eine Wochenendzusatzschicht nie Ihr Wohlgefallen erringen wird.
  • Da wir ja unser Denken nie ganz abschalten können, müssen Sie – wenn Sie andere sich Ihren Kopf zerbrechen lassen wollen – dafür sorgen, dass deren Gehirn nie in den Stand-by-Modus verfällt. Kurze SMS am Wochenende oder aber werktags nach 23 Uhr haben sich hierfür außerordentlich bewährt. Steigerbar ist die Methode durch Anberaumen von Sitzungen zur Besprechung der geforderten Resultate auf Montag oder einfach anderntags, 6.45 Uhr.

Sie sehen, die Sache ist auch für Sie recht aufwändig. Sie müssen Ihren Leuten stets ein wenig voraus sein, Sie müssen halt auch schon um 6.45 Uhr zur Sitzung kommen (wo Sie aber nicht vergessen sollten zu erwähnen, wie besonders schön heute das Stündchen Jogging war, das Sie sich täglich vor der Arbeit gönnen). Und Sie müssen viel – viiiel – über Ihren Schreibtisch laufen lassen. Gratis ist also Ihre herausragende Stellung als Führungskraft nicht zu haben. Ohne Fleiß kein Preis!

Nun gut, lassen wir die Gratisweiterbildung für Führungskräfte aus dem nie veröffentlichten zweiten Band von Macchiavelli. Fragen wir uns stattdessen, was Sie tun sollen, wenn Sie realisieren, dass Ihr Chef (oder dessen Chefin, was sicherlich bis zu Ihnen durchschlagen würde) tatsächlich nach den vorhin skizzierten Regeln führt. Wenn Sie bei ehrlicher Reflexion zugeben müssen, dass Sie sich immer wieder gar nicht Ihren eigenen Kopf zerbrechen, sondern den eines/einer anderen, der/die hierarchisch über Ihnen steht. Wenn Sie sich bei allem, was Sie tun, fragen: Was will mein Chef genau, und wie will er es genau? Und wenn Sie sich darüber so viel Kopfzerbrechen machen, dass Sie sich nicht mehr auf den Sinn der Sache, um die es geht, konzentrieren können. Wenn Sie langsam keine eigenen Ziele und Wege, Ideen und Überzeugungen mehr haben – oder sie zumindest nicht mehr vertreten.

  • Fragen Sie sich nicht, ob Ihr Chef in der richtigen Position ist. Er ist es (im besagten Fall!) nicht. Fragen Sie sich, ob Sie in Ihrer Position (unter diesem Chef) richtig sind oder ob Sie bei nüchterner Analyse gar keine Aussicht auf Besserung der Situation haben. Es ist nämlich so, dass Führungskräfte, die erfolgreich den Kopfzerbrechen-Trick praktizieren, kaum mehr davon lassen, denn die Sache läuft ja exakt so, dass sie immer wieder darin bestärkt werden.
  • Achten Sie auf Ihre Kollegen. Ich nehme an, dass es denen nicht besser geht als Ihnen. Wichtig ist nun aber, dass Sie mit ihnen konstruktive und zielführende Allianzen bilden, um mehr Gewicht zu erhalten. Schlecht ist, wenn Sie einen Keil zwischen sich und Ihre Kollegen treiben lassen und sich freuen, wenn die in den Kopfzerbrechen-Hammer laufen. Und schlecht ist auch, wenn Sie sich gemeinsam mit Ihren Kollegen an Klageliedern über Ihren Chef laben. Das mag Balsam auf Ihre Wunden sein, aber es ändert nichts.
  • Kämpfen Sie trotz allem für Ihre Überzeugungen und Ideen. Das führt zu manchen Blessuren, aber Sie werden einmal stolz sein auf Ihre Narben! Dies klingt vielleicht kriegerischer, als ich es meine – aber es hilft, sich nicht zu sehr in vorauseilendem Gehorsam selbst zu erniedrigen. Zu stark dürfen die Blessuren aber nicht sein. Sonst gilt automatisch Paragraf 1 dieser Liste.
  • Nutzen Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Schützen Sie die davor, auch in den Kopfzerbrechen-Modus (halt nicht auf Sie, sondern auf Ihren Chef bezogen) zu verfallen. Ermutigen Sie sie zu eigenem Denken. Erstens wenden Sie so weiteren Schaden vom Unternehmen ab, und zweitens fällt es Ihnen unter Umständen leichter zu kämpfen, wenn Sie sich vor eine überzeugende Sache stellen können, die nicht auf Ihrem eigenen Mist gewachsen ist. Es ist sicher leichter, Ihrem Chef zu sagen, dass Sie ihm anbei ein überzeugendes Konzept Ihrer Mitarbeiter schicken, als auf die gleiche Weise Ihre eigene Arbeit schon vorab zu loben. Und gleichzeitig erschweren Sie ihm damit den Kopfzerbrechen-Trick.
  • Pflegen Sie Zivilcourage. Sagen Sie ohne entschuldigenden Unterton, dass Sie gestern Abend mit Ihrer Frau ausgegangen seien und das Handy abgestellt hätten. Reagieren Sie auf gewisse Mails oder SMS mit einer kurzen Nachfrage, die den Ball wieder Ihrem Chef zuspielt, statt dass Sie sich gleich in Arbeit stürzen. Und reagieren Sie manchmal auch gar nicht – Sie können sich darauf verlassen, dass Ihr Chef viiiel auf seinem Schreibtisch hat  …

Sie sehen, die Sache ist auch für Sie recht aufwändig und überhaupt nicht leicht. Die Kopfzerbrechen-Sache kann nämlich ein ganz übles Spiel sein. Es tut mir leid. – Vielleicht aber können Sie Hoffnung auf den Chef Ihres Chefs setzen, falls der das Spiel überhaupt durchschaut und das Schädliche daran erkennt. Aber zerbrechen Sie sich nun nicht auch noch dessen Kopf!

Führungsbrief 64 – Bauchentscheide

Wenn Entscheiden tatsächlich eine zentrale Aufgabe von Führungskräften ist, so wäre es doch angebracht zu wissen, wie man möglichst gute Entscheide fällt. Noch vor wenigen Jahren hätte man betont, entscheidend (!) beim Entscheiden sei die Rationalität. Nur Vernunft solle zählen, Gefühle hätten außen vor zu bleiben. Schon in einem früheren Führungsbrief wurde gezeigt, dass dies eine unhaltbare Forderung ist, da man ohne Emotionen und Gefühle überhaupt nicht entscheiden kann.

Heute hat der Wind der Mode gedreht und man (nicht selten frau) fordert, es gehe darum, auf seinen Bauch zu hören, denn nur die Bauchentscheide seien die wahrhaft guten und stimmigen. Was ist da dran? Psychologie wie auch Hirnforschung haben in den letzten Jahren viel darüber geforscht, und nach ihren Erkenntnissen gilt es zu differenzieren:

  • Bauchentscheide sind Vernunftentscheiden keineswegs generell überlegen. Umgekehrt aber auch nicht.
    Die Qualität von Bauentscheiden hängt nicht von der Komplexität des Problems ab, während die Qualität von Vernunftentscheiden mit zunehmender Komplexität der zu entscheidenden Frage leider abnimmt.
  • Alle nicht besonders wichtigen und nicht so großen respektive komplexen Entscheide sollten durch bewusstes und vernünftiges Abwägen von Vor- und Nachteilen der Alternativen getroffen werden. Bauchentscheide wären hier schlechter.
  • Nur bei wirklich großen Entscheiden lohnt es sich, besonders gut auf seinen „Bauch“ zu hören. Trotzdem sind es aber gerade die großen Entscheide im Leben, die wir letztlich inkompetent fällen: Berufswahl, Heirat, Kinderfrage und so weiter. Wenn uns jedoch unser Unbewusstes da ein gutes Bauchgefühl beschert, so ist das zumindest besser als im Falle des Gegenteils. Denn tatsächlich deuten schlechte Bauchgefühle in solchen komplexen Fällen darauf hin, dass wir in unserem Bewusstsein etwas Wichtiges übersehen haben.
  • Bauchentscheide sind aber nur dann gut, wenn die Vernunft vorher die wichtigsten Fakten und Informationen, die als Entscheidungsgrundlage wichtig sind, zur Kenntnis genommen hat – und danach (da hat der Volksmund völlig recht) eine Nacht darüber geschlafen hat.
  • In Sachfragen treffen jene Leute die besten Bauchentscheide, die die größte fachliche Erfahrung besitzen. Auch wenn sie gar nicht so klar begründen können, wie sie zu einem Entscheid gekommen sind. Das gilt sowohl für blitzschnell, fast reflexartig zu entscheidende kleine Fragen wie auch für große, komplexe Fragen.
  • Vernunft baut auf die Präzision des bewussten Denkens (hat aber eine recht geringe Verarbeitungskapazität), während Bauchentscheide weniger präzise sind, jedoch auf die enorm viel größere Kapazität des unbewussten Denkens setzen können und somit mehr Aspekte einbeziehen.

Derartige Erkenntnisse gelten indes nur für das individuelle Entscheiden. Im Gegensatz zu der Karikatur eines alles im Alleingang entscheidenden Managers sieht die betriebliche Realität aber eher so aus, dass Entscheide gar nicht wirklich getroffen werden, sondern als Ergebnis eines nicht immer klaren kollektiven Prozesses „irgendwie“ fallen. Und hier sieht die Sache häufig anders aus. Da geht es nicht mehr um Vernunft versus Bauch, sondern um Gruppendynamik – wobei freilich sowohl vernünftige Argumentation wie auch Bauchgefühl ganz nach Bedarf als Waffen benutzt werden.

In den Sechzigerjahren gerieten die Amerikaner in den Schlamassel der Schweinebuch­t­invasion auf Kuba. Viele Jahre später wurde der damalige unselige Entscheid der Kennedy-Regierung sozialpsychologisch untersucht. Es zeigte sich, dass jedes einzelne Kabinettsmitglied gegen den Plan gewesen war, aber alle dafür gestimmt hatten, weil keiner plötzlich als unpatriotisch dastehen wollte.

Es ist also unsere befürchtete oder erhoffte Position im betrieblichen Umfeld, die unsere Entscheide vielleicht mehr beeinflusst als die jeweilige Sachfrage. Und in diesem „innerlichen Verrechnungsprozess“ dürften Bauchentscheide (die ja „automatisch“ immer mitspielen) tendenziell eher opportunistisch ausfallen. Aber auch Vernunftentscheide sind in diesen Fällen nicht viel besser, da die Vernunft häufig nur das intellektuelle Deckmäntelchen für den opportunistischen Bauchentscheid liefert. Und wenn Sie sich jetzt zu Unrecht angegriffen fühlen sollten, so muss ich Ihnen leider sagen, dass dieser „innere Verrechnungsprozess“ nicht dazu führt, dass Sie andere über Ihre Motive belügen würden, sondern dass Ihr Unbewusstes bereits Ihr Bewusstsein belügt. Denn oberstes Ziel unserer Psyche ist es, von uns ein gutes Selbstbild zu produzieren.

Ausschlaggebend bei kollektiven Entscheidungsprozessen ist daher weniger die Vernunft-/Bauchfrage, sondern der Prozess der Hinterfragung von Argumenten (egal ob sie der Vernunft oder einzelnen Bäuchen entstammen).

Was im Change Management so abschätzig als Widerstand disqualifiziert und als Zeichen ewiggestrigen Denkens abgeurteilt wird, ist also womöglich das Werkzeug auf dem Weg zu guten Entscheiden. Dass es Zeit kostet, ist ein nicht vermeidbarer Preis. Falls Sie Dr. House kennen: Der Mann ist deshalb als Arzt ein unschlagbar guter Diagnostiker, weil er sich ein Team hält, das ihn gnadenlos hinterfragen muss. Erst im Kampf mit diesem Widerstand findet er zu seinen besten Entscheiden.

Auf der individuellen Ebene dürften Bauchentscheide im betrieblichen Umfeld vergleichsweise wenig angesagt sein, da heutzutage nicht mehr so vieles individuell entschieden wird, was komplex ist. Ausnahme sind wahrscheinlich Anstellungsentscheide, und da lohnt es sich bestimmt, (auch) auf den Bauch zu hören.

Auf der kollektiven Ebene aber ließe sich die Stärke von Bauchentscheiden jedoch nutzen, wenn sie eingebettet wären in eine Kultur harter argumentativer Auseinandersetzung. Nur dürfte dann das Spiel nicht so laufen, dass man diskreditiert, wer nur aus dem Bauch heraus argumentiert, sondern dass man gemeinsam heftig darüber streitet, was denn die Gründe für solche guten oder aber schlechten Bauchgefühle sein könnten.

Vernunft gegen Vernunft – auf der Basis von Fakten und Bauch. Das ist eine hervorragende Regel für gute kollektive Entscheide.

Führungsbrief 63 – Vorbild

Dass Sie als Vorgesetzte/r jederzeit ein Vorbild sein sollten, wissen Sie. Gleichzeitig wissen Sie, dass Sie faktisch sowieso immer ein Vorbild sind – nur eben vielleicht manchmal ein schlechtes.
Vorbildsein ist ein erstklassiges Führungsmittel, und Nichtvorbildsein untergräbt primär Ihre eigenen Führungsabsichten, was ja ganz und gar nicht in Ihrem Interesse liegen kann. Daraus dürfen wir schließen, dass sich alle Führungskräfte ununterbrochen ums Vorbildsein bemühen müssten – denn es wäre ja nur in ihrem ureigensten Interesse. Bloß: Die alle tun das keineswegs immer, wie Sie sofort bemerken, wenn Sie entweder auf Ihren Chef oder aber in den Spiegel gucken.

Warum tun wir etwas nicht, das ausschließlich in unserem Interesse liegt? Folgende Gründe bieten sich an (und vermutlich gelten sie alle gleichzeitig):

– Nobody is perfect. Das stimmt zweifelsohne, ist aber langweilig, da sich daraus nicht mehr als ein Schulterzucken ableiten lässt.

– In unserem ureigensten Interesse liegt das Vorbildsein nur hinsichtlich seiner Wirkung bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber nicht zwingend auf uns selbst bezogen. Als Beispiel diene hier ein besonders hoher Arbeitseinsatz.

– Weiter ist noch nicht einmal sicher, ob die Wirkung tatsächlich eins zu eins aus dem Vorbild resultiert, denn wie alle Eltern wissen, machen Kinder mit Vorliebe auch exakt das Gegenteil des elterlichen Vorbilds: Sie rauchen, obwohl die Eltern nie rauchten, oder – schöner – sie rauchen nicht, weil ihre Eltern qualmen wie die Schlote. In dieser Hinsicht verhalten sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelegentlich ganz ähnlich.

– Vorbildsein verlangt nicht selten etwas, das man spontan nicht täte. Es muss nicht einmal speziell anstrengend sein, aber es entspricht eher dem Spielen einer Rolle als einfach dem Authentischsein. Das wiederum ist anstrengend. Vielleicht ist es sogar das Anstrengendste in der Führung überhaupt, dass man eine Rolle zu spielen hat.

– Man ist als Führungskraft ständig unter Beobachtung. Ob man jemanden im Flur nicht gegrüßt hat (weil man tatsächlich mit dem Kopf woanders war), ob man Fehler macht oder sich nicht an die eigenen Vorschriften hält oder nur mal schlecht gelaunt ist: Alles wird genauestens registriert, und für jedes Vorkommnis wird ein „Märkli“ ins geistige Schuldenheft geklebt und sorgsam über Jahre aufbewahrt.

– Und schließlich: Wäre jemand als Führungskraft wirklich zu hundert Prozent vorbildlich

– in allem und jederzeit –, dann wäre er/sie absolut unerträglich. Wir alle wollen es mit normalen Menschen zu tun haben und weder mit Heiligen noch mit lebenden Vorwürfen oder Mahnmalen.

Aus alledem ließe sich schlussfolgern: Vergessen wirs! Seien wir halt Vorbild, wo es grad so geht. Lassen wir uns aber keine grauen Haare wachsen, wenn es eben nicht immer und überall geht.

Das wäre zweifellos eine entspannende und entlastende Schlussfolgerung. Aber eben keine, mit der auch nur irgendetwas in der Führungswelt besser würde. Ich schlage deshalb einen alternativen Schluss vor. Mixen wir uns doch ein MMM-Rezept aus folgenden drei Zutaten:

– Müdigkeit steuern: Dass Arbeit mitunter müde macht, ist unabänderlich. Dennoch können wir ein wenig mitsteuern, wann wir uns mehr oder weniger Müdigkeit leisten. Wir können unseren Tages- und Wochenmix so planen, dass die Müdigkeit eher dort anfällt, wo es weniger riskant ist. Mit „riskant“ meine ich hier, dass Sie müdigkeitsbedingt Ihre Vorbildfunktion vergessen. Mitarbeitergespräche sollten Sie also nicht in die schläfrigen Nachmittag­essensstunden legen. E-Mail-Bearbeitung schon. Bevor Sie in ein wichtiges Meeting gehen, sollten Sie sich einen Zeitschlitz einbauen, um danach den Kopf bei der Sache zu haben. Verbringen Sie notfalls zehn Minuten auf der Toilette, um sich ungestört in die richtige geistige Stimmung für das Nachfolgende bringen zu können. Und legen Sie dann einen überzeugenden Auftritt hin.

– Milde Ironie zulassen: Überfordern Sie sich nicht. Verlangen Sie nicht von sich das perfekte Vorbild – Sie können damit nur scheitern. Seien Sie sich selbst gegenüber auf eine milde Weise ironisch und akzeptieren Sie Ihre Fehler. Nur: Die Folgen der Fehler tragen Sie trotzdem. Das gehört dazu. Ein Fehler ist nicht deshalb kein Fehler mehr, weil Sie ihn in milder Ironie belächeln und innerlich akzeptieren. Das hilft nur Ihnen. Für alle anderen bleibt der Fehler ein Fehler. Also argumentieren Sie den Fehler nicht etwa weg. Stehen Sie dazu. Aber grämen Sie sich nicht jedes Mal deswegen. Wo immer Ihnen jedoch bewusst wird, dass Sie mal wieder kein besonders gutes Vorbild waren, sprechen Sie das Thema nachträglich bei einer geeigneten Gelegenheit an. Vieles lässt sich damit erleichtern, nachträglich begradigen oder verständlicher machen. Aber noch einmal: Entschuldigen Sie nicht Ihren Fehler, denn der bleibt ein Fehler – entschuldigen Sie allenfalls sich bei dem/der/den Betroffenen.

– Musts hochhalten: Normalerweise gibt es nur einige wenige Dinge, bei denen man als Führungskraft unbedingten Wert darauf legt. Zum Beispiel Pünktlichkeit oder Verlässlichkeit oder ein guter Kundenauftritt. Was immer das bei Ihnen ist: Bei diesen Musts müssen Sie selbst vorbildlich sein. Immer und überall. Da zählt keine milde Ironie. Und da ist auch Müdigkeit keine Entschuldigung. Wenn Sie bei den Musts „sauber“ sind, werden es Ihre Leute auch sein – und sie werden erst noch lockerer mit jenen Dingen umgehen, bei denen Sie nicht das perfekte Vorbild abgeben.

Gerade bei der Vorbildthematik lohnt es sich, das eigene Verhalten danach auszurichten, was man passiv erlebt: Fragen Sie sich, wer für Sie ein gutes, überzeugendes Vorbild abgibt – und wieso. Fragen Sie sich, wen Sie für ein schlechtes Vorbild halten – und inwiefern. Gehen Sie getrost davon aus, dass Ihre Leute (auch) in dieser Hinsicht nicht völlig anders gestrickt sind als Sie selbst. Und ziehen Sie dann die nötigen Konsequenzen für sich.

Vielleicht fällt Ihnen bei dieser Übung dann auf, wie moralingetränkt wir in solchen Dingen sind – solange es sich auf andere bezieht. Auch hier wäre manchmal etwas mehr Bescheidenheit angebracht. Denn – streng biblisch für einmal – es nervt ganz einfach, wenn sogar Führungskräfte den Splitter im Auge des anderen sehen, aber den Balken im eigenen Auge nicht wahrhaben wollen.

Wenn Sie also froh darum wären, in Ihrer Vorbildfunktion nicht immer und überall gar so streng beurteilt zu werden, dann fangen Sie doch selbst einfach damit an, dies in Bezug auf Ihre Chefs ebenso zu handhaben. Ganz vorbildlich also.

Führungsbrief 62 – Hauruck

Ich glaube, dass wir seit jeher etwas falsch machen in der Führungsentwicklung. Meines Erachtens müssten wir zwei komplett verschiedene Dinge, die wir bislang immer durcheinanderbringen, sauber unterscheiden:

Das eine ist das Arbeiten an individuellen Themen: Persönliche Schwierigkeiten oder Defizite oder Schwächen, konkrete Probleme im Team oder mit dem eigenen Chef, Hilfe bei neuen Herausforderungen, Reflektieren des eigenen Führungsselbstverständnisses, ganz einfach Neues für die eigene Führung lernen wollen und so weiter. Dafür ist gut geeignet, was wir kennen und praktizieren: etwa innerbetriebliche Workshops, Seminare, Coachings, Teamentwicklungen. Dazu gelegentlich außerbetriebliche Weiterbildungen. Davon sei im Weiteren hier jedoch nicht mehr die Rede.

Das andere ist das Arbeiten an kollektiven Themen. Das sollten wir nicht (mehr) in den Gefäßen für die individuellen Themen abhandeln, denn das wäre (ist!) vergebliche Liebesmüh. Lassen Sie mich illustrieren, was das zum Beispiel für Themen sind und warum sie nicht individuell bearbeitbar sind:

  • Meetingitis: Wenn eine Führungskraft im Coaching oder im Führungsentwicklungs-Workshop sagt, sie wolle nun endlich etwas gegen die viel zu vielen Meetings unternehmen, dann ist das verständlich und löblich – aber vergebens. Denn nur wenn alle anderen Führungskräfte am selben Strick ziehen würden, käme es zu einer Besserung. Wenn die Führungskraft ganz allein beginnt, sich gewissen Meetings zu verweigern, wird sie nur isoliert – und wird daher bald darauf zum ursprünglich beklagten Zustand zurückkehren.
  • E-Mailitis: Setzen Sie einfach in den letzten Abschnitt statt „Meetings“ „E-Mails“ ein. Die Logik bleibt sich gleich.
  • Konfliktkultur: Wer sich individuell daran stört, dass man in der bestehenden Unternehmenskultur zu wenig konfliktfähig ist, und deshalb anfängt, Konflikte offener und aktiver anzugehen, der wird in kürzester Zeit vom „Organismus“ der Unternehmenskultur als unverträglich abgestoßen. Bis er sich wieder ans alte Muster hält oder bis er geht.
  • Kommunikationskultur: Setzen Sie einfach in den letzten Abschnitt statt „Konflikt“ „Kommunikation“ ein. Die Logik bleibt sich gleich.
  • Kundenorientierung: Sie können es in jedem Restaurant beobachten, das Personal ist fast immer recht einheitlich freundlich oder aber unfreundlich zu den Gästen. Als einziger Kellner in einem Team von äußerst kundenorientierten Serviceangestellten ständig unfreundlich zu sein, geht einfach nicht auf Dauer. Und umgekehrt. In der Art, wie man mit Kunden umgeht, passen sich die Leute gegenseitig an.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Gewisse Themen sind einfach so geartet, dass sich die individuellen Verhaltensweisen nivellieren. Wie bei den kommunizierenden Röhren, die wir im Physikunterricht kennenlernten. In einer einzelnen dieser Röhren kann das Wasser ganz kurz mal höher oder tiefer stehen, aber in kürzester Zeit sind die Spiegel alle exakt gleich hoch.

Sie könnten natürlich einwenden, dass jeder mit genügend Zivilcourage sich eben gerade dadurch profilieren könne, dass er sich anders als die anderen verhalte. Schließlich folgt er ja nicht einfach physikalischen Gesetzen. Das mag sein. Es ist aber selten, und es braucht enorm viel Kraft. Zu viel Kraft. Zudem hat es den Nachteil, dass dann das eigentlich bessere Verhalten im Unternehmen als „Abweichung“ dasteht (wie beim Streber in der Schule), womit das schlechtere Verhalten der Mehrheit erst recht gefestigt wird.

Was tun bei diesen kollektiven Themen? Es liegt auf der Hand, dass wir sie eben nicht mehr individuell, sondern kollektiv behandeln sollten. Sie werden aber nicht „von alleine“ kollektiv zum ­gleichen Zeitpunkt allen bewusst, und deshalb muss man einen Prozess oder Rhythmus etablieren, der der ­Sache auf die Sprünge hilft. Dafür muss natürlich zunächst das hier behandelte Thema verstanden ­werden, sodass der nachfolgend skizzierte Prozess/Rhythmus begründet etabliert und kommuniziert werden kann. Dieser Prozess dient dem „Hauruck“-Effekt, den man braucht, wenn ein paar Leute gemeinsam einen Karren aus dem Dreck ziehen wollen. Nur wenn die Kräfte durch lautes „Hauruck“-Schreien koordiniert werden, summieren sie sich und reichen aus. Ohne „Hauruck“ verpufft jede einzelne Anstrengung.

Ich stelle mir den Prozess als einen wiederkehrenden Dreijahresrhythmus vor:

  • Im ersten Jahr finden unter Einbezug aller Führungskräfte diagnostische Workshops statt. Darin werden auf der Basis vorhandener Daten – zum Beispiel Mitarbeiterzufriedenheitsumfragen oder Kundenbefragungen oder 360°-Feedbackauswertungen oder Ähnliches – sehr wenige kollektive Themen identifiziert. Wenn es solche Daten nicht gibt, dürfte es nicht allzu schwer sein, in diesen Workshops auf eine methodisch geeignete Weise direkt die Erfahrung der Teilnehmer anzuzapfen. Pro Führungskraft dürfte das in beiden Fällen ungefähr einen halben Tag kosten. So viel Aufwand ist nicht etwa nötig, um den Bedarf zu identifizieren (den kennt vielleicht ja schon der oberste Boss – oder sowieso fast jeder), sondern um die aktive Behandlung dieses Problems zu einem echten gemeinsamen Bedürfnis werden zu lassen. Diese Workshops sollten heterogen sein, das heißt, die Teilnehmer sollten jeweils quer aus dem ganzen Unternehmen kommen.
  • Nach diesen flächendeckenden Workshops müsste die Geschäftsleitung aufgrund einer geeigneten Auswertung sämtlicher Workshops beschließen, welche Themen (maximal drei!) denn nun kollektiv zu behandeln seien. Zu diesen Themen wird damit sozusagen „Hauruck“ gerufen!
  • Kurz darauf müssten nochmals Halbtages-Workshops unter Einbezug sämtlicher Führungskräfte stattfinden. Diesmal aber homogen – das heißt, es sind diejenigen Führungskräfte zusammen, die organisatorisch zusammengehören. Diesmal wird nun konkretisiert, wo genau sich das Thema oder die Themen im eigenen Bereich manifestieren und was denn nun an Maßnahmen zu ergreifen sei. Diese Maßnahmen sind dann einzuleiten. Aufs „Hauruck“ folgt nun das gemeinsame Ziehen.
  • Das zweite Jahr dient der praktischen Erprobung der Maßnahmen. Sie werden im Führungsalltag praktiziert und gemeinsam periodisch überprüft und gegebenenfalls korrigiert oder frisch belebt. Ziel ist, dass ein neues Verhalten in den angesprochenen Themen zur gemeinsamen Normalität und Selbstverständlichkeit wird. Dies muss von oben mit großer Verbindlichkeit eingefordert (und vorgelebt!) werden.
  • Im dritten Jahr findet auf dieser kollektiven Schiene rein gar nichts statt! So wie früher die Bauern Felder alle paar Jahre brachliegen ließen, um sie sich erholen zu lassen, so muss man einer Unternehmenskultur auch Zeit zur Erholung lassen. Ständig daran rumzuwerkeln, macht nur alle Beteiligten müde.

Nach diesem Jahr Pause (in dem individuell aber durchaus das Übliche – Coachings, persönliche Weiterbildungen und so weiter – laufen kann), würde der Dreijahresrhythmus wieder starten.

Zu achten ist darauf, dass nicht nur das Programm des jeweils dritten Jahres konsequent durchgeführt wird.

Führungsbrief 61 – Runde und Eckige

Nein, ich werde mich nicht blamieren und versuchen, etwas über Fußball zu schreiben, obwohl sogar ich weiß, dass das Runde ins Eckige muss. Vielmehr rede ich hier von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Es gibt solche, die im Laufe der Jahre vom betrieblichen Fluss der Dinge rund und glatt geschliffen wurden, und es gibt solche, die haben und behalten ihre Ecken und Kanten.

Meine These lautet: Die Zahl der Runden hat eher zugenommen. Eckige gibt es immer weniger. Und diese Entwicklung ist ungesund.

Natürlich kann ich diese These nicht durch Zahlen belegen. Es ist eine empfundene Entwicklung, und vielleicht erleben Sie das ähnlich: Immer seltener treffe ich schräge, aber dennoch akzeptierte und respektierte Persönlichkeiten an, sei es auf Mitarbeiter- oder auf Managementstufe.

Zur Illustration des Vermissten eine kleine Geschichte aus einem Projekt von vor über dreißig Jahren (keine Angst, Geschichten von vor dem Zweiten Weltkrieg erzähle ich keine). Es war in einem technologisch sehr anspruchsvollen Unternehmen, in dem auch enorm große Teile überholt werden mussten. Im Bereich der Galvanik stieß man da auf manchmal fast unlösbare Probleme. Ein Mitarbeiter mit einem Schnurrbart wie Salvador Dalí war unter anderen dafür verantwortlich. Wenn nun so ein Problem auftauchte, setzte er sich hin, legte die Beine auf den Tisch und dachte nach. Das konnte zwei bis drei volle Schichten dauern. Plötzlich stand er dann auf und sagte: So machen wir es. Und es klappte. Wo ließe man heute noch einen Mitarbeiter drei Tage wort- und bewegungslos, ohne Papier und Bleistift und auch ohne PC, nachdenken?

Interessant ist ja, dass die Entwicklung hin zum normierten Mainstream (nirgends wird man runder geschliffen!) gesamtgesellschaftlich zu beobachten ist: Alle Kinder müssen die gleichen Zähne haben. Zwischen in und out wird in allen Lebensbelangen messerscharf unterschieden. Autos sehen innerhalb jeder Preisklasse absolut identisch aus. Außerdem machen alle Unternehmen – und alle mit dem Ziel, besonders zu sein! – genau das Gleiche. Unbeeindruckt davon aber wird, auch dies in schöner Einheitlichkeit, das Hohe Lied der Diversity gesungen: Plötzlich bereichern Frauen jedes Managementteam, nun ist die Zusammenarbeit zwischen verschiedensten Nationen plötzlich nicht mehr ein sprachlicher und kultureller Hindernislauf, sondern nichts als inspirierend. Plötzlich erkennt man, dass ältere Menschen Erfahrungen haben, die ihnen in der Rolle als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitunter enorm nützlich sind.

Ich habe, Sie werden sich nicht wundern, erhebliche Zweifel, ob man daran glauben soll, dass dieser Storch Kinder bringt. Wehe, wenn sich die Frauen nicht dem männlichen Spiel anpassen. Unerwünscht, wer sich in der Globalisierung nicht primär amerikanisch benimmt. Unerhört, wenn Erfahrene ihre Erfahrungen als Argumente gegen den neusten Change einbringen. Nein – alle Steine sollen, bitte schön, weiterhin einheitlich rund geschliffen sein. Notfalls können wir sie ja andersfarbig bemalen.

Sicherlich wird alles einfacher so. Aber wird es auch besser? Die Schwierigkeit ist, dass ein Profit von Vielfalt, ein Nutzen aus den Eckigen nur um den Preis zu erzielen ist, dass man sich immer wieder an ihren Ecken und Kanten stößt. Die Eckigen sind nur „lustig“, solange man Abstand zu ihnen hat. Mein vorgängig geschilderter Dalí gefällt Ihnen bestimmt. Aber was hielten Sie von ihm, wenn Sie ihn täglich so dasitzen sähen, während Sie selbst völlig gestresst wären?

Zudem geht es ja nicht nur darum, dass wir Runden uns ein paar Eckige zur allgemeinen Erbauung und Anregung halten sollten. So wie ein exotisches Haustier. Es geht darum, dass auch wir uns (wieder) etwas mehr Ecken und Kanten erlauben sollten – sei es als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder als Führungskräfte. Wohl wissend, dass wir uns so nicht überall beliebt machen würden.

Dass die Eckigen anstoßen, wissen Sie selbst. Darüber muss ich mich also nicht auslassen. Deshalb will ich mich darauf beschränken, Ihnen ein paar Vorteile schmackhaft zu machen, wenn Sie sich auch mal auf Eckige einlassen (und überdies auch sich selbst ab und an ein paar Ecken gestatten):

  • Zunächst können Sie kein besseres Gesellenstück Ihrer wahren Führungskunst abliefern, als wenn Sie es schaffen, so einen richtig knurrigen, knorrigen, kantigen Mitarbeiter zumindest so weit zu führen, dass er auch seine produktiven Seiten zeigt. Nehmen Sie es also als sportliche Herausforderung.
  • Weiter gewinnen Sie neue Ideen und Einsichten, sei es, weil der Eckige, wie unser Dalí, tatsächlich kreativ ist oder weil seine spinnerten Ideen zumindest Sie kreativ anregen können.
  • Nicht selten tragen die Eckigen unabsichtlich dazu bei, die Runden zusammenzuschweißen. Im schlechtesten Fall als gemeinsames Feindbild. Im besseren Fall aber darüber, dass die Runden vermehrt miteinander kommunizieren, da sie das Abweichende der Eckigen gemeinsam irgendwie verarbeiten müssen.
  • Die Eckigen liefern in jedem Fall die besseren Geschichten als die Runden. Wer möchte schon ein Buch lesen, in dem nur lauter runde Figuren auftreten? Und gute gemeinsame Geschichten sind der Kitt jeder sozialen Einheit.
  • Interessanterweise ist es gerade das Überraschende, das Nicht-Normale, das die Eckigen zu einem seltsam stabilen Element in einer Gruppe oder einem Team werden lässt. Auf ihre Besonderheit kann man sich nämlich verlassen. Das beruhigt.
  • Da sich die Eckigen zumindest in gewissen Punkten hart an der Grenze des Zulässigen bewegen, ist genau damit für alle anderen die Grenze jederzeit deutlich markiert. Das wiederum macht deren Führung für Sie leichter.
  • Was schließlich Ihre Führung auch nicht wenig erleichtert, ist, wenn Sie selbst ein paar Ecken und Kanten haben. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich daran orientieren, und sie können sich darauf einstellen. Ein Chef, der in allem rund geschliffen ist, mag ein paar Tage bequem sein. Wenig später wird er unwirksam, da unspürbar, da unsichtbar: Nur eine Figur, die sich vom Hintergrund abhebt, wird gesehen. Für die anderen gilt Ottos Spottbild – weißer Adler auf weißem Grund.

Zugegeben, all die genannten Vorteile gelten nur, wenn das Eckige nicht nur nervt. Es soll weder rücksichtslos noch zickig sein. Ich rede das Wort weder den Falschen noch den Hinterlistigen, weder den Unehrlichen noch den Charakterlumpen. Mir gefallen einfach die, die ein paar Besonderheiten haben. Die, die man erst näher kennenlernen muss, bevor man sie zu schätzen beginnt. Die, die sich nicht verbiegen lassen, selbst wenn sie deswegen auf manches verzichten müssen. Es lohnt sich, sie zu behalten oder überhaupt erst zu suchen. Die Beulen und Schrammen, die man sich gelegentlich an ihren Ecken und Kanten holt, verheilen bald wieder.

Im richtigen Leben ist es eben doch nicht immer wie im Fußball. Hier zählt es als Treffer, immer mal wieder auch ein paar Eckige zwischen die vielen Runden zu platzieren.

Führungsbrief 60 – Spuren

Sind Sie Ihr Geld wert? Woran sollen wir bemessen, ob Sie einen guten Job machen? Schauen wir uns die wohl am häufigsten genannten Messgrößen einmal kritisch etwas genauer an:

  • Eignung: Wir können Sie einem Assessment und/oder irgendwelchen Eignungstests unterziehen und zu einem für Sie guten oder auch nicht so guten Resultat kommen. Nützen tut uns das ganz und gar nichts. Ist nämlich das Resultat gut, aber Ihr Erfolg unbefriedigend, so interessiert uns die Eignung nicht. Und sie interessiert uns auch nicht, wenn sie zwar unbefriedigend ausfällt, Ihr Erfolg aber (warum auch immer) ganz toll ist. Eignung interessiert nur als vorausschauende Schätzung beim Entscheid, ob man Sie auf eine Führungsposition setzen soll oder nicht.
  • Anstrengung: Wir können uns anschauen, wie viel Sie leisten – Ihre Arbeitsstunden, Ihr Engagement, Ihre Energie. Kurz: Ihren Input. Ein großer Input ist zwar verdienstvoll, aber er interessiert uns aus dem gleichen Grund so wenig wie die Eignung. Denn wenn trotzdem nichts rauskommt, war die Müh’ vergebens.
  • Erfolg: Gehen wir also direkt auf den Erfolg los. Bringen Sie die gewünschten Resultate? Erreichen Sie die Ziele? Das interessiert uns ganz sicher, aber es ist dennoch nicht die Antwort auf die Frage, ob Sie eine gute Führungskraft sind. Vielleicht hatten Sie einfach Glück. Oder Ihre Mitarbeiter sind ohne Ihr Zutun ungeheuer produktiv. Oder die Resultaterwartungen waren zu bescheiden. Kurzum: Selbst wenn Sie erfolgreich sind, darf man fragen, ob Sie einen guten Job machen – und man tut sich mit der Antwort immer noch schwer. Anders ist das nur bei Fußballtrainern; da hat man sich offenbar darauf geeinigt, dass die genauso gut sind, wie ihre Mannschaft abschneidet. Und so ist denn die gleiche Person mal ein hervorragender Trainer und ein paar Wochen später ein miserabler Trainer. Auch nicht unbedingt plausibel.
  • Feedback: Fragen wir doch einfach ringsherum, ob Sie ein guter Chef sind. Ein 360°-Feedback also. Wir besorgen uns die Beurteilung Ihres Chefs, Ihrer Mitarbeiter und Ihrer Kollegen. Auch dies nicht ganz unüblich. Alle Erfahrungen zeigen aber, dass solche Beurteilungen massiv verzerrt werden können (etwa durch die persönliche Beliebtheit oder Nicht-Beliebtheit) und dass diejenigen, die Sie beurteilen, nicht selten mehr von sich zum Ausdruck bringen als dass sie wirklich Sie beurteilen könnten. Ganz abgesehen davon, dass jeder Beurteiler selbst auch vor den hier skizzierten Schwierigkeiten steht.
  • Lohn: Wir könnten doch die Argumentation übernehmen, die man auf den Aktienmärkten verwendet, wo man sagt, im Aktienpreis sei jede verfügbare Information über ein Unternehmen enthalten (was freilich auch strittig ist, denn Aktienpreise lassen sich manipulieren). Auf Sie übertragen hieße das, dass Ihr Lohn (einschließlich Bonus et cetera) – in Relation zu anderen Löhnen natürlich – exakt zum Ausdruck bringe, wie gut Sie als Führungskraft seien. Nun, nach allem, was wir als Zeitungsleser so über das Zustandekommen von Löhnen wissen, dürften wir dieser Idee nicht wirklich überzeugt zustimmen.

Die Sache scheint also schwierig zu sein. Und sie wird noch schwieriger dadurch, dass Sie in Ihrem Innersten – da bin ich mir völlig sicher – so etwas wie eine „Weltformel“ in sich tragen, mit der Sie für sich vermutlich in etwa die oben angegebenen fünf Kriterien verrechnen: Und wenn eines davon für Sie nicht so toll ausfällt, dann ändern Sie vermutlich seine Gewichtung ein wenig gegen unten …

Ich plädiere dafür, dass wir vielleicht besser versuchen sollten zu fragen, welche Spuren Sie als Führungskraft hinterlassen. Auch wenn wir (noch) nicht sagen können, wie wir diese Spuren genau nachweisen sollen, so sind es doch sie, für die wir Sie als Führungskraft verantwortlich machen können. Denn es sind Ihre Spuren. Und wenn sie sich positiv aufs Unternehmen auswirken, sind Sie Ihr Geld wert.

Schauen wir uns ein paar Möglichkeiten solcher Spuren an. Die Liste ist natürlich nicht abschließend, aber wer immer sich die eingangs gestellte Frage stellt, sollte auch in der Lage sein, für sich eine entsprechende Liste zu formulieren. Hier die „Glorreichen Sieben“, bei denen zumindest ich auf Spurensuche ginge:

  • Entscheidung: Wo haben Sie welche Entscheidungen getroffen? Wo nicht? Was leitet Sie bei Ihren Entscheidungen? Finden Sie mit Ihren Entscheidungen Akzeptanz? Setzen Sie Ihre Entscheidungen auch durch? Wie gehen Sie mit Entscheidungen um, die man Ihnen von oben vorgibt? Wie leben Sie mit den Entscheidungen Ihrer Mitarbeiter?
  • Entfaltung: Gelingt es Ihnen, dass Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr „geben“, als sie dies ohne Ihre Führung getan hätten? Oder verhindern Sie durch Demotivation, dass sie ihre Leistungsbereitschaft voll entfalten können? Was leisten Ihre Leute, wenn Sie grad nicht danebenstehen oder hinterher sehen, wer was getan hat? Tragen Sie dazu bei, dass Ihre Leute zu Hochform auflaufen und sich dabei auch noch wohlfühlen?
  • Entwicklung: Was passiert mit den Leuten über die Zeit gesehen, in der Sie Führungsverantwortung für sie haben? Entwickeln sie sich? Was ist Ihr Anteil daran? Was passiert mit ihnen, wenn sie (oder Sie) weggehen? Wo sehen Sie, dass eine Saat von Ihnen aufgeht?
  • Enttäuschung: Wo und wie tragen Sie zur Klarheit im Unternehmen bei? Wo helfen Sie mit, dass man in Ihrem unternehmerischen Umfeld im positiven Sinn ent-täuscht wird? Dass man also Illusionen und Täuschungen (auch die eigenen!) als solche erkennt, mehr Durchblick erhält, realistischer und damit insgesamt handlungsfähiger wird?
  • Entlastung: Tragen Sie dazu bei, dass die Arbeit für andere einfacher wird? Dass Organisation und Prozesse einfacher werden? Schaffen Sie auch für sich Entlastung? Tragen Sie dazu bei, das Unternehmen von Altlasten zu befreien, die seine Zukunft belasten könnten?
  • Entgegnung: Wogegen wehren Sie sich? Wo halten Sie entgegen? Wo nehmen Sie den Kampf auf und wo nicht? Wie behandeln Sie Ihre Gegner? Können Sie auch mal aus Gegnern Partner machen? Wer schafft es, Ihr Gegner zu werden, und womit?
  • Entdeckung: Wo haben Sie dazugelernt und für sich selbst neue Handlungsoptionen entdeckt? Wo haben Sie das Gleiche anderen ermöglicht? Wie brachten Sie Neues ins Unternehmen, und konnte sich Ihre Entdeckung fruchtbar integrieren?

Ich glaube, es wäre einfacher, Führungskräfte zu beurteilen und zu entwickeln, wenn wir, modisch ausgedrückt, eine Methode für ein „Leadership Tracking“ hätten, wenn wir also wirklich die Spuren verfolgen und sichtbar machen könnten, die eine Führungskraft in zum Beispiel den vorhergehenden sieben Bereichen hinterlässt.

Bis es soweit ist, gewinnen Sie aber schon, wenn Sie sich die Frage danach zumindest überlegen.

Führungsbrief 59 – Lobrede

Stellen Sie sich vor, Sie nehmen (in allen Ehren!) Abschied von Ihrer derzeitigen beruflichen Rolle, und es soll eine Lobrede auf Ihre Führungstätigkeit gehalten werden. Da dies ja vermutlich leider niemand für Sie tun wird, müssen Sie den Text selbst schreiben.

Lassen wir mal Ihre Bescheidenheit weg, die es Ihnen nie erlauben würde, eine Lobrede auf sich selbst zu halten. Lassen wir auch weg, dass es Ihnen peinlich wäre, in aller Öffentlichkeit gelobt zu werden. Lassen wir auch weg, dass man unzweifelhaft ein paar winzige Kleinigkeiten an Ihnen kritisieren könnte. Stellen Sie sich bitte einfach mal folgende (oder folgender) Frage:

Was möchten Sie, dass in dieser Lobrede auf Ihre Führung steht?

Unabhängig davon, ob Sie diese Lobpreisungen heute bereits verdienen, unabhängig davon, ob Sie sie überhaupt je verdienen: Was möchten Sie hören (ganz und gar berechtigterweise – und natürlich aus der Optik eines befugten Lobredners)?

Kreuzen Sie die Zutaten für Ihre Lobrede an (und ersetzen Sie wo nötig „er“ durch „sie“):

  • Es hat immer enormen Spaß gemacht, für ihn und mit ihm zu arbeiten.
  • Man konnte sich völlig auf ihn verlassen und wusste stets genau, woran man war.
  • Er hat viel geleistet, viel gefordert und auch viel erreicht.
  • Fachlich konnte ihm keiner das Wasser reichen, und in den meisten Fragen behielt er recht.
  • Bei ihm hatte jeder zunächst einen Vertrauensvorschuss und einen großen Freiraum.
  • Er konnte manchmal hart und unerbittlich sein, aber es ging ihm stets um die Sache.
  • Er hatte eine klare Vision, wohin er mit uns wollte, und konnte herausfordernde Ziele setzen.
  • „Reden mit den Leuten“ war vielleicht sein Geheimrezept.
  • Nie war er mit seinen Pendenzen oder Mails im Rückstand.
  • Er hat uns gegen so manches von oben beschützt und hätte sich jederzeit vor uns gestellt.
  • Er hat sich stets darum bemüht, alle Mitarbeiter genau gleich zu behandeln.
  • Er hat seinen Job gemacht und uns unseren machen lassen.
  • Er hat wünschenswerte Spuren im Unternehmen hinterlassen.
  • Er war bei Mitarbeitern, Kollegen und Vorgesetzten als freundlicher Mensch äußerst beliebt.
  • Wer unter seiner Führung gearbeitet hat, konnte sich persönlich wie auch fachlich entwickeln.
  • Er war leicht zu führen.
  • Der wirtschaftliche und unternehmerische Erfolg stand für ihn stets im Vordergrund.
  • Er mochte Menschen.
  • Nie stellte er seine Person in den Vordergrund, immer betonte er die Leistung seines Teams.
  • Er verlangte nichts, wofür er nicht selbst Vorbild sein konnte.
  • Er respektierte andere und war als Chef selbst eine respektierte Persönlichkeit.
  • Er liebte seine Arbeit als Führungskraft.

Dies ist selbstredend nur ein dürftiger Anfang. Zwar finde ich persönlich längst nicht alles darauf lobenswert, aber oft wird es so verstanden. Und leicht könnte man die Liste der Zutaten verlängern. Was fehlt Ihnen in dieser Liste? Ich nehme an, dass es gar nicht so leicht ist, im Detail sagen zu können, was konkret man an sich selbst respektive an der eigenen Führungstätigkeit wirklich gut und lobenswert fände.

Nur: Wie soll man gut sein und gar besser werden, wenn man nicht weiß, was dafür die ausschlaggebenden Kriterien sind? Wichtig ist es daher allemal, sich solche Fragen wenigstens zu stellen.

Wir können nun die Sache weitertreiben. Fragen Sie sich einmal, was Ihre Mitarbeiter heute redlicherweise an Ihrer Führung zu loben hätten. Was Ihr Chef? Ist es zweimal das Gleiche? Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem Blick von oben und dem Blick von unten auf Ihre Führung? Woran liegt das?

Und nach Ihren eigenen Maßstäben: Würdigen Chef/Mitarbeiter Sie wenigstens für das Richtige? Wissen Sie überhaupt, was die an Ihrer Führung schätzen (oder hören Sie bestenfalls ab und zu irgendwelche Klagen und Reklamationen)?

Zu guter Letzt, wenn wir nun auf die Liste der von Ihnen angekreuzten oder ergänzten Zutaten zur Lobrede auf Ihre Führungstätigkeit zurückkommen: Ist Ihre (Führungs-)Arbeit der letzten vierundzwanzig Stunden geeignet, diese Lobrede zutreffend werden zu lassen? Und die der letzten Woche? Wie wars im letzten Jahr? Und in der Zeit, seit Sie in der heutigen Funktion tätig sind?

Nun, es liegt mir fern, Sie deprimieren zu wollen. Schauen Sie deshalb nach vorne. Sich zu fragen, wofür man angesichts der morgigen oder künftigen Führungstätigkeit gelobt werden möchte, bringt Sie sicherlich weiter.

Gelobt zu werden, ist zwar nicht das Maß für gute Führung. Das war hier aber auch nicht unsere Übungsanlage. Die Vorstellung der eigenen Lobrede diente nur dem Zweck zu reflektieren, was es für Sie heißt, die richtigen Dinge zu tun und die Dinge richtig zu tun.

Doch falls die Aussicht auf ein wenig Lob Ihr Ego dazu motiviert, genau das dann auch zu tun, dann dürfen wir Ihnen so viel Narzissmus gerne verzeihen.

Führungsbrief 58 – Zuschauer

Natürlich stellen Sie sich immer wieder die Frage, ob Sie sich in irgendeiner Sache Ihrem Team oder einer Mitarbeiterin, Ihren Kollegen oder Ihrer Chefin gegenüber richtig verhalten. Sie überlegen sich wahrscheinlich, wie der jeweils andere darauf reagieren wird, wenn Sie dies oder jenes tun oder sagen würden. Das ist ohne Zweifel richtig.

Es hat aber einen Haken: Bei allem und jedem, was Sie als Führungskraft tun oder lassen, werden Sie beobachtet. Sie haben mehr Zuschauer als mancher Fußball-Match. Würden Ihnen diese alle Eintritt bezahlen, ginge es Ihnen gut­ …

Zuschauer (und nicht nur Betroffene respektive Mitspieler) sind in jedem Fall alle die von Ihrem Führungshandeln direkt angesprochenen Personen. Dazu kommen aber deren Kolleginnen und dann wiederum deren Kollegen. Ihre „Peers“ – also jene Führungskräfte, die wie Sie dem gleichen Chef unterstellt sind – gehören zu Ihren treuesten Fans, die lassen als Zuschauer kein Spiel von Ihnen aus. Sie verfolgen jeden Schritt von Ihnen genauestens und haben ein erstaunlich gutes Gedächtnis für all Ihre Fehlpässe. Auch Ihr Chef zählt – von Amtes wegen, sozusagen – zu Ihren permanenten Zuschauern. Vergessen Sie die nicht, die in der Südkurve sitzen: Leute aus dem Human-Resources-Bereich, Zentralisten aus Einkauf oder Logistik, Zuständige aus dem Finanzsektor, die Ihre Zahlen kennen und kritisch verfolgen, sowie die Hüter der Administration und guten Ordnung in allen Führungs- und Managementfragen vom Spesenreglement bis zu den Ferienguthaben.

Unsere Liste ist noch nicht vollständig. Denn all die genannten haben „beste Freunde“, denen sie beim Kaffee oder Feierabendbier erzählen, was ihnen an Ihnen aufgefallen ist. Dass dann bei all den Aufgezählten noch Ehepartner und Familien dazukommen, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Natürlich könnten Sie mir zwar bis hierher zustimmen, sich aber sagen: Was kümmern mich all diese Zuschauer? Mich interessiert nur, wen ich mit meinem Führungshandeln jeweils direkt meine! Tja, damit sind wir aber direkt bei des Pudels Kern: Führung wirkt nie nur direkt, sondern immer auch, wenn nicht sogar häufig noch mehr, indirekt. Zum einen dadurch, dass sich die direkt Gemeinten (in der Regel sind das ja Ihre Mitarbeiter) durch die Buh-Rufe oder den Applaus der Zuschauer massiv beeinflussen lassen. Zum anderen dadurch, dass die direkt Gemeinten zuvor (wie auch danach) immer wieder in der Rolle der Zuschauer waren und aus dieser Optik Ihr aktuelles Führungsverhalten „lesen“.

Beispiele?

  • Sie kritisieren eine Mitarbeiterin vor den Augen ihrer Kollegen heftig, nachdem sie einen Fehler zugegeben hat. Die Kollegen werden die Lehre ziehen und vorsichtig damit sein, einen Fehler zuzugeben.
  • Sie tun das Gleiche unter vier Augen­ … die Mitarbeiterin wird dafür sorgen, dass alle Zuschauer nachträglich „informiert“ werden. Was in der Regel die Sache noch etwas dramatischer ausfallen lässt.
  • Sie entlassen einen Mitarbeiter wegen Unfähigkeit, nachdem Sie ihn erst kürzlich gelobt hatten. Alle Zuschauer werden wissen, dass ein Lob von Ihnen also nicht beim Nennwert genommen werden kann und man Ihnen gegenüber lieber vorsichtig sein sollte.
  • Sie besetzen eine Stelle direkt von außen, ohne interne Bewerber in Betracht zu ziehen. Alle Internen werden sich abgewertet vorkommen, selbst wenn sie sich ausnahmslos alle gar nicht auf die Stelle beworben hätten.

Führung ist bekanntlich kein Beliebtheitswettbewerb. Sie dürfen sich also sicher nicht dadurch leiten lassen, es allen recht machen zu wollen. Aber Sie sollten in Ihr Kalkül immer auch einbeziehen, was Sie mit einer Maßnahme, einer Aktion oder einer Kommunikation (respektive mit einem Verzicht darauf) bei welchen Zuschauern auslösen. Und dann können Sie sich immer noch dafür entscheiden, auch Buh-Rufe aus bestimmten Ecken in Kauf zu nehmen.

Kritisiert und getadelt zu werden, ist noch lange kein Führungsmanko. Wichtig ist freilich, von den Richtigen kritisiert und getadelt zu werden. Respektive bei den Richtigen gelobt zu werden und akzeptiert zu sein.

Damit wirds nun tricky: Wer sind für Sie die „Richtigen“ (für Lob oder für Tadel)?

Diese Frage kann naturgemäß nicht generell beantwortet werden. Naheliegende Kandidaten wie Ihre Mitarbeiter oder Ihre Chefin zählen keineswegs automatisch dazu, obwohl sie in jedem Fall für Sie wichtig sind. Nur – wichtig und richtig ist nicht das Gleiche. Wenn Ihr Chef „unfähig“ ist, sollten Sie nicht auf sein Lob aus sein. Wenn Sie eine „faule“ Mitarbeiterin zu Recht tadeln, dürfen Sie nicht mit deren Applaus rechnen. Wenn ein „ewiggestriger“ Mitarbeiter Ihren Reorganisationsvorschlag tadelt, ist das zwar noch nicht gerade ein Beweis dafür, dass Sie recht haben, aber es muss Sie zumindest nicht besonders beunruhigen.

Die Franzosen kennen den Ausdruck „pour la galerie“, was wir frei mit „etwas für die Füchse tun“ übersetzen dürfen. Will heißen, nur auf die Zuschauerränge zu schielen, macht noch keine gute Aufführung. Das ist bestimmt richtig. Allerdings ist es ebenso keine gute Auf-Führung (!), wenn man sich einen Deut darum kümmert, was die Zuschauer wohl davon halten.

Kurzum: Sind Sie sich im Klaren, für welches Publikum Sie spielen?

Stellen Sie sich diese Frage nicht grad ständig (sonst werden Sie entweder unsicher oder affektiert), aber stellen Sie sie sich bei heiklen Entscheiden oder Maßnahmen. Es kann Ihnen helfen, hinterher nicht ganz so überrascht zu sein, wenn Sie erkennen, aus welcher Ecke Applaus kommt und wer Buh schreit. Bedenken Sie auch die Rückkoppelungen, welche die Reaktion der Zuschauer auf Ihre Führung, auf Ihr Führungsselbstverständnis und auf die Wirkung Ihrer Führung haben kann. Für Sie kann daraus ebenso gut Rücken- wie auch Gegenwind entstehen. Auf den Einzelfall kommt es an – und darauf, dass Sie ihn richtig zu lesen verstehen.

Nicht vergessen: Wie in der Politik kann uns ein Buh eines Feindes ebenso stärken und erfreuen wie das Bravo eines Freundes. Nur umgekehrt ist ganz verkehrt.

Führungsbrief 57 – Schubladen

„Es gibt solche und solche. Aber mehr solche als solche.“ So sagt es ein Sponti-Spruch, an irgendeine Wand gekritzelt. Er könnte auch an der Wand des Büros von Führungskräften stehen, die eben begeistert aus einem Seminar zurückgekommen und „alles“ über die menschliche Persönlichkeit gelernt haben. Testverfahren inbegriffen. Nun wissen sie: Es gibt Blaue und Grüne und Gelbe und Rote, und dass der Meier mit dem Müller nicht kann, ist völlig klar, wenn man erst einmal weiß, dass dieser ein Grüner und jener ein Roter ist. Wahlweise kann anstatt einer solchen Vierfruchtkonfitüre auch ein System von einzelnen Buchstaben stehen, aus denen der Eingeweihte dann alles Nötige ersehen kann, zum Beispiel ENBT oder so. Ich will ja keine Schadenersatzklage am Hals haben, deshalb verzichte ich hier darauf, die Namen dieser „wissenschaftlichen“ Tests zu nennen, die sich offenbar größter Beliebtheit im Management erfreuen.

Lassen Sie es mich klar sagen: Auch wenn es selbstredend zu Ihren Aufgaben als Führungskraft gehört, Menschen einschätzen und beurteilen zu können – Tests zur Messung der Persönlichkeit sind Sache von ausgebildeten Psychologen. Und zwar solchen, die sich darauf spezialisiert haben und erfahren sind. Für alle anderen – insbesondere alle Nicht-Psychologen – gilt: Finger weg!

Ich will Sie hier nicht damit langweilen, dass und warum die fürs Management popularisierten Verfahren häufig völlig untauglich sind. Ich will auch nicht über die „Kollegen“ herziehen, die damit ihr (Ihr!) Geld verdienen. Mich interessiert hier vielmehr, warum in Sachen Persönlichkeitsdiagnostik so viele Führungskräfte offenkundig auch mit dem größten Hokuspokus zufrieden sind. Und Hokuspokus ist es nun mal, wenn man die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten auf eine Handvoll Schubladen respektive Etiketten reduziert und die damit zugeschriebenen Eigenschaften auch noch für unveränderlich hält. Das sind meine Hypothesen über diese Unaufgeklärtheit:

  • Schubladen, in denen man etwas ablegen und versorgen kann, sind sehr bequem, denn damit wird man es gewissermaßen los. Das gilt freilich auch dann, wenn man etwas in die falsche Schublade gelegt hat.
  • Schubladen reduzieren Komplexität. Man kann etwas immer nur in die eine oder die andere Schublade legen. Das macht manches einfacher.
  • Mehr als vier Schubladen sind anstrengend zu merken. Dem kommen all diese „Vier-Farben-(oder Buchstaben)-Persönlichkeitslehren“ auf freundliche Weise entgegen.
    Etiketten haben Voodoo-Kräfte: Etwas benennen zu können vermittelt die Illusion, es zu beherrschen. Das ist der Rumpelstilzchen-Mythos.
  • Das Attribut „wissenschaftlicher Test“, das sich viele dieser Trivialmethoden ungeniert umhängen, erlaubt das Gefühl, auf sicherem Boden zu stehen und mehr zu wissen als andere.

Hand aufs Herz: Glauben Sie wirklich, vier (von mir aus auch sechzehn) Persönlichkeits-„Typen“ seien ausreichend, um die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten zu beschreiben? Oder umgekehrt gefragt: Wären Ihnen lediglich zwei zu wenig, obwohl Sie mit vier dann durchaus zufrieden sind?

Zwei Schubladen reichen ja weit! Als ich gerade den Eintritt in die Pubertät suchte und mein Bruder bereits den Austritt daraus, erklärte er mir, es gäbe zwei Typen von Menschen: „Mössiös“ und „Gumpis“. Die wenigen, die zu den Mössiös zählten, kamen draus. Die vielen anderen, die Gumpis, nicht. Reicht doch eigentlich auch als Persönlichkeitstheorie, oder etwa nicht?

Die schreckliche Vereinfachung, auf welche die meisten dieser Hobby-Persönlichkeitstheorien bauen, ist zwar ebenso dumm wie ärgerlich, aber nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche Problem liegt in den Folgen für die Beziehungsgestaltung, die das Kernstück jeglicher Führung bildet:

Wer Menschen klassifiziert – es dürfen auch astrologische Sternzeichen oder Kantonszugehörigkeiten oder ganz einfach das Geschlecht sein –, der gestaltet seine Beziehung nicht mehr zu den jeweiligen Menschen respektive Persönlichkeiten, sondern zu dem Typus, mit dem er diese Menschen etikettiert hat. Da er „weiß“, wie diese Menschen sind und funktionieren, behandelt er sie entsprechend. Treten sie faktisch aber anders auf als erwartet, so ist das entweder die Ausnahme, welche die Regel bestätigt, oder es ist kein authentisches Verhalten – was dieser Person natürlich postwendend anzukreiden ist.

All dies führt dazu, dass man nicht mehr wirklich hinschaut und hinhört. Man ist nicht mehr bereit, darauf zu achten, was jemanden bewegen könnte, das zu tun oder zu lassen, was er tut oder lässt. Denn man sieht nur noch das, was man eh schon „weiß“.

Natürlich muss auch schubladisieren und klassifizieren, wer ganz genau hinschaut und hinhört. Aber er beschriftet seine Schubladen erst in dem Moment und nur für diese Situation. Er ist offen dafür, dass ein Mensch morgen andere Facetten zeigen kann als heute. Und er schließt nicht vom einmal beobachteten Verhalten auf jedes weitere.

Für Führungskräfte ist es matchentscheidend, Menschen gut einschätzen zu können. Man muss die verschiedenen Seiten eines Menschen in verschiedenen Situationen wahrnehmen können. Nicht nur, um ihn zu verstehen. Sondern vor allem, um mit ihm adäquat interagieren zu können. Warum ist ein Roman spannender, wenn seine Figuren genauer gezeichnet sind als etwa in früheren Western, wo die Bösen allesamt schlechte Zähne hatten, sodass sie unschwer zu erkennen waren? Weil wir selbst auch nicht nur entweder gut oder böse sind. Weil wir um unsere eigene Vielfalt wissen und andere Menschen nur dann begreifen können, wenn wir sie ebenfalls differenziert beurteilen. Wissenschaftlichkeit ist dafür im Alltag weder möglich noch sinnvoll. Unwissenschaftlicher Hokuspokus freilich ist dennoch keine Alternative, sondern ist unseriös. Was Sie brauchen, ist eine gute Beobachtungsgabe und eine gehörige Portion Offenheit gegenüber anderen.

Als Führungskraft wollen und müssen Sie Menschen auch beeinflussen. Wenn Ihre Kenntnis dieser Menschen auf fragwürdigem Fundament steht, wird Ihre Beeinflussung bloß holzhammermäßig möglich sein.

Es wäre schade, wenn Sie sich selbst der Möglichkeiten berauben würden, die sich ergeben, wenn Sie gelernt haben, Menschen achtsam und mit Gespür, genau und differenziert wahrzunehmen – und zwar jeden Tag neu, damit Sie nicht auf Ihre falsche Schubladisierung von gestern hereinfallen.

Führungsbrief 56 – Eigenverantwortung

Nicht wenige Vorgesetzte bringen das Kunststück fertig, ganz alleine ein Duett zu singen: Ihre erste Stimme singt das Lied „Ich trage hier schließlich die Verantwortung, und deshalb entscheide ich“, während gleichzeitig ihre zweite Stimme trällert: „Jeder muss hier seine Eigenverantwortung wahrnehmen.“ Irgendwie bezweifle ich, dass dieses Duett harmonisch klingt.

Verantwortung ist etwas von außen Zugeschriebenes, das eine Person dann aber übernehmen kann. Man erklärt also jemanden für verantwortlich für etwas und droht damit, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, wenn die Sache nicht so rauskommt, wie man sich das gewünscht hat. Wer in diesem Sinne die Verantwortung übernommen hat, erklärt sich bereit, dafür geradezustehen, wenn etwas schiefgeht. Verantwortung ist das, was die moderne Managementlehre stets zur Deckung bringen möchte mit der zugehörigen Aufgabe sowie einer dazu passenden (Entscheidungs-)Kompetenz (dass dieses A|K|V in vielem eine Illusion ist, muss ein anderes Mal besprochen werden). Es ist der Hintergrund dafür, dass viele so gerne auf ihre Verantwortung pochen, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollen.

Anders der Begriff Eigenverantwortung. Obwohl von „oben“ gerne eingefordert, kann man Eigenverantwortung nur selbst wahrnehmen. Eigenverantwortung kann nicht von außen definiert oder zugeschrieben werden. Eigenverantwortung ist das subjektive Gefühl, für etwas zuständig zu sein.

Es ist eines dieser subjektiven Gefühle, die man jemandem von außen blitzschnell ansieht. Wir spüren sofort, ob sich ein Kellner oder eine Empfangsdame oder jemand vom Help-Desk wirklich dafür zuständig fühlt, etwas für uns zu tun. Und auch den umgekehrten Fall spüren wir auf unangenehme Weise sofort. Im positiven Fall, wo jemand wirklich Eigenverantwortung wahrnimmt, da sehen wir Engagement, inneres Feuer, Freude am Erfolg, den unbedingten Willen, ein Problem zu lösen, und die berühmte Bereitschaft zur Extra-Meile, auf die es häufig ankommt. Eine durch und durch gefreute Sache also, die erst noch den überaus schönen Nebeneffekt hat, dass diejenigen, die eine solche Eigenverantwortung empfinden, auch viel mehr Befriedigung in ihrer Arbeit erfahren als jene, denen alles egal ist.

Dies gilt insbesondere auch dort, wo jemand mehr Eigenverantwortung wahrnimmt, als der ihm zugeschriebenen Verantwortung entspricht. Zum Beispiel, weil er das große Ganze berücksichtigt. Oder weil er im Geiste einer übergeordneten Idee handelt. In diesem Fall zeigt Eigenverantwortung sich von ihrer besten Seite – entstamme sie nun einfach der Persönlichkeit desjenigen, der so viel Eigenverantwortung zeigt, oder einer inspirierenden Führung, die ihn dazu ermutigt.

Dieser positive Fall ist aber nicht zu verwechseln mit dem Fall, wo sich Menschen für Dinge zuständig fühlen, für die sie nun wirklich nicht zuständig sind. Zum Beispiel einfach für alles! Das ist nämlich keiner. – Dies soll hier aber nicht vertieft werden.

Fragen wir uns umgekehrt, wie es kommt, dass sich immer wieder tatsächlich Zuständige ganz und gar nicht zuständig fühlen, obwohl doch Eigenverantwortung mit viel Zufriedenheit einhergeht. Mangel an Eigenverantwortung liegt entweder daran, dass jemand schlecht eingestellt, schlecht informiert oder schlecht geführt ist:

  • Zum ersten Fall: Es gibt in der Tat Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her dazu neigen, sich nicht verantwortlich zu fühlen. Diesen Fall muss ich aber Ihnen als Vorgesetzten einer solchen Person anlasten, denn solche Menschen hätten Sie gar nicht erst anstellen dürfen. Das Gefühl, verantwortlich zu sein, braucht es auf jeder Stufe – keine einzige Aufgabe ist so klein oder unwichtig, dass es dies nicht bräuchte (oder aber die Aufgabe ist schlicht überflüssig).
  • Zum zweiten Fall: Es gibt Menschen, die nicht recht wissen, wofür sie verantwortlich sind und wofür sie sich eigenverantwortlich fühlen müssten. Auch diesen Fall müssen Sie als Vorgesetzter einer solchen Person auf Ihre Kappe nehmen, denn Sie haben es versäumt, die entsprechende Verantwortung klar zu definieren, zu kommunizieren und einzufordern. Eigenverantwortung setzt ja durchaus Verantwortung voraus.
  • Dass ich Ihnen als Vorgesetztem auch den dritten Fall, schlechte Führung, anlasten will, wird Sie nicht überraschen. Ich möchte diesen Fall aber etwas ausmalen.

Bitte gestatten Sie mir einen kurzen Ausflug in ein Flugzeug-Cockpit. Wenn eine Besatzung aus Kapitän und Kopilot besteht, dann ist zwar der Kapitän der Chef, aber unabhängig davon ist immer nur einer der beiden der „Pilot Flying“ (PF). Der andere (das kann auch der Kapitän sein) ist der „Pilot Non-Flying“ (PNF). Nur der PF fliegt das Flugzeug. Der PNF macht den Funk und unterstützt den PF mit verschiedenen anderen Dingen. Die Rollen können durchaus während des Flugs wechseln, aber sie müssen zu jedem Zeitpunkt absolut klar sein. Wenn der PNF einfach so ins Steuer greift, dann ist die Katastrophe schon ziemlich gut vorbereitet. Piloten wissen das. Eingreifen geht nur, wenn man gleichzeitig klarstellt, dass man jetzt die Verantwortung übernimmt: „My controls“, ruft dann der PNF, und der bisherige PF quittiert mit „your controls“ und nimmt die Hände vom Steuer. Damit haben PF und PNF gewechselt. Und vor allem hat das Gefühl gewechselt, für das Fliegen des Flugzeugs Eigenverantwortung zu haben.

Ich bin der Überzeugung, dass der häufigste Fall in der Führung, wo Menschen ihre Eigenverantwortung nicht wahrnehmen, daher rührt, dass sich jemand irgendwann nicht mehr als PF fühlt, weil ihm von oben (vom PNF!) immer wieder unangekündigt und unausgesprochen ins Steuer gegriffen wird. Und schnell setzt ein Teufelskreis ein, da der vermeintliche PNF sieht, dass die Dinge tatsächlich nicht laufen wie gewünscht, sodass er das Steuer wieder selbst in die Hand nehmen zu müssen glaubt.

Wo immer Sie also der Meinung sind, dass jemand in Ihrem Team keine Eigenverantwortung zeigt, klären Sie ab, in welche der drei genannten Kategorien er oder sie gehört. Diese Abklärung und das, was daraus folgt, gehören absolut in Ihre Eigenverantwortung: Seien Sie personell konsequent im ersten Fall. Klären Sie mit allen Beteiligten im zweiten Fall die wirklichen Zuständigkeiten. Und enthalten Sie sich im dritten Fall von unerlaubten Eingriffen ins Steuer des PF. Wo solche aber unvermeidlich sind, da machen Sie sofort und unmissverständlich klar, dass und warum Sie das Steuer übernommen haben – und sagen Sie es laut und vernehmlich, wenn Sie es wieder zurückgeben.

Sonst ergeht es Ihnen wie jener Flugzeugbesatzung einer Boeing 747, die nach einem Flug mit viel dicker Luft und immer unklareren Zuständigkeiten im Cockpit eine hitzige Aussprache hatte. Zu guter Letzt lenkte der Kapitän ein, fügte jedoch hinzu: „Aber eines müssen Sie zugeben: Das war die schlechteste Landung, die Sie je geflogen sind.“ Darauf der Kopilot: „Wieso ich? Sie sind doch geflogen!“

Führungsbrief 55 – Gut

Eine bestechende Idee im Management aus dem letzten Jahrhundert betrifft den „Kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ (KVP), oft in der japanischen Version unter dem wohlklingenderen Namen Kaizen. Die Dinge einfach laufend verbessern! In kleinen Schritten zwar, aber Tag für Tag. Kein Manager mehr heute, der dieses Gedankengut nicht predigen und einfordern würde. Kaum jemand freilich, der es – bezogen auf sich selbst! – tatsächlich auch tut.

Die zur Selbstverständlichkeit gewordene Forderung, dass alles ständig besser werden sollte, ist in Wahrheit der Tod jedes erfolgreichen Change Managements. Lesen Sie diesen Satz noch einmal!

Wenn nichts gut, sondern alles nur einen Schritt davor ist, besser zu werden, dann ist die einzig vernünftige psychologische Reaktion ein Widerstand auf der ganzen Breite. Denn, wer immer alles verbessern will, der verzettelt sich völlig, der arbeitet nur noch am System (Reorganisation, Restrukturierung usw.), ohne dass er je dazu käme, im System zu arbeiten (das tägliche Geschäft betreiben).

Wir müssen uns an dieser Stelle klar darüber werden, dass der Zeitgeist von einem völlig falschen Verständnis von Wandel ausgeht. Die Veränderung sei das einzig Konstante, alles sei im Fluss, Stillstand sei Rückschritt und was der Plattitüden mehr sind. Das ist, mit Verlaub, Quatsch. Denn:

Komplexe Systeme funktionieren nur, solange sie aktiv ein stabiles Ordnungsmuster aufrechterhalten können. Das gilt für menschliche Gehirne genauso wie für Organisationen. Veränderungen kommen vor und sind mitunter aufgrund veränderter Bedingungen oder Ziele zwingend, aber sie bedeuten eine krisenhafte Störung der Stabilität des Ordnungsmusters, die nur zugelassen wird, um möglichst rasch auf einem besseren Ordnungsmuster wieder Stabilität erlangen zu können. Nur in den Phasen der Stabilität ist ein komplexes System leistungsfähig. Nicht während seines Umbaus.

Bildhaft: Es mag sein, dass eine neue Tapete schöner wäre als die alte. Das Gleiche wird man von der neuen aber auch wieder sagen können. Wenn Sie als Folge dieser Einsicht nun sofort frisch tapezieren und, noch bevor die Sache getrocknet ist, eine neue Tapete darüber kleben und dann die nächste – dann resultiert nicht die schönste Stube aller Zeiten, sondern eine ewige Baustelle, in der sich nicht wohnen lässt, und eine gute Wahrscheinlichkeit, dass Ihnen der ganze Wandschmuck eines Tages, ratsch, entgegenfällt.

Stabilität (und hier greift das Tapetenbeispiel natürlich nicht mehr) bezieht sich nicht auf die Elemente eines Systems, sondern auf das System selbst: Ein Großraumflugzeug liegt stabil in der Luft, weil (und nicht obwohl) tausend Dinge darin in heftigster Bewegung sind. Es wird ununterbrochen Kerosin umgepumpt, um die Bewegungen der Leute im Flugzeug statisch auszugleichen. Es gibt vielerlei Steuerungsausschläge, um den Einfluss von Wind und Turbulenzen auszugleichen. Und so weiter. Stabilität einer Organisation heißt also nicht, dass der einzelne Mitarbeiter sich nicht mehr bewegen muss. Im Gegenteil! Ein gesundes, denkfähiges Gehirn setzt sich auch nicht aus ruhenden Gehirnzellen zusammen, sondern aus einer Unzahl von „wild“ feuernden Neuronen, die aber insgesamt ein geordnetes Muster bilden.

Ob eine Organisation eine leistungsfähige Stabilität oder einen tödlichen Stillstand darstellt, hängt davon ab, ob ihr Ordnungsmuster funktional ist. Funktional bedeutet „gut für einen bestimmten Zweck“. Alles hängt damit also von der Frage ab, was gut heißt:

  • „Gut“ ist nie absolut und abschließend zu definieren. Essig ist gut, wenn er in die Salat­sauce soll; nicht gegen Durst. Und ob der Essig für den Salat auch wirklich gut ist, hängt davon ab, wie und woraus er gemacht wurde, für welchen Salat er sein soll und welchen Geschmack die Essenden haben.
  • „Heute gut“ heißt noch lange nicht „morgen gut“. Die Beurteilung kann sich ändern.
  • „Gut“ bedeutet nicht „perfekt“ – und die Tatsache, dass etwas noch besser werden könnte, heißt keineswegs, dass es nicht gut ist.
  • Auch wenn man etwas besser machen könnte als „gut“, ist das deshalb vielleicht dennoch keine gute Idee, weil der Preis dafür zu hoch ist, sodass eine Vollkostenrechnung zum Schluss käme, dass „besser“ in dem Falle schlechter wäre.
  • „Gut“ darf nicht nur attraktiv sein, wenn man es nicht hat, sondern (wenigstens eine Zeitlang) auch dann, wenn man es erreicht hat.
  • Auf etwas Gutes hinzuarbeiten, macht nur Spaß, wenn man eine allmähliche Näherung erkennen kann und das Erreichen des Guten nicht aussichtslos ist. Auf einer Wanderung, bei der man an seine Leistungsgrenze kommt, ist nichts frustrierender, als wenn nach jedem Zwischengipfel wieder ein neuer auftaucht, von dem man ebenfalls meint, er sei das ersehnte Ziel.

Change Management muss solche Überlegungen berücksichtigen. Warum soll ich mich darauf einlassen, mühsam etwas besser zu machen, wenn ich schon jetzt weiß, dass das Ergebnis niemals als gut gelten wird? Wenn es nur die Latte höher legt für das nächste Bessermachen? Change Management muss fokussieren auf das, was geändert werden soll und gleichzeitig klarstellen, was vorderhand als gut gilt. Nicht nur bezogen auf Bestehendes, sondern auch auf Angestrebtes.

Dazu muss man Change Management vielleicht anders als üblich betonen: Change Management. Denn es sind häufig die obersten Manager, die befürchten, wenn sie etwas für gut erklären würden, dann würde sich überhaupt niemand mehr anstrengen, und alle würden sich nur noch auf den Lorbeeren ausruhen.

Diese Manager benehmen sich teilweise wie weiland Millionen von chinesischen Bauern: Sie mussten nach einer Missernte auf Befehl des Großen Vorsitzenden Mao Zedong zur genau gleichen Zeit mit Kind und Kegel auf ihre Felder und dort mit Pfannen und Deckeln während Stunden einen derartigen Höllenlärm machen, dass sich die Spatzen nirgendwo mehr hinsetzen konnten, sondern in ihrer Panik in der Luft flatterten, bis sie tot vom Himmel fielen. Diese Art von Change Management, obwohl augenscheinlich wirksam, erwies sich freilich nicht als besonders gut. Denn im Jahr darauf fraßen Schädlinge, nun ohne Spatzen als ihre natürlichen Feinde, die Ernte.

Es gilt auch hier: Nicht die gute Absicht zählt. Nur die gute Wirkung ist gut.

Führungsbrief 54 – Führung als Beruf

Auf einer Party, in einer Bar, am Strand: Was antworten Sie auf die unvermeidliche Frage nach Ihrem Beruf? Wenn Sie Lehrer wären, sagten Sie wohl „Lehrer“. Wären Sie Schreiner, sagten sie wohl „Schreiner“. Wären Sie dagegen Stadtrat, sagten Sie wohl „Stadtrat“ – obwohl dies ein Amt und kein Beruf ist. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass Sie, da eine Führungskraft, gar keinen echten Beruf nennen, sondern sagen: „Ich arbeite bei­ …“. Vielleicht fügen Sie hinzu: „Ich bin dort verantwortlich für­ …“. Und möglicherweise geben Sie noch an, wie viele Menschen Ihnen hierarchisch unterstellt sind. Nur – einen Beruf haben Sie damit nicht genannt. Selbst wenn Sie mit einem leisen Lächeln hinzufügen: „Gelernt habe ich ja mal Kaufmann/Ingenieur/Techniker/Jurist/Informatiker.“

Natürlich ist nicht wesentlich, was Sie auf die Frage nach Ihrem Beruf sagen. Ich selbst gebe im Hotel auch immer „Anthropophage“ an – einfach weil ich finde, das gehe die nichts an. Wesentlich ist aber, was Sie als Ihren Beruf empfinden. Denn Beruf ist ja nicht primär eine Frage der Grundausbildung. Der Beruf ist eine Frage der Berufung – und das hat viel mit der persönlichen Identität zu tun, die im täglichen Handeln immer durchschimmern wird.

Es ist ein Unterschied, ob jemand­ …

  • sich für einen Techniker hält, der als Chef einer technischen Abteilung „nebenbei“ auch noch Leute führen muss, oder ob jemand­ …
  • sich für einen Manager hält und dies primär als eine Planungs-, Organisations-, Koordinations- und Entscheidungsaufgabe versteht, von der hierarchisch unterstellte Mitarbeiter über eine Befehlslinie betroffen sind, oder ob jemand­ …
  • sich als Führungskraft versteht, die mittels Menschenführung andere dazu bringt, einzeln wie als Gruppe mehr und Besseres zu leisten als das, wozu sie auch ohne Führung imstande wären.

Nur wer sich zur Führung berufen fühlt, wird Letzteres tun – oder zumindest anstreben.

Zwar werden Führungskräfte in ihre Funktion befördert, aber nicht berufen. Berufung kann nur eine innere Überzeugung sein und hängt von keiner fremden Einschätzung ab. Natürlich gibt es Leute, die genau erst in dem Moment, in dem man sie in eine Führungsposition hievt, das Gefühl entwickeln, sie seien dazu berufen. Das dürfte aber fast immer eine von außen auflackierte falsche Selbsteinschätzung sein. Und die Leute, die sich schon berufen fühlen, bevor auch nur irgendjemand daran denkt, sie zu befördern, die leiden nicht selten an Selbstüberschätzung (auch wenn der Wille zur Führung tatsächlich eine Notwendigkeit für eine Führungskraft darstellt!).

Ein gesundes Gefühl, zur Führung berufen zu sein, entsteht wohl erst im Laufe der Jahre. Nach vielen guten und weniger guten Erfahrungen. Nach Erfolgen und Misserfolgen. Und aufgrund des wiederholten Entschlusses, seine Führungsaufgabe morgen etwas besser als gestern zu erfüllen.

Wer sich aber zur Führung berufen fühlt, wer also Führung als seinen Beruf versteht, der sollte all das tun, was sich für einen guten Berufsmann (Frauen eingeschlossen) von alters her geziemt:

  • Er ist stolz auf seinen Beruf und übt ihn gerne aus.
  • Er will gut sein in seinem Beruf und hat den Ehrgeiz, stets noch besser zu werden.
  • Er interessiert sich dafür, was Berufskollegen tun und womit sie erfolgreich sind – und er sucht nicht bloß danach, wo sie schlechter sind als er oder eben auch nur mit Wasser kochen.
  • Er nimmt zur Kenntnis, was Fachleute in seinem Berufsgebiet zu sagen haben.
  • Er anerkennt Meister und strebt selbst Meisterschaft an.

Nicht wahr, das ist nicht genau das, was die Identität der meisten heutigen Führungskräfte beschreibt. Über diese wäre eher zu sagen,

  • dass sie meistens gestresst sind,
  • dass sie getrieben sind von Zeitvorgaben und fremden Einflüssen,
  • dass sie vor allem tun, was sie müssen, nicht, was sie wollen,
  • dass sie sich eher als Opfer denn als Schöpfer sehen,
  • dass sich ihre Freude und ihr Stolz über das, was sie tun, oft etwas gar in Grenzen halten.

Was ist das für ein Beruf? Sklave, Galeerenruderer, Knecht­ … Sehen Sie sich so? Hoffentlich nicht!

Es liegt an Ihnen, sich Ihre Identität zu zimmern. Der Anfang davon ist ganz einfach: Sie müssen wissen, als was Sie sich verstehen. Wenn Sie Führung als Ihren Beruf verstehen, dann prägt das nicht nur, was Sie tun, sondern auch, wie Sie es tun. Und es ist die Basis dessen, was Sie aus Ihrer Arbeit ziehen können – hinsichtlich Sinn, Bedeutung, Achtung, Wertschätzung und Erfolg.

Es ist ein wenig wie bei diesen Kipp-Bildern aus der Psychologie der optischen Täuschungen: Man sieht entweder eine alte Frau oder ein junges hübsches Mädchen. Und wenn man mal beides erkannt hat, kann man entscheiden, was man sehen will. Und das wird dann zur Figur, während der Rest zum Hintergrund wird. Am Gesamtbild hat sich objektiv nichts verändert, aber subjektiv sehr viel.

Werden Sie sich klar, worauf Sie Ihre berufliche Identität bauen und wozu Sie sich berufen fühlen. Wollen Sie Ihre Führungstätigkeit als Figur im Vordergrund haben und aus allem anderen den unvermeidlichen Hintergrund machen – oder aber umgekehrt?

Wenn Sie nicht Führung als Ihren Beruf sehen, dann sind Sie heute womöglich im falschen Film. Es tut mir leid, dies so deutlich zu sagen. Aber genau das kann sein, und davor sollten Sie Ihre Augen nicht bloß deshalb verschließen, weil Sie die Konsequenzen fürchten.

Wenn Sie aber Führung als Ihren Beruf sehen – dann wünsche ich Ihnen gute Fortschritte auf dem Weg zur Meisterschaft. Dieser Weg ist lang, nicht immer leicht, stets aber lohnend – vorausgesetzt, es ist wirklich Ihr Weg.

Führungsbrief 53 – Vorurteile

Bevor ich, wie Sie das sicherlich erwarten, hier deutsch und deutlich gegen Vorurteile zu Felde ziehe, muss ich – leider – das Hohe Lied der Vorurteile singen.

Die Psychologen wissen es schon längst, und die Hirnforscher liefern derzeit fast täglich neue Belege dafür: Die großen Leistungen unseres Gehirns in Sachen Wahrnehmung und Urteilsvermögen entstehen allesamt auf der Basis von Vorurteilen. Unsere Psyche (oder unser Gehirn, was immer Sie lieber mögen) „weiß“ immer schon im Voraus, was sie zu erwarten hat. Wenn die Sache dann eintritt, braucht sie nur noch einen kurzen Bestätigungscheck: „Siehste, wusst’ ich’s doch!”

Das ist ungeheuer effizient, macht uns schnell und spart Energie. Es ist die Form, Erfahrungswissen überhaupt nutzbar zu machen. Stellen Sie sich vor, wir würden das nicht nutzen: Sie müssten bei jedem Stuhl zuerst prüfen, ob er Ihr Gewicht trägt.

Zudem haben Vorurteile auch Vorteile: Etwa wenn Sie aufgrund Ihrer Vorurteile in bestimmten Städten nachts nicht allein herumlaufen – obwohl auch da die Verallgemeinerung wohl kaum stimmt, dass Ihnen lauter Bösewichte begegnen würden. Dennoch bleiben Sie so auf der sicheren Seite. Dass Sie damit gleichzeitig vielleicht nette Erfahrungen ausschließen, lässt sich verkraften.

Natürlich ist mir klar, dass Sie unter Vorurteilen nicht die Tatsache verstehen, dass wir aufgrund unseres Erfahrungswissens mindestens hierzulande annehmen, dass ein Stuhl stabil ist oder dass Sie bestimmte Stadtteile besser meiden sollten. Sie denken an Vorurteile von der Art „Männer sind rational“ oder „Frauen sind sensibler“ oder „Deutsche sind pingelig“ oder „Blondinen sind dumm“ (bitte setzen Sie hier ein, was Sie am meisten nervt).

Wichtig ist aber zu erkennen, dass es dieselben hoch effizienten psychologischen Mechanismen sind, die hier spielen, wie beim Stuhl und seiner erwarteten Stabilität. Das heißt, es ist nicht der Meccano der Vorurteile, der problematisch ist, sondern unsere Unbelehrbarkeit bezüglich lieb gewonnener Vorurteile.

Keiner von uns hat ein Problem damit, ein Vorurteil zu verwerfen, wenn es einfach auf einer irrtümlichen Annahme beruht und berichtigt werden kann. Spätestens, wenn uns eine kluge Blondine dann doch ihr Herz geschenkt hat.

An lieb gewordenen Vorurteilen aber halten wir beharrlich fest.

Bekanntlich hat alles seinen Preis. Der Preis fürs Festhalten an lieb gewordenen Vorurteilen ist das Verschenken von Optionen. Wir verschenken uns die Möglichkeit,

  • Menschen und persönliche Facetten an ihnen immer wieder neu zu entdecken,
  • Meinungen und Entscheide aus einer anderen Optik zu beleuchten und
  • Zukunft unbelastet von Vergangenheit neu gestalten zu können.

Ist das nicht ein etwas teurer Preis? Vor allem für Sie als Führungskräfte, die Menschen treffend beurteilen können sollten, die täglich Entscheide treffen müssen und die die Zukunft von Unternehmen (mit-)gestalten wollen? Vor allem, da auf der anderen Seite Ihrer Bilanz nur gerade ein kleinwenig Zeitgewinn steht: Sie müssen ja weniger denken, wenn Sie aufgrund Ihrer Vorurteile das Resultat immer schon im Voraus kennen.

Gleichzeitig sind aber die Zutaten im Rezept gegen unsere Vorurteile auch nicht gerade eine Selbstverständlichkeit:

  • Wir brauchen Neugier. Wir müssen einfach Lust darauf haben, Dinge zu sehen und zu erfahren, die wir noch nicht kennen. Ohne die Gewähr, dass uns dieses Wissen etwas nützt.
  • Wir dürfen keine Angst haben. Wir brauchen die Gelassenheit, Dinge auch dann erfahren zu wollen, wenn sie hinterher unsere Entscheide verkomplizieren. Zum Beispiel einfach dadurch, dass wir sie noch einmal überdenken müssen.
  • Wir brauchen Offenheit. Nur wenn wir uns bewusst sind, dass unser ganzes Denken stark von Vorurteilen durchzogen ist, sind wir fähig, die Frage zu stellen, ob etwas denn nicht auch ganz anders sein könnte, als es uns zunächst erscheint. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich Vorurteile nicht wie Vorurteile „anfühlen“. In unserem Kopf erscheinen sie uns eher als Gewissheiten. Offenheit ist kein Problem, solange sich mir Fragen stellen. Offenheit ist erst ein Problem, wenn ich schon alle Antworten zu kennen glaube.
  • Wir brauchen Intelligenz. Das mag arrogant klingen. Aber es sind nicht die gescheiten Antworten, die ein Zeichen von Intelligenz sind. Es sind die klugen Fragen. Und die wiederum sind der erste Schritt beim Abbauen von Vorurteilen.
  • Und nicht zuletzt brauchen wir Selbstsicherheit. Wer eine vermeintliche Gewissheit als sein eigenes Vorurteil entlarvt hat, muss selbstsicher genug sein, um seinen Fehler eingestehen zu können, ohne Angst davor zu haben, damit sein Gesicht zu verlieren.

Wie gesagt, die Ingredienzien zu unserem Anti-Vorurteile-Rezept sind nicht ohne. Schön dabei ist aber, dass man sie verzinst bekommt: Wer sich aktiv mit seinen Vorurteilen auseinandersetzt, der gewinnt an Neugier, Angstfreiheit, Offenheit, Intelligenz und Selbstsicherheit. Kämen da noch Schönheit und Fitness dazu, wäre es glatt eine Wunderdroge!

Gehen Sie jeden Tag einmal über die Bücher und suchen Sie nach einem eigenen Vorurteil. Sie finden leicht eines in dem großen Schrank, in dem Sie Ihre Gewissheiten aufbewahren. Suchen Sie gezielt danach, ob Sie die entsprechende Sache nicht auch anders sehen/denken/beurteilen/handhaben könnten. Begegnen Sie Ihren relevanten Mitmenschen entsprechend, ihrer Lebenspartnerin oder ihrem Lebenspartner, ihren Kindern vielleicht, ihrer Chefin, ihren Mitarbeitern, ihrem bestgehassten Feind.

Ihre Neugier, Angstfreiheit, Offenheit, Intelligenz und Selbstsicherheit vorausgesetzt, werden Sie überraschende, interessante und alle Beteiligten weiterbringende Entdeckungen machen.

Wie sollte jemand erfolgreich den unternehmerischen Wandel bewältigen, wenn er alle und alles in die Schublade seiner gewohnten und geliebten Vorurteile steckt? Unser Gehirn setzt ja nur deshalb so sehr auf Vorurteile, weil es in einer Zeit gebaut wurde, als die Welt vergleichsweise stabil war. Das ist sie nun wirklich nicht mehr. Da kann es nur klug sein, dem eigenen (Vor-)Urteilsvermögen stets mit einem klitzekleinen Misstrauen zu begegnen. Und nicht nur, weil die Stabilität unseres Stuhls ja auch hierzulande zweifelhaft sein kann – etwa nachdem unser bester Kollege daran gesägt hat. Sondern auch deshalb, weil es mitunter der „unfähigste“ Mitarbeiter ist, auf dessen Idee wir vielleicht besser gehört hätten.

Führungsbrief 52 – Perspektivenwechsel

Waren Sie schon mal auf dem Mount Everest? Ich auch nicht. Aber dennoch können wir uns alle leicht vorstellen, dass die Welt von da oben anders aussieht als von hier unten. Schwieriger ist zu wissen, wie anders der Anblick wäre. Wer den Punkt, von dem aus er schaut, verschiebt, sieht auch anderes. Denken Sie an die ersten Satellitenbilder der Erde – der seit Menschengedenken erstmalige Anblick des blauen Planeten von außen hat auf einen Schlag verdeutlicht, was für ein empfindliches „Lebewesen“ unsere Welt ist. Ob wir daraus die richtigen Konsequenzen gezogen haben, ist frag­lich, gehört aber nicht hierher.

Wichtig ist mir hier, dass jeder Perspektivenwechsel zu neuen und nicht selten überraschenden Sichtweisen führt. Darauf sollten Sie in der Führung nicht verzichten.

Perspektiven sollten Sie nicht mit Meinungen verwechseln. Mit Meinungen verbunden ist die Frage des Rechthabens. Das ist mit Perspektiven nicht so. Perspektiven sind nicht wahr oder falsch. Sie können zwar sicherlich verzerrt sein, vor allem aber zeigen oder verbergen Perspektiven Aspekte. Und gleichzeitig gibt es keine Perspektive, die alle Aspekte zeigen würde.

Welches sind für Sie als Führungskraft wichtige Perspektiven?

  • Da gibt es zunächst sachliche Perspektiven: Sie müssen zum Beispiel vom Standpunkt der Unternehmensstrategie aus auf Ihren Aufgabenbereich blicken können. Oder Sie müssen vom Standpunkt der Finanzen aus Ihre eigene Kosteneffizienz beurteilen können. Oder Sie müssen aus der Optik Ihrer Kooperationspartner Ihre Zulieferleistungen reflektieren können.
  • Dann gibt es hierarchische Perspektiven: Sie sollten lernen, sich zwischendurch geistig zu be­fördern und Ihre Arbeit aus der Optik Ihres Chefs oder dessen Chefs anzuschauen. Umgekehrt sollten Sie ebenso gut in der Lage sein, Ihre Führungsarbeit aus der Perspektive von unten zu sehen und zu beurteilen. Sei das nun die Perspektive Ihrer direkt Unterstellten oder sogar die von (allen) Mitarbeitenden weiter unten.
  • Natürlich gibt es in jeder Zusammenarbeit die zwischenmenschlichen Perspektiven: Jede betei­ligte Person hat ihre eigene Perspektive. Diese verschiedenen Perspektiven decken sich nur im Ausnahmefall. Hier dürfte es am schwierigsten sein, zwischen Meinungen und Perspektiven zu unterscheiden. Jeder gute Verhandler/Taktiker/Pokerspieler/Machtmensch beherrscht aber ge­nau das. Auch Sie als Führungskraft sollten sich darin üben, selbst wenn es Ihnen fernliegt, je­manden auszutricksen oder über den Tisch zu ziehen.
  • Weiter gibt es ganz unterschiedliche „Währungen“ für Perspektiven: Sie können eine Problematik aus der fachlich-logischen Perspektive eines Experten betrachten. Sie können sie aus der Gewinner-Verlierer-Optik anschauen. Sie können die emotionale Seite fokussieren. Sie können historisch-erklärend auf eine Situation gucken. Sie können sich nach den beteiligten Interessen fragen. Es gäbe sicherlich noch weitere oft gehandelte „Währungen“.

Perspektivenwechsel ist freilich nicht „obligatorisch“. Man kann sich auch dagegen entscheiden. Lassen Sie mich nur die drei wichtigsten Argumente hierfür nennen:

Erstens ist ein Perspektivenwechsel oft leichter gefordert als vollzogen. Er kann misslingen und dann vielleicht mehr schaden als nützen. Und es gibt, wie gesagt, so viele Perspektiven, dass man ohnehin nie ein Problem von „allen“ Seiten beleuchten kann.

Zweitens widerstrebt es uns häufig, etwas auch noch aus einer anderen Perspektive zu beleuchten, da wir unbedingt wollen, dass das rauskommt, was sich aus unserer eigenen Perspektive ergibt. Wenn ich unbedingt einen großen Bereich führen will, dann will ich keine Argumente sehen, die begründen würden, warum ich etwas aus meiner Führungszuständigkeit abgeben sollte.

Drittens, wer den Perspektivenwechsel nach allen Seiten hin perfekt beherrschte, käme paradoxerweise in ein Lähmungsproblem: Denn alles vorauszusehen, kann hilflos machen. Wenn eine Füh­rungskraft wirklich gut durch die Augen auch jener zu sehen versteht, die unter einem anstehenden Entscheid leiden würden, wird sie womöglich immer unfähiger, diesen Entscheid auch zu fällen.

Wie nicht selten auch sonst im Leben, ist selbst beim Perspektivenwechsel also zumindest Maß gefragt. Niemand will ständig hinter Schränke gucken, aber bevor er eine Wohnung mietet, kann es lohnend sein, wenigstens einmal dorthin zu gucken: nur für den Fall, dass die Schränke Grau­schimmelwände verbergen.

Und jederzeit braucht es das Bewusstsein, dass die eigene Perspektive nicht die einzige ist.

Aber wenn man dieses Bewusstsein hat, dann kann man auch spielerisch den Perspektivenwechsel üben. Man kann sich die Dinge ganz gelassen aus einer anderen Perspektive betrachten – denn auch für die gilt ja, dass es nicht die einzige ist. Und wenn man dann, nach so einer perspektivischen Rundreise, will, kann man wieder zu der eigenen Perspektive zurückkehren.

Nicht selten wird man dann die Dinge aber zumindest etwas anders sehen. Es ist diese Innovations­kraft, die mir das „Werkzeug“ des Perspektivenwechsels so sympathisch macht.

Das gilt auch für die Größten: Albert Einstein war zweifellos höchst innovativ. Aber nicht aufgrund der naturwissenschaftlichen Herleitung seiner Theorie (er musste sich sogar von Kollegen helfen lassen, die ma­thematisch stärker waren als er). Er war so unglaublich innovativ, weil er die Dinge aus völlig neuen Perspektiven betrachten konnte. Er fragte sich etwa: „Wie wäre es, auf einem Lichtstrahl zu reiten? Was würde ich da sehen?“ Solche Fragen führten ihn zur Relativitätstheorie.

Also, nutzen Sie die Innovationskraft des Perspektivenwechsels. Haben Sie die Gelassenheit, in Ihrer Führung immer mal wieder die Perspektive zu wechseln. Auch wenn dies die Dinge zuerst ein wenig verkompliziert. Halten Sie sich an den Werbeslogan eines Weiterbildungsinstituts, der unter der plakativen Schlagzeile „Albert Zweistein“ im

Kleingedruckten fordert: Machen Sie mehr aus sich!

.nehcam nenhI sua rhem driw rE .leshcewnevitkepsreP ned eiS nebÜ

Führungsbrief 51 – Erledigen

Ich schaue Ihnen ja täglich über die Schultern. Neben all dem Bewundernswerten, Überzeugenden, Beeindruckenden, das ich dabei sehe, gibt es aber auch manches, das mir einfach nicht in den Kopf will. Ich denke, Ihre Zeit ist knapp, und dennoch ertappte ich Sie immer wieder bei Folgendem:

  • Sie lesen eine E-Mail, lassen sie in der Mail-Inbox, und morgen lesen Sie sie wieder. Beantworten tun Sie sie aber noch nicht.
  • Sie tragen viele Dinge im Kopf mit sich rum, die Sie unbedingt nächstens erledigen sollten/müssten/wollten.
  • Sie haben Stapel mit Plastikmäppchen auf Ihrem Schreibtisch liegen, mit denen irgendwann irgendetwas geschehen sollte – und sei es nur, die Papiere zu archivieren oder wegzuschmeißen.
  • Sie führen Pendenzenlisten, die eher dazu neigen, länger als kürzer zu werden – und Sie starren diese Liste manchmal minutenlang mit einem schleichenden Gefühl der Ermüdung an.
  • Sie fahren auch da Auto, wo man bequem im ÖV sitzen und arbeiten oder lesen oder sich erholen könnte.
  • Sie diskutieren längere Zeit mit jemandem, dass und warum Sie nun wirklich keine Zeit für dies oder jenes haben.
  • Sie akzeptieren Outlook-Einträge für Meetings, ohne deren Agenda zu kennen und ohne wirklich zu wissen, ob das Meeting für Sie respektive Sie für das Meeting wichtig sind.
  • Sie kümmern sich immer wieder liebevoll um Dinge und Details, für die andere zuständig und nicht selten auch besser geeignet sind.
  • Sie tragen Ihren Stress wie ein Statussymbol oder eine soldatische Ehrenmedaille vor sich her.

Natürlich schaue ich Ihnen nicht wirklich über die Schultern. Also müssen Sie schon selbst einen Meter hinter sich stehen und sich fragen, was von den obigen Anwürfen auf Sie zutrifft. Und es liegt an Ihnen, die Liste mit den Beobachtungen Ihres eigenen Tuns und Lassens so zu vervollständigen, dass Sie erkennen, wo Ihnen die Zeit wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt.

Vor fast vierzig Jahren begegnete ich im Zug einem Bekannten, den ich für sein beeindruckendes Schaffensvermögen sehr bewunderte. Ich fragte ihn, wie er dies alles bloß hinkriege. Er sagte: „Ich erledige einfach alles sofort.“ Ich lachte und verabschiedete mich wenig später von ihm in der Überzeugung, dass diese Lehre zwar toll klinge, aber im Übrigen unmöglich zu befolgen sei.

Hinterher begannen sich die Rädchen in meinem Gehirn zu drehen, und irgendwann wurde mir klar, wie die Sache zu nehmen sei. Das tue ich seither, und ich gewinne damit so viel Zeit, dass ich mich so gut wie nie über Zeitmangel beklagen kann. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe sogar Zeit, Bücher zu lesen …

Und so lautet mein ganz persönliches Reglement der Arbeitstechnik:

  • Was du sofort erledigen kannst, das erledige auch sofort.
  • Was mehr Zeit braucht, als du jetzt grad einsetzen könntest, wird terminiert und abgelegt. Der Termin wird nicht anders gehandhabt als bei einem Meeting oder einer Kundenbesprechung – da können auch nicht zwei Termine gleichzeitig laufen. Keine Überbuchung also. Und Ablage heißt versorgen, nicht auf dem Tisch stapeln. Führe eine Agenda, keine Pendenzenliste.
  • Plane die benötigte Zeit für alles realistisch, sogar großzügig. Mach dir nichts vor.
  • Wann immer du etwas in die Hand nimmst (oder gedrückt erhältst), mache sofort und endgültig die Triage: wird sofort erledigt – wird terminiert und abgelegt – wird weiterdelegiert – wird weggeschmissen/ignoriert/abgelehnt.
  • Wenn du gerade noch fünf Minuten Zeit hast, fange durchaus noch etwas an; womöglich etwas, das du in der Zeit auch grad erledigen kannst. Merke: Auf diese Weise bringst du manches in fünf Minuten durch, für das du fünfzehn bräuchtest, wenn du fünfzehn hättest.
  • Steuere den Eingang: Sorge dafür, dass du aus Adresslisten und Mailverteilern gestrichen wirst, die dir Dinge auf den Schreibtisch bescheren, die du gar nicht haben willst. Sei deinen Auftraggebern einen Schritt voraus, dann kannst du besser planen und wirst weniger überrascht. Kläre mit deiner Umgebung, was sie von dir erwarten kann und was nicht – und zwar vorab, nicht erst dann, wenn man dir den Affen schon auf die Schultern gesetzt hat.
  • Rüste dich technisch so gut aus, dass deine Arbeitseffizienz erhöht wird, sodass du jederzeit und überall arbeitsfähig bist (zumindest da, wo du es willst), und verhindere mit allen Mitteln, dass dich deine technische Ausrüstung mehr Aufwand kostet, als sie dir einspart.
  • Hab nichts auf Deinem Tisch liegen, an dem du nicht jetzt gerade arbeitest.
  • Sei auf das stolz (und lasse dich für das bewundern), was bei dir rauskommt. Nicht für das, was du reingesteckt hast. Leistung – das heißt Energie pro Zeit – ist der völlig falsche Maßstab! Wichtig ist der Effekt.

Ich weiß, Sie sind vielleicht so sehr fremdbestimmt in Ihrer Agenda, dass Ihnen all Ihre Pläne und Vorsätze immer über den Haufen geworfen werden. Das mag so sein, oder zumindest mögen Sie es so empfinden. Aber muss das bei Ihnen tatsächlich so sein? Wenn Sie Feuerwehrmann sind oder Ärztin auf einer Notfallstation, dann ja. Wenn Sie aber Führungskraft in einem Unternehmen sind und sogar Entscheidungskompetenzen haben, dann nicht unbedingt. Jedenfalls müssten Sie diese Frage schonungslos ehrlich klären und dann auch entsprechende Konsequenzen ziehen.

Dennoch gibt es zwei Dinge, die Sie davon abhalten können, mein Reglement zu kopieren:

Erstens, persönliche Arbeitstechnik ist immer persönliche Arbeitstechnik. Was bei mir klappt, muss für Sie noch lange nicht stimmen. Deshalb sollten Sie nicht auf schlaue (respektive schlauere) Tipps warten (die Sie dann als nicht machbar ablehnen können), sondern sich von fremden Erfahrungen nur dazu animieren lassen, Ihr eigenes, ebenfalls ganz persönliches Reglement aufzustellen.

Zweitens, Sie werden nur dann Fortschritte machen, wenn Sie es sind, der/die davon profitiert. Das ist der wichtigste Punkt überhaupt. Keine Effizienzsteigerung lohnt sich, wenn Sie danach nur noch mehr Dinge tun müssen, die Sie gar nicht tun wollen.

Also klären Sie zunächst für sich, ob und wofür Sie einen Zeitgewinn nutzen würden. Und stellen Sie sich danach Ihr ganz persönliches, aber verbindliches Arbeitsreglement auf.

Und erledigen Sie bitte beides sofort.

Führungsbrief 50 – Feiern

Feste soll man feiern, wie sie fallen, sagt der Volksmund. Nur, manchmal muss man dem freien Fall etwas nachhelfen, die Gravitation ist auch nicht mehr, was sie einmal war.

Feiern Sie deshalb mit Ihren Leuten, wenn sich eine gute (nicht unbedingt eine große!) Gelegenheit bietet! Jeder Ihrer Mitarbeiter sollte jederzeit sagen können, wann Sie zum letzten Mal gemeinsam gefeiert haben – und was. Und die Erinnerung sollte nicht allzu weit in die Vergangenheit führen müssen …

Jedes Lehrbuch der Organisationsentwicklung, jedes Handbuch des Projektmanagements weiß es: Feiern ist für Menschen das, was früher beim Entwickeln von Fotos – Ältere unter uns erinnern sich – das Fixierbad war. Ohne zu verblassen bleibt das Bild nur, wenn es ordentlich fixiert wurde. Das gilt auch für erreichte Meilensteine, erfolgreiche Geschäfte und bewältigte organisatorische Veränderungen.

Aber Feiern ist nicht gleich Feiern, und auch hier entspricht unsere Absicht nicht immer unserer Wirkung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben privat schon so viele umwerfende Hotelbuffets gesehen, dass sie die beim Firmenapéro gereichten Snacks und Getränke niemals mehr vom Sockel hauen. Und hat man sich bemüht, die Sache etwas exklusiver zu machen, so macht man sich der Geldverschwendung in Zeiten schuldig, wo nicht zuletzt auf Kosten der Belegschaft an allen Ecken und Enden gespart wird. Wird die Feier allzu symbolisch – indem man aufs Geldausgeben fast ganz verzichtet – erscheint man als knauserig, und keiner findet, Geiz sei geil.

Wird nur alle Jubeljahre einmal gefeiert, so steigen die Erwartungen so sehr an, dass sie nur enttäuscht werden können. Feiert man dagegen jede Kleinigkeit, so wird es nicht aufregender oder wirksamer als der tägliche Gang in die betriebseigene Kantine.

Feiert man mitten am Tag, macht keiner richtig mit, weil man ja nachher wieder arbeiten können muss. Verlegt man das kleine Fest an den Tagesrand, so möchten eigentlich alle lieber nach Hause – oder sie müssen sogar, weil Kinder abgeholt und ins Training gebracht werden müssen oder ein Vereinsabend ansteht.

Fürwahr: Es ist nicht einfach, erfolgreich zu feiern.

Was also tun Sie, wenn Sie sich als Initiator sehen und die richtige Gelegenheit erkennen, die es zu feiern gilt? Sie sind in dieser Rolle mal als Chefin Ihrer Leute, mal als Kollege in Ihrem Führungskreis, mal als Vertrauter Ihres Vorgesetzten, mal als Leiterin eines Projekts.

Das ist zu bedenken:

  • Der Anlass zum Feiern muss nachvollziehbar sein. „500 Jahre Donnerstag“ ist weniger nachvollziehbar als „Geschaffte Projektabnahme beim Kunden“. Aber auch die Projektabnahme ist nur dann ein nachvollziehbarer Grund zum Feiern, wenn sie erst dank besonderem Effort von allen gelungen ist. Die Prüffrage lautet im Zweifelsfall: Halten es die „Nachbarn“ – also Leute, die das Fest mitbekommen, aber nicht eingeladen sind – auch für nachvollziehbar?
  • Zeitpunkt, Dauer und Rahmen des Feierns sollen dem Anlass wie auch den Teilnehmenden angepasst sein. Die Prüffrage hier lautet: Werden (nicht sollten!) sich die Geladenen vermutlich freuen?
  • Da wir Sie als Initiatorin/Initiator angenommen haben: Entspricht die Feier Ihrer Rolle? Haben Sie zu danken? Sprechen Sie eine Anerkennung aus? Anders als bei Geburtstagen und Jubiläen soll hier nicht der Einladende sich selbst feiern. Und was immer Sie mit der Feier ausdrücken wollen, es sollte glaubhaft von Ihnen kommen (selbst wenn es dazu noch Firmengeld braucht).
  • Vermeiden Sie den Muttertagseffekt: Einmal jährlich Blumen und Ausführen, statt täglich übers ganze Jahr Respekt, Dankbarkeit und Anerkennung. Vermeiden Sie den Weihnachtseffekt: Feiern, weil es wieder so weit ist, egal, ob es einem drum ist oder nicht. Vermeiden Sie den Gegeneinladungseffekt: So feiern, dass man damit primär die Feier übertrumpfen möchte, zu der man davor eingeladen war. – Freilich gilt umgekehrt: Wehe, wenn Sie die an Sie gestellten Erwartungen enttäuschen, indem Sie Muttertag/Weihnachten/Gegeneinladung einfach so ausfallen lassen! Auch beim Feiern gibt es Rituale, die eingehalten werden wollen.
  • Viele werden sagen, das Persönliche sei das Wichtigste. Ich bezweifle das. Denn Persönliches kann auch den Charakter der liebevoll bemalten WC-Rollen der Göttikinder haben. Dass man nie so recht weiß, wohin damit (mit den Rollen, nicht den Kindern), liegt daran, dass sich das Persönliche auf den Schenkenden und nicht auf den Beschenkten bezieht. Das ist beim betrieblichen Feiern unbedingt zu vermeiden: Wenn Sie eine selbstgedichtete Ballade vortragen, darf es nur um die Besungenen gehen, nicht um Ihre poetischen Fähigkeiten.
  • Besonders wirkungsvoll ist wohl immer die Überraschung: Wie Blumen, die man nicht erwartet hat (also nicht am Valentinstag). Der erkennbare persönliche Aufwand für die Vorbereitung, von dem keiner was gemerkt hat. Dem freien Fall müsse man manchmal etwas nachhelfen, habe ich eingangs gesagt. Besonders damit können Sie punkten: Wenn Sie es schaffen, aus einem Anlass oder zu einem Zeitpunkt oder auf eine Art zu feiern, die eben überhaupt nicht als selbstverständlich empfunden wird.
  • Das Entscheidendste aber ist, wie immer, die Liebe: Man muss spüren, dass Sie das, was Sie unternommen haben, um einen Anlass zu feiern, mit Liebe getan haben. Form, Aufwand, Kosten und Exklusivität stehen dahinter weit zurück. Der soziale Kitt, den das gemeinsame Feiern bewirkt, entsteht nur, wenn dieser spürbar auch wirklich erwünscht ist.

Groß und aufwändig muss die Sache keineswegs sein. Wer je tief in einem Kohlebergwerk war und nach dem Aufstieg mit den Köhlern zur Feier des wiedergefundenen Tageslichts mit schwarzem Gesicht und schwarzen Fingern Wurst und Brot gegessen hat, der weiß, dass das besser schmeckt als das luxuriöseste Buffet im besten Hotel.

Und was schließlich diesen 50. Führungsbrief angeht, so gibt er zumindest einen kleinen Grund zum Feiern: Mit ihm haben Sie die Hälfte des Wegs geschafft. Sie sind sozusagen im Bergrestaurant angekommen. Denn es gibt nach diesem 50. nur noch maximal 49 weitere. Versprochen! Genießen Sie die Halbzeit bei Brot und Bier, bei Wurst und Senf. Aber auch der Abstieg wird nicht nur leicht sein. Es werden sich weitere Tücken und Fallstricke der Führung zeigen, und ich freue mich darauf, Sie gemeinsam mit Ihnen zu meistern. Danke für Ihre bis hierher gehaltene Treue.

Ein Letztes zum Thema: Auch wenn ich mit all den oben beschriebenen Komplikationen recht haben sollte – lassen Sie sich davon nicht die Lust verderben! Nichts soll Sie vom Feiern abhalten! Hier gilt: Lieber etwas falsch machen, als gar nichts tun!

Darauf können Sie getrost anstoßen!

Führungsbrief 49 – Miss-Verständnisse

In der realen Welt des Managements gibt es mehr Führungsselbstverständnisse, als sich die Fachliteratur träumen lässt. Die inhaltliche Bandbreite ist groß und reichhaltig. Das ist auch gut so. In diese Führungsverständnisse fließt so manches Erlebnis aus der eigenen (Berufs-) Biografie mit ein – sei es positiv oder negativ, entstamme es eigener oder erlebter Führung. Das Bild, das sich ergibt, ist häufig durchaus widersprüchlich, es ist eher eine wilde Collage als ein durchdacht gemaltes Gemälde. Auch Sie haben ein derartiges Führungsselbstverständnis, und das ist das heimliche Drehbuch, nach dem Sie selbst führen. Weder Ihnen noch anderen ist das unmittelbar einsichtig, aber es drückt sich in Ihrer Führung prägend aus. Ob es „gut“ oder „schlecht“ ist, steht hier nicht zur Debatte und lässt sich auch niemals so sagen (man könnte höchstens beurteilen, ob es in einer ganz konkreten sozialen Situation erfolgreich wirkt oder nicht).

Ein – und nur ein – Teil dieses Führungsselbstverständnisses hat jedoch mit dem Rollenverständnis der Führungsaufgabe generell zu tun. Und da lässt sich leichter werten. Denn bei diesen Verständnissen finden sich immer wieder solche, die ich hier ganz entschieden als ganz einfach falsche Verständnisse, als Miss-Verständnisse sozusagen, brandmarken will. Die häufigsten, die mir immer wieder begegnen, sind diese:

  • Verhalten: Führung bestehe aus dem Verhalten eines/einer Vorgesetzten.
    Hier wird ganz einfach verkannt, dass Führung ein Beziehungsgeschehen ist, an dem mehrere Parteien mitwirken. Die Suche nach dem „richtigen“ Führungsverhalten muss schiefgehen, da sie die Rechnung ohne den Wirt macht.
  • Besser sein: Führung legitimiere sich daraus, dass der Chef am meisten wisse und könne.
    Auch wenn es tatsächlich häufig so ist, dass jemand befördert wird, weil er oder sie fachlich besonders gut ist, so garantiert das nicht gute Führung. Und wenn der Fachvorsprung als Legitimation des Chefseins dienen soll, dann geht das ja letztlich nur darüber, dass keine Mitarbeiterin über den Chef hinauswachsen dürfte. Was könnte Schlimmeres passieren? Man stelle sich die Fußballnationalmannschaft vor, wenn keiner besser spielte als der Coach an der Bande!
  • Regenschirm: Führung müsse die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen.
    Vor allem untere und mittlere Kader zeichnen ihre Führungssituation häufig so, dass sie „ihr“ Team mit einem Regenschirm zu beschützen haben gegen all die Unbill, um nicht zu sagen, den Mist, der von oben kommt. Das ist, als würde einem Autofahrer, der rasch und sicher sein Ziel erreichen will, jemand zwischen den Beinen hocken und ununterbrochen die Kupplung drücken. Diese wäre kein wirklich erfolgreiches Fahren. Und entsprechend muss sich eine Unternehmensführung fühlen, wenn ihre unteren Kader so ein Regenschirm-Verständnis praktizieren.
  • Arbeiten: Kader (vor allem untere) müssten möglichst viele produktive Stunden schreiben.
    Führungskräfte sollen ihre ganze Kraft der Führung widmen. Deshalb heißen sie so. Nichts dagegen, wenn sie selbst auch fachlich Hand anlegen können und so ihre eigene Expertise (die aber, siehe oben, nicht die beste sein muss) aufrechterhalten können. Priorität haben muss aber immer die Führung – die Menschenführung.
  • Chef sein: Führungskräfte müssen im Alleingang sagen, wo es langgeht.
    Natürlich müssen Chefs entscheiden. Entscheiden muss man aber vor allem Fragen, bei denen es ganz unterschiedliche Sichtweisen gibt. Nicht bei Dingen mit einer richtigen Lösung – dafür braucht es Sachverstand. Wie viel zwei und zwei gibt, sagt derjenige, der rechnen kann, nicht derjenige, der Chef ist. Aber echte Entscheidungsfragen werden besser vorbereitet, wenn die Klugheit von mehr als einem einfließt. Selbst wenn am Schluss nur einer entscheidet.
  • Privilegien: Ein Chef müsse sich sichtlich abheben von den „Unteren“.
    Ich gönne jedem Chef seine Privilegien – seien sie quasi Lohnbestandteil wie ein Geschäftsauto oder seien sie zur Erleichterung der Arbeit wie die Zuteilung eines Assistenten. Problematisch wird es aber, wenn die Privilegien primär der Differenzierung gegen „unten“ dienen. Wenn der Chef ein Einzelbüro hat, obwohl er vielleicht weniger heikle Telefongespräche zu führen hat als ein „gewöhnlicher“ Mitarbeiter und erst noch nie da ist. Wenn der reservierte Parkplatz Statussymbol ist, obwohl es genügend öffentliche Parkplätze in zumutbarer Fußdistanz hätte. Falsch ist all das, weil es zwar ein paar „Oberen“ das gute Gefühl gibt, „Obere“ zu sein – vor allem aber vielen „Unteren“ das überaus schlechte Gefühl vermittelt, „Untere“ zu sein. Das rächt sich letztlich für die Unternehmung.
  • Blankocheck: Eine Führungskraft müsse man primär machen lassen.
    Manche Führungskräfte tun so, als hätten sie als Chef selbst keinen Chef. Und wenn doch, so müsse der sie einfach machen lassen, denn sie hätten so viel Vertrauen verdient. Dreinreden, umgekehrt, beweise nur ein völlig ungerechtfertigtes Misstrauen ihres Chefs. Selbst aber reden sie ihren Leuten (richtigerweise) durchaus drein. Wie anders soll man führen? Ein Führungsrollenverständnis, das „nicht-transitiv“ ist, weil es von seinem Prinzip her nur gerade für den eigenen Fall gilt, ist aber ein Miss-Verständnis.

Interessant ist ja, dass viele dieser Miss-Verständnisse nicht nur in den Köpfen der Führungskräfte sitzen, sondern – Führung ist Beziehungsgestaltung! – entweder in den Köpfen der Mitarbeiter oder in denen der Chefchefs, sodass aus diesen Ecken entsprechend falsche Erwartungen kommen.

Sie als Führungskraft müssen daher nicht nur im eigenen geistigen Inventar nachprüfen, welche Miss-Verständnisse da allenfalls auszumisten wären, sondern Sie müssen unter Umständen mit Ihren Beziehungspartnern – unten, oben oder seitlich – ebenfalls eine „Erwartungsausmistete“ machen.

Nun höre ich Sie natürlich argumentieren, die hier angeprangerten Miss-Verständnisse seien gar keine, denn manchmal müsse man eben … Und so weiter. Ein ganz klein wenig bin ich bereit nachzugeben: Es gibt bekanntlich Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Das gilt ja auch für den Umgang mit Geschwindigkeitsbegrenzungen, Parkverboten und Rotlichtern. Aber trotzdem kostet Erwischtwerden immer – ohne Ausnahme.

Autofahren können Sie auch ohne die kritischen Augen von Polizisten – und wenn auch kein blecherner da ist, kommen Sie ungeschoren weg. Als Führungskraft stehen Sie jedoch immer unter Beobachtung, und Sie zeitigen immer eine Wirkung. Denn Führen ohne Geführte gibt es nicht.

Entweder es erwischen Sie also die Geführten – und sind dann schnell bei der Hand mit dem Bußenblock. Oder aber Sie zahlen, früher oder später, mit Garantie irgendeinen indirekten Preis – aber Sie kennen noch nicht einmal den Bußentarif.

Also: Halten Sie sich an die Regel! Und die Regel heißt, dass die obigen Verständnisse von Führung Miss-Verständnisse sind. Punkt.

Führungsbrief 48 – Muster brechen

Je nach unseren jüngsten Erfahrungen und vielleicht auch je nach Tagesform behaupten wir manchmal, Menschen seien ein Leben lang lernfähig, oder aber, die meisten seien hinten und vorne nicht lernfähig, nachdem sie einmal mehr oder weniger erwachsen geworden seien.

Psychologisch stimmt vielleicht sogar beides, wenn wir es differenziert genug betrachten. Hier soll es aber nicht darum gehen, „die“ Lernfähigkeit „des“ Menschen zu beurteilen, auch wenn sich dazu Interessantes sagen ließe. Ich möchte stattdessen nur gerade den Fall herausgreifen, wo Sie in redlicher Absicht dazulernen möchten, es aber irgendwie nicht so recht schaffen. Das ist eine in der Führungsentwicklung ja nicht gerade unbekannte Situation …

Die Dinge, bei denen uns das Lernen Schwierigkeiten macht, sind in der Regel nicht intellektueller Art. Zwar gibt es sicherlich Unterschiede in der intellektuellen Lernfähigkeit zwischen verschiedenen Menschen und in jedem Menschen Unterschiede je nach Lernfeld (Sprachen, Technik und so weiter). Aus der Optik des Einzelnen – aus Ihrer Optik also – ist das halt einfach so, und Sie werden daran nicht viel ändern können. Besser, Sie kennen einfach Ihre Talente und Ihre Grenzen gut, aber machen sich nichts vor. Das ist ja beim motorischen Lernen ganz ähnlich, nur ist das für Führungskräfte in der Regel nicht besonders wichtig (außer vielleicht beim Firmenfußballturnier).

Was uns beim Lernen echte Schwierigkeiten bereitet, ist das Ändern/Ablegen/Weiterentwickeln/Neuerschaffen von Mustern – seien das Denk- oder Wahrnehmungs- oder Verhaltens- oder Beziehungsmuster.

Muster sind hocheffiziente Routinen unseres Gehirns. Sie können blitzschnell abgerufen werden, wenn es eine Situation erfordert. Sie tragen alle sozusagen einen „Geeignet-für­ …-Vermerk“, sodass wir ohne viel bewusstes Nachdenken einfach wissen, was zu tun ist, wenn wir mit einer entsprechenden Situation konfrontiert werden. Wir wären gar nicht lebensfähig ohne solche Muster, weil wir dann jede beliebige Situation als Problem erleben würden, das es zu analysieren und zu lösen gälte.

Das Verfügen über Muster ist wunderbar, wenn so ein Muster den Effekt zeitigt, den wir beabsichtigen. Es ist aber weniger wunderbar, wenn das Muster ungenügend, mangelhaft, schlecht, ungeeignet, kontraproduktiv ist oder zu viele unerwünschte Nebenwirkungen erzeugt. Dann sollten wir es ändern können, und häufig würden wir das auch gerne tun. Warum geht „es“ aber so schlecht?

Respektive, was sind denn die Voraussetzungen, damit wir Muster wirklich brechen können?

Salopp gesagt, geht „es“ deshalb so schlecht, weil unser Gehirn keine Löschtaste hat! Könnten wir ein Muster einfach per „Delete“-Befehl ausradieren, dann könnten wir nachher ein neues lernen. Verlernen wäre tatsächlich ein häufig wichtiger und notwendiger Weg, um zu lernen. Aber das ist leichter gesagt als getan.

Muster brechen – also nachhaltig lernen – können wir nur, wenn wir uns sehr genau, bewusst und aktiv mit unseren Fehlern auseinandersetzen. Die moderne Hirnforschung hat herausgefunden, dass es exakt dieser Punkt ist, den die Profis beherrschen. Wer das nicht beherrscht, bleibt mittelmäßig. Das gilt für Pokerspieler wie für Piloten. Und es gilt auch für Führungskräfte.

  • Eine erste Voraussetzung dafür heißt aaneluege (hinschauen) – aber diesmal bei sich selbst. Wer seine Fehler nicht sehen will, kann sie auch nicht loswerden. Man tappt hierbei aber leicht in die Falle, dass man seine eigenen subjektiven Beweggründe ja akzeptiert (auch wenn man der Einzige ist, der das tut!) und daraus schon schließt, dass der Fehler eigentlich gar keiner ist.
  • Zweitens ist es nötig, den Fehler zu verstehen. Viele Fehler entspringen ja nicht einfach der eigenen „Dummheit“. Sie entstehen aus einer ganz bestimmten Logik, innerhalb derer sie eigentlich gar keine Fehler sind – nur dass diese Logik auf den aktuellen Fall einfach nicht passt. Der oben angesprochene „Geeignet-für­ …-Verweis“ des zugrunde liegenden Musters muss also sorgfältig hinterfragt werden. Was freilich nicht ganz einfach ist.
  • Drittens ist zu eruieren, was denn ein besseres Muster gewesen wäre und warum. Hier gilt es realistisch zu bleiben und sich nicht Dinge auszumalen, die nur James Bond und anderen Helden gelingen.

Hilfreich ist es, sich für diese drei Fragen mit einem methodischen Korsett eine Stütze zu geben:

In der Fliegerei ist es absolut üblich, nach jedem Flug ein „Debriefing“ zu machen, wo man sich als Pilot fragt, was man gut und was man nicht so gut gemacht hat (solange man das Debriefing noch machen kann, hat man ja meistens nichts ganz schlecht gemacht …). Weil diese Debriefings so selbstverständlich sind, muss sich auch keiner beleidigt oder angegriffen fühlen, wenn die Frage nach Fehlern gestellt wird.

Oder: Im neudeutschen Beraterjargon ist häufig die Rede von einer „After Action Review“. Diese Methode ist der US-Army entliehen und sorgt (in einem ja sonst sehr hierarchischen und formalistischen Umfeld) für eine offene und hierarchiefreie Lernkultur, in der man gemeinsam Lehren aus Erfahrungen ziehen kann (sogenannte „lessons learned“).

In der Führungsentwicklung kennen wir dafür Einzelcoachings oder auch coachingartige Workshops in kleinen Gruppen. Erst durch den Einbezug von Außenstehenden wird dabei ein problematisches Muster überhaupt sichtbar, weil – mit einem guten Coach – durch eine Art Triangulation eine Erkenntnis möglich wird, die ein bloßer Blick in den Spiegel niemals oder doch nur selten liefert.

Wie gesagt, das Schwierigste bei all dem ist, nüchtern und ohne alles Moralin bei sich selbst einen Fehler als Fehler zu erkennen. Insbesondere dann, wenn das eigene Selbstwertgefühl (um nicht zu sagen der eigene Narzissmus) dadurch gekränkt werden könnte. Bei anderen sieht man leichter, wie es sich anhört, wenn jemand diese Schwierigkeit erlebt. Zum Beispiel, wenn sie ihre Fehler schönreden: „Mein größter Fehler ist meine Ungeduld” etwa heißt ja nur, was bin ich doch für ein toller Hecht mit wahnsinnig hohen Ansprüchen! Oder wenn Leute ihre Fehler so gut begründen respektive entschuldigen, dass man sich nicht wundern muss, wenn sie beim nächsten Mal wieder derselben Logik des Musters folgen. Sich selbst beim brillanten Entschuldigen zuhören, dürfte der sicherste Weg sein, fehlerhafte Muster immer mehr zu verfestigen – statt sie endlich erfolgreich zu brechen!

Nur wer wagt, ohne rosa Brille – aber vielleicht mit der klaren Brille eines guten Coachs – in den Spiegel seiner Muster zu schauen, hat eine Chance zu lernen und neue, bessere Muster zu entwickeln. Das ist hart, aber lohnend.

Fragen Sie einen, den Sie für einen echten Profi halten – in welcher Disziplin auch immer!

Führungsbrief 47 – Aaneluege (Hinschauen)

Lernen Sie sorgfältig zu unterscheiden zwischen PAL und MS! Ein PAL ist ein Problem Anderer Leute. MS ist Meine Sache. Der Umgang der meisten Menschen mit diesen zwei grundverschiedenen Sachen ist interessant:

  • Da ist zunächst unsere Neigung, Dinge, die wir nicht sehen wollen, nicht erwartet haben oder nicht erklären können, einfach zum Problem anderer Leute zu erklären. Diese Neigung ist so stark, dass sie (zumindest im Science-Fiction-Kultbuch „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams) die Schaffung von PAL-Feldern gestattet, in denen man im ganzen Universum unbemerkt riesige Raumschiffe parken und tarnen kann – eben, weil nie einer hinschaut.
  • Weiter gibt es gleichzeitig die Tendenz, Dinge, die ganz objektiv ein PAL sind, zur eigenen Sache zu machen. Sei es, dass jeder auf der Zuschauertribüne besser als jeder Spieler auf dem Feld weiß, wie man spielen müsste. Oder sei es, wenn Führungskräfte sich bis ins Detail überlegen, was ihr Kollege (um nicht zu sagen Karrierekonkurrent) aus der anderen Abteilung besser machen sollte.
  • Nicht wenige Menschen haben überdies die Tendenz, sich jeden Affen auf die Schulter setzen zu lassen. Sie kennen sozusagen nur MS. Wenn Führungskräfte dazu neigen und dann noch Mitarbeiter haben, die aus Bequemlichkeit oder wegen Unselbstständigkeit in jeder Sache nur ein PAL sehen – dann gute Nacht!
  • Vereinzelt aber wurde durchaus auch schon beobachtet, dass Menschen tatsächlich zwischen PAL und MS unterscheiden können, sich wirklich um ihren Kram kümmern und anderen überlassen, was deren Sache ist.

Gute Führungskräfte zeichnen sich dadurch aus, dass sie zur letztgenannten Sorte Menschen gehören. Dahinter steht aber viel Anstrengung, denn die richtige Unterscheidung zwischen PAL und MS ist im richtigen Leben eine wahrlich verzwickte Sache:

Wenn zum Beispiel meine Mitarbeiter zu wenig Leistung bringen und/oder nicht motiviert sind, ist das meine oder ihre Sache? Wenn eine mir unterstellte Führungskraft schlecht oder kaum führt und ihre Mitarbeiter darunter leiden, ist das meine oder deren Sache? Vielleicht müssen wir erkennen, dass eine Sache nicht immer eine Sache ist. Sie spaltet sich vielmehr auf in Anteile verschiedener Parteien. Und dann würde es darum gehen zu erkennen oder klar zu machen, dass dies mein Anteil und jenes dein/sein/ihr Anteil am Problem ist.

Nur, um das zu können, müssen wir hinschauen und nicht wegschauen. „Aaneluege“ heißt das auf Schweizerdeutsch in Anspielung auf einen früheren Führungsbrief zum Thema „Aaneschtoh“.

Aaneluege/Hinschauen braucht Mut. Mut heißt ja bekanntlich nicht, keine Angst zu haben. Mut heißt, etwas zu tun, obwohl man Angst davor hat. Und Angst haben wir häufig vor dem, was wir sehen könnten, falls wir hinschauen würden. Wenn das Ergebnis meines Hinschauens heißt, dass eine Führungskraft, die mir unterstellt ist, unfähig ist, was dann? Muss ich sie entlassen? Wie soll ich ihr das sagen? Kann ich sie versetzen? Ist sie woanders besser? Kriege ich eine bessere Führungskraft für ihre Stelle? Reiße ich ein Loch auf? Was fällt von dem ganzen Schlamassel auf mich zurück, wo ich diese Führungskraft doch damals selbst eingestellt habe? – Fragen über Fragen. Ein ganzer Katalog von drohenden Risiken.

Wegschauen ist leichter. Wer weiß, vielleicht geht diese Führungskraft ja von selbst. Vielleicht bessern sich die Dinge. Vielleicht gewöhnen sich die Mitarbeiter daran. Vielleicht geschieht ein Wunder.

Nein, meistens geschieht kein Wunder. Im Gegenteil, Murphys Gesetz verspricht bekanntlich: Wenn etwas schiefgehen kann, dann wird es schiefgehen.

Das heißt, die Probleme, die wir mit Begeisterung im PAL-Feld verschwinden lassen, holen uns ein. Was eigentlich MS gewesen ist, wird früher oder später auch Meine Sache. In aller Regel aber in verschärfter Form. Sarkastisch (oder auch einfach mit etwas Lebenserfahrung) könnte man ja sagen: Du kannst deine Probleme gut ignorieren, sie werden dich schon nicht ignorieren.

Natürlich gibt es auch Dinge, die sich tatsächlich von alleine regeln. Es hat beispielsweise keinen Sinn, bei einer organisationalen Veränderung schon nach zwei Tagen auf alle möglichen Schwierigkeiten reagieren zu wollen. Oft handelt es sich um ganz normale Kinderkrankheiten, die sich rasch und von alleine auswachsen.

Herauszufinden, was PAL und was MS ist, bleibt eine schwierige Sache. Und keiner „kann“ es einfach. Aber den ersten Schritt dazu, den muss man lernen und üben: Aaneluege, also hinschauen.

Das muss man einerseits selbst (sei es tatsächlich mit den Augen oder sei es mittels Reflexion) tun. Andererseits ist kritisches, aber offenes Zuhören dafür wichtig. Offen, weil man sonst nichts gesagt bekommt. Kritisch, weil man alles ernst, aber längst nicht alles wörtlich nehmen soll. Nicht jeder, der über Dritte schimpft oder klagt, hat recht.

Nur am Rande: Die Kunst ist, Zuhören und Verstehen zu trennen vom Akzeptieren. Wer gut zuhört, kann verstehen. Das bedeutet noch nicht, dass er auch akzeptieren muss. Am besten zu akzeptieren sind vermutlich Klagen, bei denen derjenige, der die Klage formuliert, überzeugend trennen kann zwischen PAL und MS. Nur hat der arme Kläger es damit ja nicht einfacher als Sie …

Wie auch immer – wenn Sie sich so umschauen: Wie groß ist das PAL-Feld in Ihrem Unternehmen, in Ihrem näheren Umfeld, bei Ihnen selbst? Und welche Probleme sind darin geparkt?

Was andererseits beschäftigt Sie selbst als MS, obwohl es vermutlich eine echtes PAL ist? Wer müsste es richtigerweise zu MS erklären?

Sehen Sie und Ihr Vorgesetzter und Ihre Mitarbeiter und Ihre Peers die Antworten auf diese Fragen gleich?

Aaneluege/Hinschauen kann Angst machen. Diese Angst lässt sich bewältigen, wenn man ein wenig Gelassenheit entwickelt. Denn wenn etwas MS ist, heißt das ja noch lange nicht, dass ich dafür auch eine Lösung habe. Vielleicht brauche ich Zeit dafür oder Hilfe oder beides. Doch ist nichts Ehrenrühriges dabei, ein Problem (noch) nicht gelöst zu haben – wenn man es wenigstens erkannt hat und auf die Lösung hinarbeitet!

Und sollte dies in Ihrer Umgebung aber doch als ehrenrührig angesehen werden, dann ist das, mit Verlaub, wirklich ein PAL.

Führungsbrief 46 – Nein

Nehmen Sie sich auch spätestens an Sylvester vor, künftig einfach häufiger Nein zu sagen? Tja, und warum halten Sie denn diesen Vorsatz nicht ein? Der ist doch wirklich einfach: Zunge leicht an die obere Zahnreihe drücken, etwas Luft ausströmen lassen, Zunge ganz kurz nach unten springen lassen und sofort wieder hochdrücken. Kann jeder. Schon ganz kleine Kinder lernen das als eines der allerersten Wörter.

Aber: Wer weiß, vielleicht haben wir ja auch alle schon als kleine Kinder gelernt, dass wir für ein Ja eher geliebt werden als für ein Nein. Und falls diese Hobbypsychologie stimmt, wundert es nicht, dass uns Nein sagen schwerfällt. Dazu kommt:

  • Nein sagen braucht in der Regel Begründungen. Ein Ja wird einfach akzeptiert.
  • Nein sagen kann dem Gegenüber eine Enttäuschung bescheren, die wir ihm gerne ersparen würden (zumindest, wenn wir nichts gegen ihn persönlich haben).
  • Nein sagen kann uns in ein Licht stellen, in dem wir uns selbst nicht sehen. Wir wirken, als wären wir nicht leistungsbereit oder nicht hilfsbereit oder nicht freundlich oder nicht loyal.
  • Nein sagen lässt uns unsere eigenen Grenzen spüren – zumindest, wenn es sich um ein „Nein, ich kann nicht”, statt um ein „Nein, ich will nicht“ handelt.

Um aus diesen Schwierigkeiten herauszufinden, muss man lernen, ein paar Dinge zu entwirren, indem man sich selbst die richtigen Fragen stellt – bevor man überhaupt etwas sagt. Hier sind die „Big five“ aller Entwirrungsfragen:

  1. Ist es wirklich Nein, was ich sagen möchte? Das ist nämlich nicht dasselbe wie ein Ja, das durch ein paar Zweifel eingeschränkt wird.
  2. Warum möchte ich Nein sagen? Will ich nicht oder kann ich nicht? Was will ich stattdessen oder was kann ich stattdessen?
  3. Welche negativen Konsequenzen befürchte ich für den Fall, dass ich Nein sage?
  4. Welche (vielleicht nur vermeintlichen) positiven Effekte erhoffe ich mir im Innersten für den Fall, dass ich nicht Nein sage?
  5. Was bedeutet mir die Beziehung zu der Person, der ich möglicherweise Nein antworten werde?

Nur schon, damit Sie überhaupt die Zeit haben, sich diese fünf Fragen zu überlegen, müssen Sie sich einen kleinen Kunstgriff antrainieren: Bedingen Sie sich, wenn Sie auch nur ein klein bisschen unsicher sind, ein wenig Zeit aus, bevor Sie Nein oder Ja sagen. Wenn Sie das mit der gebotenen Freundlichkeit tun, nimmts Ihnen keiner übel. Und dann können Sie Ihre gespürte Unsicherheit, Ihr Bauchgefühl genauer prüfen und überhaupt stimmige Antworten auf die „Big five“ der Entwirrungsfragen finden.

Nehmen wir an, es gelingt Ihnen, diese Fragen zu entwirren, dann haben Sie schon eine sehr viel bessere Chance, trotz der oben genannten Barrieren tatsächlich Nein zu sagen. Unterstützen kann Sie dabei, wenn Sie sich vor Augen halten, dass es auch mannigfache Vorteile hat, wenn Sie Nein sagen können (falls Sie tatsächlich Nein meinen):

  • Wer mit Ihnen die Erfahrung gemacht hat, dass Sie Nein sagen, wenn Sie Nein meinen, der weiß, dass er sich ebenso darauf verlassen kann, wenn Sie Ja gesagt haben. Das ist sehr viel angenehmer als ein steter unterschwelliger Zweifel, ob ein Ja auch so gemeint war.
  • Wenn Sie häufiger Nein sagen – aber wie gesagt nur dort, wo Sie Nein meinen –, dann gibt es mehr Dinge, die Sie nicht mehr tun müssen und somit mehr Zeit für die Dinge, die Sie tun wollen.
  • Vermutlich gilt ja nicht immer für ein bibeltreues Leben, dass es die Sache einfacher macht (ich bin da nicht gerade ein Experte). Doch für die biblische Forderung „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein“ (Matthäus 5,37) gilt das allemal. Die Dinge werden tatsächlich einfacher. Das merken Sie frühestens dann, wenn man Ihnen den Kopf trotz aller Befürchtungen nicht abgerissen hat, nachdem Sie Nein gesagt haben.
  • Jedes Nein, das Sie gesagt und in Ihrem Handeln auch befolgt haben, wird Sie darin stärken, die oben formulierten schwierigen „Big five“ aller Entwirrungsfragen zu beantworten. Denn von Mal zu Mal lernen Sie sich und Ihre tatsächlichen Bedürfnisse genauer kennen.
  • Mag sein, dass Ihr Nein im Einzelfall nicht besonders geschätzt wird – aber es ist wahrscheinlich, dass Sie als Person an Achtung und Respekt gewinnen, wenn man weiß, dass Sie auch Nein sagen können.

Nun sind freilich zwei Einschränkungen anzubringen:

Erstens: Es gibt Leute, die sich ein Hobby daraus machen, Nein zu sagen. Es gibt ihnen vermutlich ein Gefühl von Macht. Meist merken sie aber nicht, dass ihre Attitüde eher lächerlich wirkt als majestätisch. Von einer so motivierten (und damit auch sich selbst gegenüber unredlichen) Art, Nein zu sagen, wird hier nicht das Lob gesungen.

Zweitens: Vor jedem allzu schnellen Nein sollte die gelassen und entspannt gestellte Frage stehen: „Why not?“. Wo könnten denn die Vorzüge liegen, trotz aller Bedenken Ja zu sagen? Nicht jeder Ärger und jede Anstrengung sind nur ein Ärger respektive eine Anstrengung. Manchmal sind sie auch nur der erste Schritt auf einem Weg, der schließlich zu einem Berggipfel mit wunderbarer Aussicht führt. Und übrigens: Auch aufs Jasagen kann man die „Big five“ der Entwirrungsfragen sinngemäß anwenden.

Ob Sie Ja oder Nein sagen: Sie tun das immer in einem ganz bestimmten sozialen Umfeld. Manch einer kann im Geschäft problemlos Nein sagen. Zuhause aber nicht. Oder umgekehrt. Deshalb lohnt es sich, dieses Umfeld – in unserem Fall ja das betrieblich-berufliche – unter diesem Aspekt einmal genauer unter die Lupe zu nehmen: Wer sagt hier mit welchen Folgen Ja, wenn er Nein meint? Und wer Nein, wenn er Nein meint? Und wie wirkt sich das auf Sie und Ihr Nein oder Ja aus: Gegenüber Ihrem Chef, Ihren Mitarbeitenden, Ihren Kollegen oder gegenüber anderen Personen?

Was schließlich die Folgen angeht: Fragen Sie nach den tatsächlichen Folgen – nicht nach denen, die Sie sich bloß in Ihren ärgsten Befürchtungen ausmalen. Vielleicht finden Sie dann gar nicht so viele rollende Köpfe, wie Sie zuerst dachten.

Führungsbrief 45 – Emotionen und Gefühle

Es zählt zum Klischee des smarten Managers, dass er (kaum je sie!) in der Lage ist, seinen Job völlig emotionslos zu machen: cool, sachlich, analytisch entscheidend, innerlich unbeteiligt. Ein wenig wie James Bond halt.

Glauben Sie daran? Vermutlich nicht. Ich tippe eher darauf, dass auch Sie die wenig überraschende Erfahrung machen, dass Manager Emotionen haben und sich davon durchaus auch steuern lassen.

Aber wäre es denn wünschenswert, wenn das Klischee stimmen würde? Oder wenn Sie ihm näherkämen? Man könnte es meinen, denn sehr oft vernimmt man die Aufforderung „Nun wollen wir doch mal ganz sachlich bleiben!” oder man erhält den Ratschlag „Lassen Sie sich nicht von Ihren Gefühlen leiten!”

Gestatten Sie mir eine kleine Lehrstunde in Sachen Psychologie und Hirnforschung rund um Emotionen und Gefühle – sozusagen als kleines Plädoyer gegen jeden „Sachlichkeitsfetischismus”:

  • Unser Gehirn ist extrem eng mit unserem ganzen Körper verflochten. Es überwacht all seine Funktionen und registriert ganz schnell, wenn etwas nicht okay ist. Denken ist eine kleine Nebenbeschäftigung des menschlichen Gehirns. Hauptbeschäftigung des Gehirns ist auch beim Menschen – wie bei jedem Tier – das Aufrechterhalten der körperlichen Funktionen.
  • Das Gehirn sucht unablässig nach bedeutsamen Informationen – in unserem Körper und in unserem Umfeld. Diese Informationen werden fortwährend bewertet. Und blitzschnell löst das Gehirn die erforderlichen Reaktionen aus. Gefahr zum Beispiel lässt unser Gehirn unseren Körper auf Flucht oder auf Angriff vorbereiten. Dazu gehören (leider) viele Dinge, die bei einem Tier Sinn machen, für uns aber eher lästig sind: Sofortiger Durchfall etwa erleichtert einem Tier das Davonrennen, bei uns ist das kurz vor der entscheidenden Präsentation vor dem obersten Management eher unerfreulich. Dass das Herz sofort auf Hochdruck arbeitet, erleichtert einem Tier sowohl Flucht wie auch Angriff. Bei uns führt es aber zu einem roten Kopf, der unsere Angst für jeden sichtbar macht (und damit noch verschlimmert). Handschweiss, trockener Mund, vielleicht sogar zitternde Hände – man kann das alles physiologisch gut begründen; erfreulich ist es dennoch nicht.
  • Interessanterweise ist es nun aber so, dass nicht nur das Gehirn den Körper anweist, bestimmte Dinge zu tun. Sondern das Gehirn „liest“ dann diese Körperzustände zurück. In der Psychologie sagt man deshalb: Wir rennen nicht davon, weil wir Angst haben; sondern wir haben Angst, weil wir davonrennen! Emotionen sind das, was der Körper ausdrückt. Und Gefühle sind unsere bewusste Wahrnehmung dieser Emotionen. Auf seine Gefühle zu achten heisst also, sehr viel mehr Informationen zu nutzen, als wenn man bloss rational überlegen würde.
  • Nun könnte man meinen, dieses Mehr an Informationen sei nur störend. Das mag es auch manchmal sein. Aber: Wenn jemand aufgrund einer ganz bestimmten Hirnverletzung keine Gefühle mehr wahrnimmt, dann ist er zwar nach wie vor ein sozial verträglicher und vernünftiger Mensch, aber – er kann keine Entscheide mehr treffen. Nicht einmal mehr die einfachsten! Er wägt „rational“ ab, bis zum Sanktnimmerleinstag, sieht tausend Argumente dafür und dawider, aber kann sich zu keinem Entscheid durchringen.
  • Emotionen drücken aber nicht nur Bewertungen von Situationen aus (die wir dann als Gefühle bewusst wahrnehmen und als Grundlage von Entscheidungen zwingend brauchen), sondern sie kommunizieren auch gegen aussen: Dass man uns Ärger, Wut, Freude, Angst, Überraschung, Ekel und so weiter buchstäblich ansieht (und zwar kulturübergreifend gleich!), ist für die menschliche Kooperation und die Gestaltung sozialer Beziehungen lebenswichtig. Kurzum: Menschsein ist existenziell auf Emotionen und Gefühle angewiesen. Wenn sie jemand komplett zu verbergen oder zu verfälschen versucht (was letztlich nur sehr, sehr gute Schauspieler tatsächlich können), ist er kein authentischer Mitspieler mehr. Und wir erleben ihn dann auch als nicht authentische Persönlichkeit.

Auf die Führung übertragen, heisst dieser arg verkürzte Exkurs in Psychologie und Hirnforschung Folgendes:

Emotionen zuzulassen und Gefühle zu zeigen, ist für Sie und für andere wichtig. Ihre zwischenmenschliche Kommunikation kann nur funktionieren, wenn die emotionale „Tonspur“ zum Film passt. Wenn Sie sich oder andere dazu nötigen, Emotionen und Gefühle nicht zu zeigen, dann schüren Sie Missverständnisse (was Machtmenschen natürlich gezielt zu nutzen wissen).

Auf Ihre eigenen Gefühle zu achten brauchen Sie, um vernünftig (!) entscheiden zu können. Zwar genügt es keineswegs, nur aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Denn nur, wenn der Kopf die Fakten und Argumente kennt, kann der Bauch Wertvolles zur Entscheidungsfindung beisteuern.

Gefühle zu zeigen heisst nicht, unbeherrscht Ausbrüche von Wut oder Zorn zuzulassen. Man kann auch auf eine anständige und nicht verletzende Weise kundtun, wie einem zumute ist – und das gehört sich auch. Und wenn die Emotionen einmal doch übergekocht sind, so kann und soll man sich auch entschuldigen.

Am allerwichtigsten aber sind Emotionen und Gefühle für die Gestaltung von Beziehungen – und genau das ist ja Führung vor allem anderen. Ob die Chemie zwischen den Beteiligten spielt, dürfte insgesamt für eine erfolgreiche Zusammenarbeit noch wichtiger sein als die Frage, ob die besten Fachkräfte am Tisch sind. Das zeigt sich auch in der Stimmung in einem Führungsgremium. Sollte da bei Ihnen nie gelacht werden, so haben Sie ein ernsthaftes Problem. Zwar braucht kein Führungsteam die Atmosphäre eines feuchtfröhlichen Stammtisches. Aber wenn nie gelacht wird, dann gilt höchster Alarm!

Kurzum: Sagen Sie nie wieder zu jemandem „Nun wollen wir doch mal schön sachlich bleiben!“. Aber merken Sie sich: Wenn das ein anderer sagt, dann wissen Sie, jetzt ist man dabei, genau das unter den Teppich zu kehren, was das eigentliche Thema wäre. Und so erweisen sich sogar noch verbotene Emotionen als nützliche Hinweisschilder. Wenn man sie zu lesen weiss.

Führungsbrief 44 – Sitzungen

Wenn heute der 6. Januar wäre, was leider nicht ist, und wenn ich im Dreikönigskuchen auf das kleine weiße harte Figürchen gebissen hätte und damit für heute König wäre, was leider auch nie passiert, dann würde ich für mein Königreich (sei das die Geschäfts-, Bereichs-, Abteilungs- oder Teamleitungssitzung) die folgende königliche Weisung zum Thema „Sitzungen“ erlassen:

  1. Unsere Sitzungen fangen genau um die Zeit an und hören genau um die Zeit auf, die in der Einladung angekündigt wurde. Und während genau dieser Zeit erwarte ich die aktive Teilnahme aller Eingeladenen. Absenzen brauchen seeehr gute Gründe. Und ich akzeptiere bestenfalls intelligente Ausreden fürs Zuspätkommen respektive Frühergehen. Die Sitzungslänge ergibt sich nicht aus der Gewohnheit, sondern aus einer Abwägung zwischen den Erfordernissen der Themen und unserer Bereitschaft, sich darin zu vertiefen, und den biologischen Begrenzungen einer konzentrierten Diskussion.
  2. Jede Sitzung hat eine Traktandenliste (mit festen und variablen Themen). Jedes Thema hat einen Götti. Der Götti stammt aus dem Kreis der regelmäßigen Sitzungsmitglieder, auch wenn zum Beispiel eine externe Person in seinem Auftrag referiert. Der Götti spricht im Vorfeld mit mir den Zeitbedarf ab, und dieser budgetierte Zeitrahmen gilt nachher. Mein Wecker wird nach Ablauf der Zeit klingeln, und dann breche ich rigoros ab. Schließlich bin ich der König – und Pünktlichkeit ist bekanntlich die Höflichkeit der Könige. Wenn es der Götti nicht schafft, in der veranschlagten Zeit zu dem von ihm gewünschten Schluss zu kommen, muss er beim nächsten Mal wieder antraben. Bereits in der Traktandenliste ist erkennbar, was das erwünschte Resultat formal ist: Kenntnisnahme, Beschluss, Bewilligung, Lösungsfindung und so weiter.
  3. Es gibt drei Arten von Traktanden (was die Vorbereitung angeht): Traktanden, zu denen vorab Unterlagen abgegeben werden, die an der Sitzung als gelesen vorausgesetzt werden und die daher spätestens 48 Stunden vor der Sitzung verteilt sein müssen. Traktanden, zu denen alles Nötige an der Sitzung präsentiert wird und die keine Vorbereitung verlangen. Traktanden, die via Aufträge an die Sitzungsmitglieder im Vorfeld bestimmte „Hausaufgaben“ verlangen, die dann an der Sitzung zu präsentieren sind. Wer an einer Sitzung etwas präsentiert, darf das unsägliche PowerPoint verwenden – ein König muss ja auch mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Mit PowerPoint wird aber nur eine mündliche Rede unterstützt, sodass es leichter ist, dieser zu folgen oder sich daran zu erinnern. Die Rede muss frei sein, PowerPoint untermalt nur. Der König ist überaus erbost, wenn jemand vorliest, was er präsentiert, weil das seine Hoheit beim Lesen stört.
    Vor der Sitzung verteilte Dokumente, die als gelesen vorausgesetzt werden, sind in Word verfasst und bestehen aus ganzen deutschen Sätzen. PowerPoint darf nie vorher abgegeben werden, denn PowerPoint ohne mündliche Rede versteht man nicht – oder aber es dürfte nicht PowerPoint sein. Ist das klar? Die Word-Dokumente, die als gelesen vorausgesetzt werden, haben die Sache auf den Punkt zu bringen. Excel-Tabellen und ähnliche Dinge gehören in einen Anhang, wenn der Word-Text erlaubt, zu verstehen, was sich darin findet. Form und Rechtschreibequalität zeigen, dass die Sache wenigstens dem Verfasser nicht schnurzegal ist. Der Umfang beweist, dass der Verfasser weiß, dass Zeit Geld ist. Der Götti des Traktandums (der nicht der Verfasser des Dokuments sein muss, aber dafür verantwortlich ist) leitet den Punkt direkt damit ein, dass er nach allfälligen Verständnisfragen fragt. Der Text ist gelesen, wird also weder präsentiert noch „kurz“ zusammengefasst. Weder der König noch sein Hofstaat sind Analphabeten. Nach den Verständnisfragen führt der Götti direkt zur Diskussion, die dann zur Beschlussfassung oder Kenntnisnahme oder Problemlösung oder Ideenfindung – je nach Anliegen – führt.
  4. Was es auf die Traktandenliste schafft, hat die Aufmerksamkeit unseres Gremiums verdient. Dafür habe ich als Chef vorab zu sorgen. Dass die Darstellung des Themas unseres Gremiums würdig ist, dafür hat der Götti zu sorgen. Dass die Diskussion im Gremium des Gremiums würdig ist, dafür hat das Gremium – also jedes seiner Mitglieder – zu sorgen.
  5. Ein Sonderfall innerhalb unserer Sitzungen besteht darin, dass gelegentlich Personen dazustoßen, die mit ihrer Präsentation etwas von ihrem Können zeigen wollen und von uns Wertschätzung, Anerkennung und Unterstützung erwarten. Darauf haben sie ein Anrecht, und der Traktanden-Götti muss dafür sorgen, dass ihr Auftritt dazu eine faire Chance bietet.
  6. Handys sind während der Sitzung nicht nur auf lautlos zu stellen, sondern werden abgestellt. Laptops darf jeder brauchen, der seine Notizen darauf macht. Dass er nichts anderes damit macht, ist eine Frage der Höflichkeit und des Respekts.
  7. Mit dem Protokoll der Sitzung organisieren wir uns so, dass es spätestens 24 Stunden nach Sitzungsschluss allen Teilnehmenden (plus eventuell einem weiteren bestimmten Adressatenkreis) zugeht. Die Form des Protokolls dient seinem Zweck. Und über den verständigen wir uns.
  8. Es gibt keine Sandwiches. Falls die Sitzung über den Mittag hinausführt, machen wir einen kurzen Unterbruch und gehen gemeinsam etwas Leichtes essen. Während dieser Zeit wird nichts anderes getan. Wir organisieren uns im Vorfeld so, dass die Sache angenehm ist und effizient verläuft.
  9. Es gibt Kaffeepausen. In diesen dürfen auch Telefongespräche erledigt werden. Wir streben aber eine interne Kultur an, in der dies akzeptierter Ausnahmefall, doch niemals ein Statuszeichen ist. Wenn, dann eher ein Zeichen dafür, dass sich jemand nicht besonders gut organisiert­ …
  10. Humor hat in unseren Sitzungen ebenso Platz wie Emotionen. Nur der zwischenmenschliche Respekt setzt die Grenze.
  11. Die Missachtung dieser Weisung zieht den königlichen Zorn auf sich. Insbesondere dann, wenn der König selbst seine eigenen Weisungen missachtet oder nicht pickelhart durchgesetzt hat.

Aber, wie gesagt: Leider ist heute nicht der 6. Januar. Und wäre es doch, dann wäre ja morgen die märchenhaft königliche Zeit eh schon wieder vorbei.

Und außerdem bin ich für Ihre Sitzungen sowieso nicht verantwortlich. Das sind ja Sie.

Also gilt wie bei richtigen Märchen auch hier: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben Ihre bisherigen Sitzungspraktiken auch morgen noch fröhlich weiter.

Führungsbrief 43 – Rechte und Pflichten

Sie sind ja nicht nur der oder die Vorgesetzte von anderen, Sie haben selbst eine Chefin oder einen Chef. Diesem Vorgesetzten gegenüber (erlauben Sie mir im Folgenden die bloß männliche Form) haben Sie ganz klare Rechte – wobei ich mich natürlich nur auf die Führungsrolle Ihres Chefs beziehe, nicht auf seine inhaltlichen oder wirtschaftlichen Aufgaben:

  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef Sie führt. Dies vor allem. Sonst müsste er Ihnen nicht vor-gesetzt sein. Dieses Recht dürfte kaum anzuzweifeln sein, und da alle folgenden eigentlich nur Ausmalungen dieses ersten Rechts sind, kann man sie Ihnen auch kaum streitig machen.
  • Sie haben ein Recht darauf, von Ihrem Chef ohne Ausnahme und immer mit Anstand und Respekt behandelt zu werden. Selbst wenn er einmal – nehmen wir an, zu Recht – stinkesauer auf Sie ist, muss er Ihnen das mit Anstand und Respekt deutlich machen. Was nicht ausschließt, dass er dabei um der Deutlichkeit willen etwas lauter wird als sonst.
  • Sie haben ein Recht darauf, von Ihrem Chef eine klare Richtung aufgezeigt zu bekommen, denn Sie müssen wissen, wohin die Reise geht und was Ihr Beitrag dazu sein soll. Dazu gehört auch, dass er Ihnen die Bandbreite verdeutlicht, innerhalb derer Sie entscheidungsfrei sind. Der Fairness halber muss man dazu sagen, dass diese Bandbreite sich nicht immer im Voraus klar genug abstecken lässt, aber im Laufe der Arbeit sollte sie Ihnen hinreichend klar werden – vorausgesetzt, Ihr Chef hat diesbezüglich einen klaren und nicht sprunghaft wechselnden Standpunkt.
  • Sie haben ein Recht darauf, von Ihrem Chef mit den nötigen Mitteln und Ressourcen ausgestattet zu werden, um Ihre Aufgabe im Interesse des Unternehmens gut erfüllen zu können. Es ist aber klar, dass die „nötigen“ Mittel weder vergoldetes Werkzeug noch Ressourcen à discrétion bedeuten – denn Verschwendung ist nicht im Interesse des Unternehmens. Mit einer gewissen asketischen Bescheidung müssen Sie also wohl rechnen.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef Entscheidungen trifft und dazu steht. Dafür braucht er eine gewisse Risikobereitschaft und ein Minimum an persönlichem Mut und Rückgrat.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef Ihnen beisteht, wenn Sie in Schwierigkeiten geraten. Insbesondere dann, wenn er selbst Sie – beispielsweise durch widersprüchliche Zielvorgaben – in die Bredouille gebracht hat.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef seine Verantwortung übernimmt. Seine – nicht Ihre.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef seinen Wissensvorsprung (respektive seinen besseren Zugang zu Informationen) dazu nützt, Ihnen die Arbeit zu erleichtern. Und dass er Ihren Wissensvorsprung (in den fachlichen Fragen, in denen Sie einfach besser sind) als Anlass dafür nimmt, Ihnen möglichst viel Freiraum zu geben.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass sich Ihr Chef für Ihre persönliche und fachliche Entwicklung interessiert und engagiert. Die damit verbundenen Anstrengungen und Ihre eigene Initiative kann und muss er Ihnen nicht abnehmen, aber er soll Sie dabei unterstützen.
  • Sie haben ein Recht darauf, von Ihrem Chef die Anerkennung zu bekommen, die Sie, Ihre Leistung und Ihre Resultate verdienen.
  • Sie haben ein Recht darauf, von Ihrem Vorgesetzten einen Vertrauensvorschuss zu bekommen.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef Sie nicht belügt. Zwar muss auch er nicht alles und längst nicht alles direkt sagen – das würden Sie nämlich gar nicht wollen –, aber er darf Ihnen nichts vormachen. Auch nicht in Bezug auf seine persönlichen Ziele und Ambitionen oder seine Gefühle.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef willens und fähig ist, für seine eigenen Interessen zu schauen. Er soll Ihnen also sagen, wenn er etwas von Ihnen will, und nicht darauf warten, dass Sie seine Bedürfnisse so feinfühlig erraten wie eine Mutter bei ihrem Baby.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass sich Ihr Vorgesetzter auch selbst kritisch beurteilen lässt. Auch von Ihnen und Ihren Kollegen. Und dass er reif genug ist, sich einer berechtigten Kritik offen und ohne beleidigt zu sein zu stellen.
  • Sie haben ein Recht darauf, von Ihrem Chef angehört zu werden. Vielleicht nicht immer „subito“, aber doch innert nützlicher Frist. Klar, Sie haben kein Recht darauf, dass er Ihre Meinung teilt. Aber Sie haben ein Recht darauf, dass er sich diese Ihre Meinung so genau anhört, dass er sie auch versteht. Zum Beispiel, indem er gute Fragen stellt.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef nicht nur im System, sondern immer auch am System arbeitet und Verbesserungen und Vereinfachungen fördert und vorantreibt.
  • Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Chef Mut für Experimente zeigt und Sie in Ihrem Mut und Ihren Ideen stärkt.
  • Sie haben – last but not least – ein Recht darauf, dass Ihr Chef in Ihnen nicht bloß einen Mitarbeiter/Leistungserbringer/Kostenträger, sondern einen ganz normalen und ganz gewöhnlichen Menschen sieht. Mit Stärken und Schwächen, mit Interessen und Ängsten und mit einem Leben außerhalb des Werkgeländes.

Selbstredend habe ich keine Ahnung, ob Ihr Vorgesetzter so lebt und sich so verhält, dass Sie die eben beschriebenen Rechte auch tatsächlich bekommen. Aber gehen Sie dennoch mit mir einig, dass Sie diese Rechte im Grundsatz tatsächlich haben? Gut.

Nun zu den Pflichten. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ja auch einen Chef. Das sind Sie. Diesem Chef gegenüber haben sie genau die oben beschriebenen Rechte.

Das wären dann eben Ihre Pflichten.

Führungsbrief 42 – Handicap

Für einmal lade ich Sie ein zu einem Gedankenexperiment. Das Schöne an Gedankenexperimenten ist, dass man das Experiment nicht wirklich durchführen muss. Es kann also gar nichts schiefgehen. Das Gedankenexperiment, das ich Ihnen vorschlage, stellt sich vor, Führungskräfte würden ein Handicap haben, so wie dies Golfspieler haben.

Um allen falschen Verdächtigungen gleich vorzubeugen: Ich spiele kein Golf und werde es auch nie. Jeder echte Golfer wird bei meinen Ausführungen sofort merken, dass ich nichts davon verstehe. Aber für unseren Zweck tuts mein Laienwissen schon.

Wer das Golfspiel erlernen will, muss ein bestimmtes theoretisches Wissen über Regeln und Begriffe und so in einer schriftlichen Prüfung nachweisen. Dann nimmt er zum Beispiel Stunden. Jedenfalls lernt er (auf welchem Weg auch immer, sicherlich aber auch durch Praxis) so passabel zu spielen, dass er überhaupt die Platzreife erhält, also auf einem richtigen Golfplatz mit anderen spielen darf. Er startet dann mit dem Handicap 36. Das bedeutet, dass er im Vergleich zu einem Profi bei jedem der 18 Löcher 2 Schläge mehr zugute hat (zum Beispiel 6 statt 4). Ein Profi hat Handicap 0. Bei dafür bestimmten Turnieren kann man nun – wenn man besser spielt, als das eigene Handicap erwarten lässt – dieses Handicap verbessern. Der Wert ist auf dem Internet publiziert, sodass jeder von jedem wissen kann, wie gut er golft.

Nun übertragen wir dies einmal auf die Führung.

  • Bevor also jemand Führungsverantwortung übernimmt, müsste er ein elementares Wissen (was natürlich nicht gleich Können ist) über Führung nachweisen.
  • Dann müsste er sich so lange mit Praxisproblemen auseinandersetzen, bis er die „Platzreife“ erhielte, also in eine echte Führungsverantwortung käme.
  • Dann würde er mit Handicap 36 starten und könnte – in realen Führungssituationen oder zum Beispiel in Führungsentwicklungs-Workshops – von da an auf ein tieferes Handicap hinarbeiten.
  • Jeder im Betrieb (oder sogar darüber hinaus) wüsste, was er für ein Handicap hat.
  • In eine Geschäftsleitung dürften nur Profis mit Handicap 0 rein.

Ich finde, solange man das Ganze eben nur als Gedankenexperiment nimmt, nun verschiedene Fragen interessant.

  • Was würde die International Leadership Association an zu prüfendem Führungswissen reglementarisch verlangen? Was ist an theoretischem Wissen in Sachen Führung nützlich und gesichert?
  • Was muss jemand nachweisen, damit er oder sie die „Platzreife“ in der Führung erhält? Sind das Methoden? Haltungen? Werte? Fertigkeiten? Erfahrungen? Lehren?
  • Wie würde man Führungskräfte im Alltag ihrer Führungsbeziehungen oder im Workshop bei der Reflexion dieser Beziehungen so bewerten, dass man ihnen das Handicap anpassen könnte (es kann sich übrigens auch verschlechtern)?
  • Was würde es bedeuten, wenn jeder von jedem das Führungshandicap kennen würde? Auch alle Mitarbeiter von allen Chefs?
  • Wie würden sich Geschäftsleitungen verändern, wenn man da nur mit Handicap 0 reinkäme?

Die Kernfrage, die man vor all diesen Fragen lösen können müsste, heißt: Kann man gute Führung von schlechter Führung unterscheiden, und welches sind die Kriterien dafür?

Zwar glaube ich nicht, dass jemand behaupten würde, es gäbe keinen Unterschied zwischen guter und schlechter Führung. Aber ich bin sicher, dass man sich bei der Definition der Bewertungskriterien schnell in die Haare geraten könnte.

Zum Ersten liegt dies daran, dass man Führungskräfte bewerten würde, aber Führung meint. Nun ist dies so, als würde man Ehemänner benoten, wollte damit aber ihre Ehe qualifizieren. Führung ist Beziehungsgestaltung, und man schaut – wenn man Führungskräfte bewertet – lediglich auf ihren Anteil. Das ist unbefriedigend, aber rein praktisch wohl auch unvermeidlich.

Zum Zweiten liegt es daran, dass uns bei der Führung ja nicht der „Input“ – Anstrengung, Verhalten, Absicht und so weiter einer Führungskraft – interessiert, sondern der „Output“, die Wirkung. Nur kann mitunter auch aufgrund vermeintlich „schlechten“ Führungsverhaltens eine durchaus gute Wirkung entstehen (zum Beispiel, wenn Mitarbeitende ihrem miserablen Chef beweisen wollen, was sie ohne ihn fertigbringen).

Zum Dritten liegt es an der Zeitachse: Wann muss eine gute Wirkung von Führung eintreten, dass man sie guter Führung zuschreibt? Ursache und Wirkung sind in sozialen, das heißt komplex vernetzten Systemen nur sehr schwer auseinanderzuhalten. Es gibt vielfältige Rückkoppelungseffekte. Und das Geschehen ist nicht vorbei, wenn man 18 Loch gespielt und die Schläge ausgezählt hat.

Wie eingangs schon zugesichert: Der Golf-Handicap-Vergleich war nur ein Gedankenexperiment. Aber eine Diskussion unter Führungskräften ebenso wie innerhalb von hierarchischen Führungsbeziehungen ist er allemal wert. Denn das Spannendste wäre ja ohnehin, wenn jeder von jedem das Handicap und seine Entwicklung über die Jahre kennen würde und darüber reden dürfte.

Führen Sie doch mal in Ihrem Umkreis diese Diskussion! Wem gäben Sie welches Handicap? Wer in Ihrer Geschäftsleitung hat ein Handicap größer null, ist also kein Profi? Was führt Sie zu Ihrer jeweiligen Beurteilung? Können Sie Ihre Einschätzung dem Betroffenen ins Gesicht sagen? Und warum (eventuell) nicht? Wäre das Gespräch locker-sportlich oder eifersüchtig-verbissen?

Eines aber verlangt die sportliche Fairness: Nur wer auch über sein eigenes Handicap redet und reden lässt, darf über das von anderen reden. Und nach der Abrechnung trifft man sich dann noch auf ein gemütliches Bier.

Führungsbrief 41 – Bündelung der Kräfte

Es ist anzunehmen, dass Ihre Mitarbeitenden auch dann arbeiten, wenn Sie mal grad weg sind. Auch nehme ich an, dass Ihre Leute sich echt bemühen, Leistung zu erbringen – dass sie also nicht nur ihre Arbeitszeit absitzen. Überdies ist zu vermuten, dass diese Menschen – nicht anders als Sie auch – abends meistens müde sind, wenn sie von der Arbeit kommen. Kurzum: Ihre Leute setzen ihre Kraft ein.

Woher aber wissen Sie, ob die Summe all dieser Kräfte das Unternehmen in die gleiche, und zwar richtige Richtung bewegt? Anders gefragt: Wie stellen Sie sicher, dass in Ihrem Führungsbereich die Kräfte gebündelt werden?

Früher war es in der Industrie so, dass entweder der Vorgesetzte täglich und laufend jedem Mitarbeiter sagte, was er ganz genau zu tun hatte. Oft bis hin-unter auf die Ebene eines Handgriffs. Oder Systeme – klassischerweise ein Fließband wie in „Moderne Zeiten“ von Charlie Chaplin – zwangen die Arbeiter dazu. Damit verband man das Bild des kleinen Rädchens im großen Räderwerk. Eines greift ins andere.

Diese Zeiten sind vorbei, und das ist aus mancherlei Gründen erfreulich. Aber wer oder was steuert denn heute das Arbeiten der Leute?

Steuernd wirken gegenwärtig zum Beispiel …

  • die In-Box des Mail-Systems. Eingehende Mails erheischen heutzutage seeehr viel Aufmerksamkeit und lassen sich offenbar fast nicht ignorieren.
  • externe und interne Kunden mit ihren Wünschen, Aufträgen, Anforderungen. Die kommen häufig irgendwann und nicht selten mit großer Dringlichkeit.
  • die Agenda mit festen, wiederkehrenden und auch ad hoc stattfindenden Meetings, Workshops – die leider alle immer mindestens so viel Zeit brauchen, wie geplant wurde. Nicht so viel, wie effektiv benötigt würde.
  • die Lautstärke anderer Menschen. Seien es Mitarbeitende, Kollegen, Vorgesetzte, Kunden. Wir neigen dazu, lauteren Rufen eher zu folgen als den leisen Tönen.
  • persönliche Vorlieben. Nicht alles macht man gleich gerne. Es liegt deshalb auf der Hand, dass man manchmal vor allem oder zuerst oder ein wenig gründlicher das tut, was einem mehr Spaß macht oder leichter fällt.
  • Ziele aus den jährlichen Zielvereinbarungen – vor allem, wo sie bonuswirksam sind. Selbst wenn sich die Verhältnisse geändert haben und andere Ziele vielleicht sinnvoller wären.
  • die eigene Stimmung oder Tagesform. Beides kann manchen von uns dazu bringen, etwas zu verschieben, das vielleicht dringlich wäre.
  • die Erfolgsaussichten eines Vorhabens respektive die dahinter stehende „Lorbeer-Logik“ (Wofür darf wer welche Lorbeeren erwarten?). Wir alle tun am allerliebsten etwas, mit dem wir erfolgreich sein und Lob ernten können.

Glauben Sie im Ernst, dass all diese Faktoren die Leistung eines einzelnen Mitarbeiters in genau die richtige Richtung lenken und die Kräfte aller genau im Sinne des Unternehmens bündeln?

Sehen Sie.

Was also tun? Bestimmt können wir uns darauf einigen, dass eine Rückkehr zum stets und alles kontrollierenden und befehlenden Chefs nicht das Gelbe vom Ei wäre.

Trotzdem bleibt es Ihre Aufgabe, die Kräfte in Ihrem Führungsbereich zu bündeln. Wie immer Sie das tun. Ich brauche Sie bestimmt nicht daran zu erinnern, dass Sie sich über diese Frage ganz konkret Rechenschaft ablegen müssen. Denn selbstredend bemühen Sie sich darum, dass Sie die richtig qualifizierten Leute haben, dass Sie ihnen die richtigen Ziele vorgeben, dass Sie mit Ihren Leuten Arbeitspläne absprechen und koordinieren, dass Sie Arbeitsfortschritte und Ergebnisse überprüfen, dass Sie Ihre Zahlen kennen, dass Sie die Prioritäten richtig setzen, dass die Kommunikationsflüsse klappen und so weiter und so fort. Das alles gehört schließlich zu Ihrem Handwerk, und manch anderes wäre da auch noch zu nennen.

Das Einzige, was ich hier ergänzen und besonders betonen will, ist die Sinnstiftung.

Ihnen als Chef/in muss es gelingen, Ihren Mitarbeitenden den Sinn dessen deutlich zu machen, was sie zu tun haben. Das klingt leichter und selbstverständlicher, als es ist.

Zweifellos gehört dazu ein „intellektueller“ Teil: Was ist die Strategie des Unternehmens? Wie bettet sich der eigene Bereich darin ein? Was bestimmt unseren Markt und die Kunden, für die wir tätig sind? Glücklich, wer das alles weiß und versteht! Realistischerweise müssen wir aber annehmen, dass solche Dinge für manchen eine Überforderung darstellen oder ihn schlicht nicht interessieren. Das heißt, hier wird die Sinnstiftung zu einer besonders schwierigen Sache. Aber Sie können dieser Aufgabe nicht aus dem Wege gehen. Denn jede/r muss so viel vom Sinn des eigenen Tuns verstanden haben, dass er oder sie im Zweifelsfall selbstständig beurteilen kann, was wann wie zu tun ist.

Es geht hier also nicht um die vereinbarten Jahresziele oder um zu erreichende Kennziffern. Es geht um die Vorstellung, die Sie in Ihrer Führung verfolgen und auf deren Realisierung hin Sie die Kräfte Ihrer Leute bündeln wollen. Diese Vorstellung müssen Sie Ihren Leuten verdeutlichen können. Zu betonen ist also die Sinnstiftung.

Eigentlich müsste auf der Rückseite eines Bierdeckels Platz finden, worum es Ihnen in Ihrem Führungsbereich geht. Ist es komplizierter und umfangreicher, wird es kaum helfen, einem zu ver-Sinn-bildlichen, worauf es bei Ihnen ankommt.

Versuchen Sie doch einmal heute beim Feierabendbier, ob Sie es tatsächlich schaffen, den Sinn Ihres Führungsbereichs auf der Rückseite Ihres Bierdeckels so darzustellen, dass er wirklich den Brennpunkt bildet, in dem sich alle Kräfte Ihrer Leute bündeln sollen und können.

Interessant wäre überdies zu schauen, was denn jede/r Ihrer Mitarbeitenden aufschreiben würde, wenn sie/er auch nicht mehr Platz hätte, um den Sinn der Sache darzustellen. Interessant, aber wohl nicht garantiert beruhigend.

Führungsbrief 40 – Palaver

Ohne Zweifel kann Palaver jedes Meeting unproduktiv machen. Und sicherlich wird immer wieder Arbeitszeit vergeudet, während die Leute im Betrieb miteinander über Gott und die Welt plaudern. Und ganz gewiss ist Gerede der Nährboden für Gerüchte und Falschinformationen.

Kurzum: es gibt viel Palaver, das zu verwünschen ist.

Dennoch möchte ich heute das Hohelied des Palavers singen. Denn es gibt zumindest einen Punkt im betrieblichen Alltag, an dem die Gelegenheit zum Palaver nicht nur nötig ist, sondern geradezu Wunder bewirken kann. Dieser Punkt ist dort, wo man den Mitarbeitenden Veränderungen angekündigt hat, die durchaus nicht ohne Weiteres verstanden und akzeptiert werden und keineswegs auf spontanen Applaus stoßen. Das soll ja vorkommen.

An diesem Punkt tut man gut daran, zeitlich Freiräume und räumlich Gelegenheiten zu schaffen, wo wer auch immer mit wem auch immer all das „bequatschen“ kann, was an Veränderungen ansteht.

Palaver als Konzept im Change Management also, statt als Störung und Ärgernis im Alltag.

Hier meine sieben Argumente, warum dieses Palaver keineswegs vertane Zeit ist:

  1. Es wird sowieso über Veränderungen geredet. Das lässt sich so wenig unterdrücken wie ein Niesanfall. Also macht man das Palaver besser zum „Programm“, sodass es keiner mühsam verstecken muss.
  2. Palaver ersetzt keine Information. Palaver ist ein notwendiges Mittel, um Information zu verdauen. Im Palaver findet man raus, ob sich die eigene Sicht der Dinge überhaupt halten lässt. Jeder Stammtisch erfüllt diese Funktion für die Politik.
  3. Im Palaver dreht und wendet man die angekündigten Veränderungen auf geistiger Ebene und kann in dieser „Simulation“ die Folgen durchspielen. Das gilt unter Umständen natürlich auch für lediglich fantasierte Schreckensszenarien, die vielleicht überhaupt erst Angst auslösen. Über Ängste zu reden ist aber dennoch immer besser und gesünder, als die Ängste zu verdrängen oder die Augen davor zu verschließen.
  4. Palaver ist in hohem Maß unverbindlich. Daher darf (fast) jeder (fast) alles sagen. Damit erfährt man von einander Dinge, die in einem verbindlicheren Rahmen nicht ausgesprochen würden. Im Laufe der Zeit haben also alle Beteiligten ein recht gutes Bild der wahren Situation. Vorausgesetzt, es konnte wirklich genügend palavert werden.
  5. Sich selbst am Palaver zu beteiligen, stellt für Führungskräfte eine unschätzbare Informationsquelle dar. Aber wie bei dem berühmten Fürsten, der sich nachts verkleidet auf die Straßen und in die Kneipen begab, um zu hören, was das Volk von seiner Regentschaft hielt, darf man dann nicht gekränkt sein, wenn man Unerfreuliches oder Unwahres zu hören bekommt. Man muss es als Faktum nehmen können, dass die Leute das sagen, was sie sagen.
  6. Die vielen falschen Wahrheiten, die in jedem Palaver auch verbreitet werden, bilden eine gute Basis für all jene Fragen, die in den offiziellen Informationsveranstaltungen zwar kaum je gestellt werden, aber unbedingt beantwortet werden müssen. Das muss man zu nutzen wissen.
  7. Palaver macht Spaß! Wir Menschen lieben nichts mehr als Tratsch und Klatsch – selbst dann (oder insbesondere dann), wenn wir uns dabei so schön über andere aufregen können. Am liebsten natürlich über „die da oben“.

Unnötig zu sagen, dass Palaver auch negative Seiten hat. Es kann Ängste schüren, die Stimmung vermiesen, Vertrauen erschüttern und noch Schlimmeres mehr. Zudem kostet es Zeit.

Bloß: All diese Nachteile oder Gefahren sind schon mit dem Teil von Palaver verbunden, den Sie ohnehin nicht unterdrücken können. Die von mir besungenen Vorteile des Palavers aber ergeben sich nicht sofort. Sie entstehen erst dann, wenn das Palaver flächendeckend und erschöpfend war.

Erschöpfend soll dabei nicht heißen „bis zur Erschöpfung“. Erschöpfend heißt, dass jede und jeder involviert war und sie wie auch er so lange palavern konnte, bis es einfach genug war. Wenn die Zeit des Palavers von guten Informationsaktivitäten unterbrochen wird, dann stellt sich dieser Moment ein, bevor aus der drohenden Erschöpfung schlechte Gefühle entstehen.

Was schafft die Voraussetzungen für ein gutes Palaver?

  • Die Verantwortlichen müssen klar machen, dass sie sich so entspannt zum Palaver stellen, wie ich das hier propagiere.
  • Alle Linienverantwortlichen müssen von ganz oben angehalten sein, ihre Leute machen zu lassen, wenn sie am Palavern sind.
  • Kaffeeautomaten müssen ebenso wie die letzten verbleibenden Aschenbecher (Ältere unter uns erinnern sich) so aufgestellt sein, dass man dort auf angenehme Art und Weise verweilen kann.
  • Während oder nach Informationsveranstaltungen müssen explizit Gelegenheiten zum Palavern angeboten werden (zeitlich wie auch räumlich).
  • Wenn sich Vorgesetzte selbst auf eine ruhige und gelassene Art – auch mit dem nötigen Humor (aber ohne Zynismus!) – am Palaver beteiligen, tragen sie viel zur Entspannung bei.

Niemand darf negative Folgen des Palavers zu spüren bekommen. Auch wenn er wirklich Mumpitz erzählt oder geglaubt hat. Man muss ihm eher dankbar sein, dass man so das ungeschönte ganze Spektrum dessen kennenlernt, was Leute halt so denken können. Man verfällt dann weniger schnell dem naiven Irrtum, nun müsse doch längstens jeder verstanden haben, worum es bei der beabsichtigten Veränderung gehe.

Wie nötig und wichtig ein ausführliches Palaver ist, müsste eigentlich allen höheren Führungskräften aus eigener Erfahrung bestens bewusst sein. Sie haben es – im kleineren Kreis – einfach jeweils bloß schon hinter sich, wenn sie dann soweit sind, eine betriebliche Veränderung anzukündigen. Es ist nichts als fair, wenn sie das Nachholen ihres eigenen Palavers den anderen im Betrieb dann auch genehmigen. Dazu, wie gesagt, müssen sie aber zeitliche und räumliche Gelegenheiten schaffen.

Schade nur, dass wir dafür keine Lagerfeuer mehr haben.

Führungsbrief 39 – Hebelwirkung

Ein guter Mitarbeiter hat einen Wirkungsgrad von rund 100 Prozent. Eine Führungskraft muss wesentlich mehr haben: 300 Prozent, 400 Prozent oder noch mehr. Das kann sie nicht mit besonderem Fleiß, Überstunden oder mehr Geschwindigkeit erreichen, sondern einzig dadurch, dass sie Hebelwirkung erzeugt.

Hebelwirkung kann man bekanntlich erzeugen, wenn man einen Punkt findet, um den sich der Hebel drehen kann: Wer dann am langen Ende drückt, erzeugt am kurzen Ende starke Wirkung. In der Führung geht das zwar nicht so mechanisch, da Führung ja eine Beziehungsgestaltung ist. Aber dennoch kann eine Führungskraft ihren Anteil an dieser Beziehungsgestaltung gezielt auf eine größtmögliche Hebelwirkung anlegen.

Wir haben verschiedene Hebelpunkte, bei denen wir ansetzen können. Sie lassen sich grob in drei Gruppen einteilen, die sich in der Führungspraxis nach zeitlichen Gesichtspunkten unterscheiden lassen. Es gibt da freilich auch Überschneidungen:

  • Wo Führungskräfte tagtäglich Einfluss nehmen.
    Der klassische Hebel hierbei ist natürlich die Information. Ein anderer wirkungsvoller Hebel ist Vertrauen. Auch mittels Ideen kann eine Führungskraft Einfluss nehmen. Und ein überaus wirksamer Hebel – der immer, aber nicht immer in der gewünschten Richtung wirkt – ist das persönliche Vorbild. Dass es Führungskräfte gibt, die meinen, Druck und Kontrolle seien ihr bestmögliches Mittel zur Einflussnahme, stimmt in ihrem Fall vielleicht sogar, spricht aber nicht unbedingt für sie.
  • Wo man periodisch reflektiert, wie man die Dinge besser machen könnte.
    Etwas reflektieren heißt nicht bloß, im stillen Kämmerlein kritisch darüber nachzudenken. Reflektieren heißt spiegeln. Führungskräfte können selbst reflektieren, was sie und ihre Leute tun und wie man dies weiter verbessern könnte. Sie können auch gemeinsam mit ihren Leuten reflektieren. Sie können für sich selbst (gemeinsam mit anderen Führungskräften) Reflexionsgelegenheiten schaffen und gezielt nutzen. Dazu zählen alle Formen von Führungsentwicklung, seien das Workshops oder Seminare oder seien es zum Beispiel „Kaminfeuergespräche“ mit diesen Führungsbriefen. Dazu zählen auch KVP-Projekte („Kontinuierlicher Verbesserungsprozess“) oder Partizipationsprojekte sowie sonstige Maßnahmen der Mitarbeiterentwicklung.
  • Wenn Führungskräfte von Zeit zu Zeit die Bedingungen für das Arbeiten anderer schaffen.
    Führungskräfte definieren (in Abhängigkeit von der gewählten Strategie) Prozesse und Strukturen, sie leiten die Formulierung und Zuteilung von Aufgaben und Kompetenzen ab, und sie treffen Personalentscheide. All dies tun sie (hoffentlich!) nicht gerade alle Tage neu, aber sie sind dafür verantwortlich.

Nur am Rande: Personalentscheide sind der wahrscheinlich wichtigste Hebel überhaupt, mit dem Führungskräfte Bedingungen für das Arbeiten anderer schaffen können. Auch wenn sie eigentlich nur von Zeit zu Zeit vorkommen, finden sie auf eine gewisse Art dennoch täglich statt: Denn auch wer nur implizit Ja sagt zu einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter, entscheidet so, als hätte er diese Person gerade heute angestellt. Und wer sie heute gar nicht (mehr) anstellen würde, muss sich fragen, warum er dann nichts unternimmt: Ist es die empfundene soziale Verantwortung? Ist es eher Konfliktscheu? Ist es bloße Bequemlichkeit? – Dieser Punkt ist heikel und kann nicht hier vertieft werden. Aber es ist mir wichtig zu betonen, dass man einer „falschen“ Person nicht immer einen Gefallen tut, wenn man sie auf ihrem Job belässt. Nicht zu kündigen, ist nicht immer die sozial verantwortlichste Art. – Warum ich die Personalentscheide hier aber so heraushebe, ist deshalb, weil dadurch nicht nur Bedingungen für die unmittelbar Betroffenen, sondern immer auch für alle anderen drum herum geschaffen/verändert werden. Hier ist die Hebelwirkung am größten!

Nun ist es klar, dass die Hebellänge – wenn ich so sagen darf – je nach hierarchischer Stufe unterschiedlich ist. Dass „die oben“ mehr bewirken können als „die unten“, ist normal.

Aber das ist auch gar nicht die Frage. Die Frage ist vielmehr, ob Sie als Führungskraft den maximalen Hebel genutzt haben, den Sie in Ihrer Funktion einsetzen können.

Woraus aber ergibt sich die Hebellänge, also die Wirksamkeit eines Hebels, die dafür verantwortlich ist, ob man seinen Wirkungsgrad weit über 100 Prozent hinaus steigern kann?

  • Sie können sich mit einer Maßnahme gleichzeitig an mehrere Menschen richten und erzielen so rein quantitativ schon Hebelwirkung.
  • Sie können die Wirksamkeit Ihrer Leute steigern, indem Sie deren Mittel, Möglichkeiten und Kompetenzen im Sinne eines Empowerments ausweiten.
  • Sie erzielen Hebelwirkung, wo immer Sie Dinge ein für alle Mal regeln – vorausgesetzt natürlich, die Regelung ist klärend und hilfreich und nicht vor allem einengend.
  • Eine geniale Art, Hebelwirkung zu erzeugen, gewinnen Sie, wenn Sie es schaffen, Ihre Ideen in die Köpfe und Herzen Ihrer Leute so zu implementieren, dass diese Ideen dort kontinuierlich wirken. Wie ein Nikotinpflaster hinterm Ohr, sozusagen …
  • Vieles erreichen Sie auch durch geteilte Werte und eine gemeinsame Kultur; beides hilft, dass die Leute „automatisch“ zur gewünschten Richtung tendieren.
  • Ein ähnlicher Effekt entsteht, wenn Sie Ihren Leuten genügend Gelegenheit geben, sich das, was Sie von ihnen wollen, geistig anzueignen, indem sie sich wirklich aktiv und gründlich damit auseinandersetzen können.
  • Hebelwirkung entsteht auch dann, wenn Sie das, was Sie erreichen wollen, bei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit deren Bedürfnissen verknüpfen können, sodass Sie quasi an ihre Eigenmotivation andocken können; freilich klappt dies nur dann, wenn diese Bedürfnisse danach auch echt befriedigt werden.
  • Und dann sind Sie ja nicht allein: Sie können Multiplikatoren einsetzen, also Leute, die Sie bereits gewonnen haben, dafür gewinnen, dass sie weitere Leute überzeugen.
  • Schließlich: Ungeschickt ist es, wenn Sie Hebelwirkung zu erzeugen versuchen, obwohl das Hebelstück auf Ihrer Seite des Drehpunkts kürzer ist als auf der Seite der Mitarbeitenden. Da sinkt Ihr Wirkungsgrad rapid unter 100 Prozent. Das ist immer da der Fall, wo Sie etwas tun, das eigentlich Ihre Leute tun (und können) müssten.

Sicher ist eines: Wenn Sie sich als Führungskraft primär bloß darum bemühen, täglich alle E-Mails abzuarbeiten, die ungefiltert in Ihre Inbox strömen, statt zu führen und sich auf den Einsatz der hier beschriebenen Hebel zu konzentrieren, dann werden Sie Ihren Wirkungsgrad kaum über 100 Prozent hinaus steigern können.

Checken Sie also Ihren Alltag: Wo ist Ihr Hebel wie lang?

Führungsbrief 38 – Zuhören

Politik hat in diesen Führungsbriefen zwar keinen Platz. Aber erlauben Sie mir bitte doch, einen Satz aus der Rede Barack Obamas zu zitieren, die er vor seinen Anhängern hielt, nachdem sein Wahlsieg feststand: „Ich werde euch zuhören – gerade wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.“ Ein bemerkenswerter Satz, finde ich. Ob Obama dieses Versprechen halten wird, steht hier ja nicht zur Debatte; hier geht es nur um die Frage, was Zuhören für eine Führungskraft bedeutet.

Eines ist sicher, Zuhören ist keine einfache Sache – so simpel es von außen auch aussehen mag. Lassen Sie mich das Thema von verschiedenen Seiten beleuchten:

  • Zunächst können wir annehmen, dass – wer zuhören will – in dieser Zeit nicht selbst redet. Man sollte meinen, das sei ja wohl noch kein Problem: Einfach den Mund halten und den anderen seine Sache sagen lassen. Aber schon hier sind die Unterschiede riesig. Achten Sie einmal darauf, wer Ihnen wie zuhört. Zeigt sein Gesichtsausdruck echtes Interesse? Können Sie seiner Miene ansehen, dass er missbilligt, was Sie sagen? Haben Sie das Gefühl, dass er Ihre Redezeit einzig dafür verwendet, sein nächstes Statement vorzubereiten? Oder schlafft er sofort völlig ab, wenn Sie reden – zum Beispiel, weil er so ein völlig überarbeiteter Manager ist, der nur noch wach bleibt, solange er selbst redet?
  • Weiter können wir uns fragen, wie die Phase des Zuhörens eingeleitet wurde. Durch eine passende oder durch eine unpassende Frage? Durch die Initiative der anderen Person oder durch die des Zuhörenden? Wir wissen um die Kraft einer gut gestellten Frage oder einer glaubwürdigen Ermunterung. Wir wissen aber auch, wie sehr man jemanden zum Beispiel mit einer brüsken Aufforderung oder einer zynischen Bemerkung in die Enge treiben kann.
  • Dann: Wie lange geht das Zuhören? Bis der andere Luft holen muss, sodass man blitzschnell dazwischenschießen und selbst weiterreden kann? Gewiefte Politiker wissen, dass sie nur nach einem Komma – aber nie nach einem Punkt – atmen dürfen, wenn sie ihre ganze Botschaft in die Kamera sagen wollen. (Jeder Reporter wartet nur auf ein Satzende, um weiterfragen zu können. Beim Komma dreinzureden, bevor etwa auf den Nebensatz erst der Hauptsatz folgt, ist selbst für solche Leute etwas gar unhöflich. Aber Reporter wollen ja auch nicht zuhören, sie haben ein Tonbandgerät.) Kurzum: Lässt der Zuhörende den Sprechenden wirklich alles sagen, was dieser sagen will – selbst wenn er zwischendurch nachdenklich innehält?
  • Was schließlich folgt nach dem Ende des Abschnitts, wo man zuhört? Gelingt es einem, dem anderen das Gefühl zu geben, man habe gehört und verstanden, was dieser sagen wollte? Gibt es eine Rückversicherung von der Art „Habe ich dich richtig verstanden, du meinst …?“ Kann ich aus der nächsten Äußerung meines Gegenübers schließen, dass er auf meine Sicht eingeht – auch wenn er sie nicht teilt?

Hier nun ist ein Intermezzo angebracht: Auch die allerbeste Zuhörerin wird nie genau das verstehen, was ich ihr sagen wollte. All meine Worte können – wenn es sich nicht um eine äußerst triviale Aussage handelt – nur eine knappe Andeutung davon sein, was ich im Innersten gemeint habe. Nicht einmal mir selbst kann der ganze Umfang dessen, was ich mitteilen wollte, voll bewusst sein. Umgekehrt bauen sich im Kopf meiner Zuhörerin bei all meinen Worten (wie auch meiner Gestik und Mimik sowie meinem Tonfall) ganze Bedeutungswelten auf, die mir keineswegs zugänglich sind und die nur vielleicht – und sicher nur in Teilen – mit dem übereinstimmen, was ich sagen wollte. Die Antwort meiner Zuhörerin aber wird sich aus diesen, ihren eigenen Gedanken, Bildern und Assoziationen ableiten – und nicht aus den meinigen.

  • Führungsgespräche sind zwar häufig so sachbezogen, dass sich viele dieser Schwierigkeiten kaum bemerkbar machen. Aber von diesen Fällen rede ich hier nicht. Ich rede von jenen Gesprächen, die heikel sind. Wie gelingt das Zuhören im Falle einer „chemisch“ gestörten Beziehung – wenn mich der andere schon nervt, kaum dass er den Mund aufmacht? Wie, wenn ich überzeugt bin, schon ganz genau zu wissen, was er mir sagen will – weil er es schon tausendmal getan hat? Wie, wenn ich meine Entscheidung nicht mehr durch weitere Argumente beeinflussen lassen will? Wie, wenn ich im Innersten weiß, dass er recht hat, ich ihm das aber nicht gönne? Wie, wenn ich keine Zeit mehr verlieren will oder kann? Wie, wenn ich ganz einfach keine Lust mehr habe, weiterzudiskutieren?
  • Und letztlich: Weiß Ihr Gesprächspartner, was Sie nach dem Gespräch tun werden? Wer mir zwar aufmerksam zuhört und so tut, als lasse er sich überzeugen, dann aber doch tut, was er will, ohne sich zu begründen – der hinterlässt bei mir ein schaleres Gefühl, als wenn er gar nicht zugehört hätte. Aber ich kann akzeptieren, wenn er meinen Argumenten nicht folgt, wenn er sie wenigstens verstanden hat – zumindest, wenn ich wiederum ihm bei seinen Argumenten zugehört habe.

Selbstredend gibt es keinen Grund, jedem, immer, ewig zuzuhören (außer vielleicht Ihrem Chef, aber dies ist eher ein innenpolitischer als ein psychologischer Rat …). Es gibt eine Zeit zum Reden, und es gibt eine Zeit zum Handeln. Wenn Sie nicht mehr reden wollen, sondern entscheiden und handeln, dann tun Sie das. Wenn Sie nur jemandem etwas sagen/mitteilen/befehlen, aber nicht mit ihm reden (und also auch zuhören) wollen, dann tun Sie das. Freilich müssen Sie bereit sein, die Folgen davon zu tragen: möglicherweise Unzufriedenheit oder Widerstand oder Mangel an Commitment. Nur kann Ihnen das die Sache ja unter Umständen wert sein.

Fruchtlos aber ist, zusammen zu reden, ohne sich gegenseitig zuzuhören.

Wenn Sie den anderen überhaupt reden lassen, dann hören Sie ihm auch zu. Wenn Sie nicht bereit sind, ihm zuzuhören, sagen Sie ihm einfach, was Sie von ihm wollen oder denken. Fertig.

Wenn Sie aber zuhören wollen, dann …

  • tun Sie es aktiv, im redlichen Bemühen zu verstehen.
  • zeigen Sie Ihr Interesse an dem, was der andere sagt.
  • stellen Sie gute Fragen.
  • geben Sie in eigenen Worten wieder, was Ihr Vis-à-vis gesagt hat (man nennt das paraphrasieren).
  • strafen Sie Ihre eigenen interessierten Worte nicht Lügen mit Ihrem Gesichtsausdruck, Ihrer Körperhaltung oder Verhaltensweisen wie gleichzeitiges Töggelen am PC oder Spielen mit dem iPhone.
  • werden Sie sich klar darüber, was Sie tatsächlich hören wollen: Zustimmung oder eine eigene Meinung? Komplimente oder Argumente? Etwas, das Sie wissen, oder etwas, das Sie nicht wissen? Gefälliges oder Wahres?

Und lernen Sie dabei, auch Ihrem eigenen Innersten zuzuhören. Selbst wenn das, was Sie da hören, nicht immer bloß edel und wunderbar ist.

Eines verspreche ich Ihnen: Wenn Sie es bei Ihren Mitarbeitenden schaffen, ihnen ein echtes Gefühl davon zu geben, was ich eingangs mit Obamas Versprechen zitiert habe, dann gewinnen Sie als Führungskraft.

Also hören Sie Ihren Leuten zu. Gerade wenn Sie unterschiedlicher Meinung sind. Zumindest so lange, bis Sie sicher sind, Ihre Leute verstanden zu haben. Und bis diese das auch wissen.

Führungsbrief 37 – Inkompetenzkompetenz

Ich hoffe ja schwer, dass Sie über einen so grässlichen Titel stolpern. Lassen Sie mich daher kurz erklären, wie es dazu kommt, dass ich ihn trotzdem gewählt habe.

Seit einigen Jahren ist in der Fachliteratur von unterschiedlichsten Kompetenzen die Rede, über die Sie als Führungskraft verfügen sollten. Unschön daran ist erstens, dass der Begriff „Kompetenz“ zwar toller klingt als Fähigkeit oder Fertigkeit oder Wissen oder Können – aber kein bisschen präziser ist. Unschön ist zweitens, dass man häufig so tut, als wäre eine Kompetenz in unserem Kopf „geladen“ wie Word auf meinem Mac (Haben Sie eigentlich in Ihrer Sozialkompetenz noch Version 3.1 oder schon 4.0?). Und drittens ist unschön, dass es bislang über Tausend verschiedene Kompetenzen gibt, die Sie bitte schön vorweisen sollten. Darunter gibt es auch richtige Trouvaillen – wie eben die Inkompetenzkompetenz –, und deshalb widme ich diesem Thema einen Führungsbrief.

Wer über Inkompetenzkompetenz verfügt, weiß, was er nicht kann – und kann gut damit umgehen.

So, jetzt dürfen Sie das grässliche Wort wieder vergessen und sich ganz auf unser Thema konzentrieren. „Nobody is perfect“. Keiner ist vollkommen. Jede hat Schwächen und Fehler. Die eine kann nur schwer ihre Gefühle zeigen. Der andere kann sich nicht klar ausdrücken. Der eine hat eine chaotische Planung. Die andere beherrscht die Rechtschreibung nur ungenügend. Die eine tut sich schwer mit Entscheidungen. Der andere kann keine Härte zeigen. Und so weiter. Setzen Sie hier bitte Ihre paar wichtigsten Schwächen ein.

Achtung: Hier geht es nur um Schwächen/Fehler, die wir nicht einfach durch Lernen oder Besserung oder Disziplin aus der Welt schaffen können.

Gewisse Schwächen (oder extrem stark ausgeprägte Schwächen) bedeuten „no go“ für Führung: Wenn Sie den Umgang mit Menschen nicht mögen, dürfen Sie nicht Führungskraft sein. Wenn Sie kommunikativ wirklich schlecht sind, ebenfalls. Und sollten Sie gar charakterlich ein Lump sein, erst recht nicht. – Und falls Sie selbst so etwas nicht merken, sollte es Ihnen vielleicht jemand sagen. Es gibt ja schließlich noch andere interessante Berufe als Chefsein.

Unterhalb der „no go“-Schwelle aber trennt sich die Spreu vom Weizen. Natürlich kann sich jeder einfach mit seinen Fehlern abfinden und davon ausgehen, man soll ihn so nehmen, wie er sei. „Ich bin, wie ich bin.“ Allzu oft wird auch genau dies getan. Aber es ist nicht cool. Oder finden Sie es cool, wenn jemand, der kurzsichtig ist, sich damit abfindet und einfach vors nächstbeste Auto läuft, das er leider nicht kommen sah? Cool ist, sich Kontaktlinsen oder eine modische Brille zu besorgen.

Der erste Schritt dazu, auf kompetente Weise mit seiner Inkompetenz umzugehen, besteht darin, sie zu erkennen. Wie gut kann ich organisieren? Kann ich Menschen auch mit Charme gewinnen? Kann ich, wo nötig, auch mal hart durchgreifen? Verstehe ich das Geschäft gut genug? Und so weiter.

Der zweite Schritt besteht darin, nach Wegen zu suchen, wie man seine Schwächen – wenn sie eben nicht zu beseitigen sind – kompensieren kann. Aber bitte – kompensieren, nicht kaschieren: Es gibt nichts Lächerlicheres als den Versuch, mit langen Strähnen von Schläfenhaaren, die man sich mit Gel befestigt über den Kopf klatscht, eine Glatze verstecken zu wollen.

Folgende Fragen sind beim Kompensieren von Schwächen zu bedenken:

  • Was habe ich davon, wenn ich diese Schwäche erfolgreich kompensiere? Was haben andere davon?
  • Was ist der Preis, wenn ich die Sache auf sich beruhen lasse und einfach mit der Schwäche lebe?
  • Gibt es Methoden, Tricks oder auch Umwege, die dafür hilfreich wären?
  • Gibt es jemand, der mir hier etwas abnehmen oder der mich unterstützen kann? Ein Mitarbeiter? Die Chefin? Ein Coach? Eine Kollegin?
  • Kann ich mein „Spielfeld“ als Führungskraft so verändern, dass die Schwäche keine Schwäche mehr ist?
  • Kann ich mir in dieser Sache so behelfen, dass ich am Schluss gestärkt daraus hervorgehe (z.B. weil ich mit Brille besser aussehe als ohne)?

Der dritte Schritt besteht darin, die richtige Kommunikationsstrategie zu finden. Es gibt Dinge, die soll man nicht ansprechen, sondern so selbstverständlich tragen, dass sich keiner dafür interessiert. Es gibt andere Dinge, die man explizit bei den Betroffenen ansprechen muss, damit die leichter damit umgehen können. Es ist nicht in jedem Einzelfall leicht zu wissen, wie man kommunikativ mit Schwächen umgehen soll. Aber es lässt sich eben nur im Einzelfall beurteilen. Hilfreich ist sicher, wenn man sich vorstellt, der eigene Chef oder eine Kollegin oder ein Mitarbeiter stünden vor demselben Problem: Was würde mich dann kommunikativ zufriedenstellen und was nicht?

In einem arg verkürzten Beispiel: Es fällt mir schwer, auch mal hart zu sein und Druck zu machen, wenn ein Mitarbeiter nicht „liefert“. Das muss ich zunächst mir selbst gegenüber zugeben (1). Und ich muss einsehen, dass sich das mit meiner Führungsrolle nicht verträgt. Also sorge ich dafür, dass ich entsprechende Zwischengespräche mit diesem Mitarbeiter sehr formal führe: Er muss über das Gespräch Protokoll führen und festhalten, was vereinbart war, was er nicht geliefert hat und was er nun tun wird (2). Meinen Mitarbeitenden erkläre ich diese „Spielregel“ (und meinen ganz persönlichen Grund dafür) und bitte sie, sich auch in ihrem eigenen Interesse daran zu halten respektive sich darauf einzustellen (3). – Nur am Rande: Wir reden hier primär von einer Maßnahme, die gegenüber allen Beteiligten ein klares Zeichen setzt. Wenn dann also ein solches Gespräch (mit Protokoll) stattfindet, wissen sie, dass es ernst gilt.

Viele sogenannte starke Menschen erscheinen nur deshalb so stark, weil sie alle Felder meiden, in denen ihre Schwächen erkennbar würden. Das ist keine schlechte Strategie, setzt freilich voraus, dass man tatsächlich Betätigungsfelder findet, bei denen man ausschließlich seine Stärken brauchen kann.

Andere Menschen erscheinen stark, weil sie die Größe haben, Inkompetenzen zuzugestehen. Das klappt nur, wenn sie daneben auch über genügend Stärken verfügen und wenn sie es schaffen, nicht überheblich oder einfach bequem zu klingen, wenn sie ihre Fehler eingestehen.

Schwach erscheinen dagegen Menschen, die so sehr auf ihre eigenen Schwächen und Fehler konzentriert sind, dass sie nur noch diese sehen und ihre eigenen Stärken gar nicht mehr erkennen. Das müssen Sie vermeiden! Forcieren Sie lieber Ihre Stärken, als dass Sie sich moralinsaure Asche aufs Haupt streuen und sich von Ihren Schwächen lähmen lassen.

Wahre Künstler sind aber jene Menschen, die es schaffen, ihre eigenen Schwächen gnadenlos zu identifizieren – aber nur, um dann mit viel Witz und Fantasie Wege zu finden, um daraus Kapital zu schlagen. Sei es, weil sie sich Hilfe holen, die noch besser ist als das, was man von ihnen überhaupt erwartet hätte. Sei es, weil sie es schaffen, dass man ihre Schwäche liebevoll als Marotte sieht und verzeiht. Sei es, weil es ihnen gelingt, anderen Menschen eine Profilierungschance zu bieten, sodass diese mit Begeisterung in die Lücke springen, die die eigene Schwäche geöffnet hat. Sei es, weil sie immer mal wieder eine Schwäche zum Anlass nehmen, sich in einem sportlichen Wettstreit selbst zu beweisen, dass sie es doch besser können. Oder sei es, weil sie ihren Platz souverän jemandem überlassen, der es besser kann als sie.

Glücklich, wer diese Stufe der Inkompetenzkompetenz erreicht hat!

Führungsbrief 36 – Fragen

Wenn Sie ein Problem haben, fragen Sie Ihren Chef! Schließlich sollen Vorgesetzte Antworten haben und Antworten geben. Diese Forderung ist doch nicht völlig unberechtigt, nicht wahr? Obwohl – es wäre leicht, einen Führungsbrief darüber zu schreiben, wie viele Führungsprobleme daraus resultieren, dass Vorgesetzte gerade zu oft und zu schnell Antworten haben und geben. Das tue ich aber heute nicht.

Heute möchte ich mich auf die Fragen konzentrieren. Fragen sind ein überaus nützliches Werkzeug in der Toolbox der Führung (falls es denn überhaupt eine solche Werkzeugkiste gibt). Aber wie bei allen Werkzeugen gilt auch hier: Nützlich ist nur, was passt. Wenn Sie mit einem 12er-Schlüssel eine verhockte 10er-Mutter lösen wollen, vermurksen Sie sie nur.

Für Führungskräfte gibt es nämlich passende und unpassende Fragen.

Unpassende Fragen sind zum Beispiel:

  • Haben Sie sich etwas dabei gedacht, als Sie­ …?
    [Nein, natürlich nicht. Sollte ich?]
  • Habe ich mich klar ausgedrückt?
    [Vermutlich schon, aber ich habe es dennoch nicht kapiert. Und akzeptiert schon gar nicht. Aber ich schweige jetzt lieber.]
  • Muss ich vielleicht alles selbst machen?
    [Aber sicher, Boss, denn jeder andere wäre ja eh schlechter als Sie.]
  • Liegt der Fehler vielleicht bei mir?
  • [Nie im Leben, lieber Chef.]
  • Kann ich mich auf Sie verlassen?
    [Ihr tief empfundenes Vertrauen in meine Zuverlässigkeit ehrt mich einfach immer wieder.]
  • Würden Sie es mir überhaupt sagen, wenn Sie anderer Meinung wären?
    [Und wenn nicht – wie soll ich dann diese Frage beantworten?]

Nur am Rande: Die obigen Fragen sind nur dann immer unpassend, wenn Sie sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stellen. Wenn Sie die gleichen Fragen sich selbst stellen (und eine ehrliche Antwort wagen), dann sind sie ganz und gar nicht immer unpassend.

Passende Fragen (an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) sind – jedenfalls fast immer:

  • Wie sehen Sie das Problem?
  • Was kann ich zur Lösung beitragen?
  • Stimmen die Voraussetzungen, damit Sie Erfolg haben können?
  • Was würden Sie tun, wenn Sie ganz allein entscheiden könnten?
  • Welche Möglichkeiten haben Sie geprüft, aber verworfen? Und was waren Ihre Gründe?
  • Gibt es noch etwas, das Sie wissen oder haben müssen, um weitermachen zu können?
  • Was ist Ihnen besonders wichtig bei …?
  • Was passiert, wenn wir … nicht tun?
  • Was verlieren wir gegenüber heute, wenn wir … tun?
  • Haben Sie noch eine gänzlich andere Idee?
  • Was, glauben Sie, würden in dieser Sache Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von uns in der Führung erwarten?

Kleiner Zwischenhalt: Lassen Sie sich doch noch einmal die letzten paar Gespräche durch den Kopf gehen, die Sie mit Mitarbeitenden (oder anderen im Betrieb) geführt haben. Erinnern Sie sich an Fragen, die, zumindest nachträglich betrachtet, unpassend waren? Und warum? Erinnern Sie sich an passende, weiterführende Fragen? Können Sie sich den Unterschied erklären? – Und: Wo hätten Sie vielleicht besser eine gute Frage gestellt, statt eine schnelle Antwort gegeben?

Gute Fragen im richtigen Moment zu stellen, ist eine hohe Kunst. Wer sie beherrscht, vermag viel mehr zu bewirken als jene, die immer schon alles wissen und jedem zeigen, wo es langzugehen hat.

Einer meiner Lieblingswissenschaftler, ein wirklich kluger Mensch, erzählt in seiner Autobiografie, dass ihn seine Eltern, wenn er als Kind aus der Schule kam, nie gefragt haben: „Was hast du heute gekonnt/gewusst in der Schule?“ Sie fragten ihn jedoch: „Hast du heute eine gute Frage gestellt in der Schule?“

Das sollten Sie beachten:

  • Fragen Sie nicht, wenn Sie die Antwort schon kennen. Das dürfen nur Lehrer in der Schule.
  • Fragen Sie nicht, wenn Sie die Antwort scheuen. Sie machen sich sonst lächerlich.
  • Stellen Sie sicher, dass Sie die Antwort verstanden haben.
  • Machen Sie etwas mit den Antworten, die Sie auf Ihre Fragen bekommen. Und zwar auch dann noch respektvoll, wenn Ihnen die erhaltene Antwort nicht gefällt.
  • Vermeiden Sie alles, was man Ihnen als Desinteresse an der Antwort auslegen könnte.
  • Fragen Sie sich, woran es liegen kann, wenn eine Antwort auf Ihre Frage komplett anders ausfällt, als Sie erwartet haben.

Dass es eher auf die richtige Frage ankommt als auf die richtige Antwort, weiß jeder richtige Fan des Science-Fiction-Kultbuchs „Per Anhalter durch die Galaxis“. Dort werden nämlich dem größten je erbauten Computer vom intergalaktischen Rat die wirklich abschließenden Fragen nach dem Leben, dem Universum und allem gestellt. Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren spuckt die Maschine die Antwort aus. Sie ist mit absoluter Sicherheit korrekt und lautet: „Zweiundvierzig“.

Führungsbrief 35 – Verbindlichkeit

Unter allen Führungswerten, die heutzutage in modernen Leitbildern zur Unternehmenskultur zu finden sind, ist zumindest einer, der mir persönlich sehr viel wert ist: Verbindlichkeit.

Von allen „Krankheiten“, an denen das zeitgenössische Management häufig leidet, stört mich persönlich eine am allermeisten: Unverbindlichkeit.

Wo immer ich mit Führungskräften über Stärken und Schwächen ihres Teams rede, wo immer ich mithelfe, jene Werte zu identifizieren, die für ein Unternehmen zukunftssichernd sind, wo immer ich Mitarbeiter über ihre Chefs interviewe – man beklagt die herrschende Unverbindlichkeit, und man wünscht sich Verbindlichkeit in der Führung. Wir sind uns also einig.

Warum bloß habe ich noch nie eine Führungskraft getroffen, die sich selbst für unverbindlich hält? Vielleicht sagt zwar jemand: „Wir sind in unserem Unternehmen einfach zu wenig verbindlich in der Führung!“ – aber dieser jemand meint nie sich selbst. Manchmal ähnelt die Suche nach den wirklich Unverbindlichen jener Geschichte, in der ein Gastreferent im Gemeindesaal des Dorfes über die Probleme der Weltüberbevölkerung spricht. Dramatisierend ruft er aus: „Stellen Sie sich vor: Jede Sekunde bringt irgendwo auf diesem Planeten eine Frau ein Kind zur Welt! Was soll man da bloß tun?“ – Verzagte Stimme aus dem Hintergrund: „Zuerst einmal müsste man diese Frau finden.“

Übersehen wird offenkundig, dass Unverbindlichkeit (zumindest für eine Seite) auch prima Vorteile hat. Bleibe ich unverbindlich, verpflichte ich mich zu nichts, ich kann nicht eingeklagt werden, ich kann mir alle Optionen offen lassen, ich kann auf zusätzliche Entscheidungsgrundlagen warten und so weiter.

Unverbindlichkeit beklagt man offenbar also nur bei anderen. Selbst wäre man lieber ganz nach Bedarf verbindlich oder eben unverbindlich. Unnötig zu sagen, dass diese Rechnung übers Ganze gesehen nicht aufgehen kann.

Meine These ist, dass (Un-)­ Verbindlichkeit nicht das Merkmal einer Person oder Persönlichkeit ist, sondern das Merkmal einer Führungsbeziehung. Keiner ist allein verantwortlich für eine Führungsbeziehung. It takes – wie Sie wissen – two to tango! Für meinen Anteil daran gilt: Einerseits muss ich selbst verbindlich sein. Andererseits muss ich deutlich machen, dass ich von anderen ebenfalls Verbindlichkeit erwarte. Nur – zumindest Ersteres werde ich nur tun, wenn es mir das übers Ganze gesehen mehr bringt als die Vorzüge einer fröhlichen Unverbindlichkeit.

Verbindlichkeit ergibt sich aus Klarheit, Verlässlichkeit, Partnerschaftlichkeit.

Wenn Sie zu diesen drei Begriffen das Kürzel KVP assoziieren, so ist das keineswegs falsch: Es meint hier zwar nicht – wie in der Organisationslehre üblich – das Konzept eines „Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses“, aber die damit verbundene Philosophie gilt auch für Verbindlichkeit: Man muss stetig dranbleiben, man ist nie fertig damit, es verträgt auch nicht große Sprünge (und schon gar nicht große Worte), denn es zeigt sich im Kleinen.

Klarheit – Sagen, was man denkt. Transparent sein. Nicht mit gezinkten Karten spielen.

Verlässlichkeit – Tun, was man sagt. Zu seinem Wort stehen. Nichts versprechen, was man nicht so gut wie sicher halten kann. Schnell und ohne faule Ausreden mitteilen, wenn sich etwas als nicht realisierbar herausstellt.

Partnerschaftlichkeit – Auf gleicher Augenhöhe kommunizieren und kooperieren. Anstand vorleben und einfordern. Den menschlichen Respekt unter allen Umständen wahren. Akzeptieren, dass andere eine andere Perspektive auf die Dinge haben können, und versuchen, diese zu verstehen.

Allein diese stichwortartige Aufzählung zeigt, dass keiner von uns einfach verbindlich ist. Vielmehr verhalten wir uns anderen gegenüber so, dass diese Beziehung insgesamt eher als verbindlich oder eher als nicht verbindlich erlebt wird.

Leider ist es so, dass man viel weniger tun muss (und sehr viel lassen kann), um als unverbindlich erlebt zu werden. Während man sehr viel tun muss (und nur wenig lassen kann), wenn man als verbindlich erlebt werden will. KVP geht nur, wenn man erkennbar ständig darum bemüht ist. Fehler kommen vor, das macht nichts. Sie werden leicht verziehen, wenn übers Ganze gesehen das redliche Bemühen um Verbindlichkeit zu spüren ist und man nicht den Eindruck gewinnt, der andere nehme sich bei Bedarf jede Unverbindlichkeit um des eigenen Vorteils willen heraus.

Soweit die Behandlung des Themas unter einem Aspekt, den mancher als „Moralin“ empfinden mag. Wenn wir nun aber davon Abstand nehmen, was der Einzelne hinsichtlich KVP tut oder lässt, und uns seinem Umfeld zuwenden, dann sehen wir einen Zeitgeist, der immer wieder Unverbindlichkeit begünstigt:

  • Flexibilität wird jederzeit und von allen gefordert. Das kann nur sein, wenn immer wieder Dinge nicht mehr gelten, die eben noch galten. Auch wenn die Beteiligten dabei klar, verlässlich und partnerschaftlich agieren – man erlebt das Ganze doch als eher unverbindlich.
  • Change wird so hochgejubelt, dass man denkt, alles werde besser, wenn es sich nur ändere. Wenn aber alles zwar stetig besser werden soll, aber nie gut sein darf, ergibt dies wiederum kein ausgeprägtes Gefühl von Verbindlichkeit.
  • Zielkonflikte sind Alltag in der Führung. Widersprüchliches Verhalten ist damit fast unvermeidlich. Darunter leidet zumindest die Verlässlichkeit. Und wer sich dennoch um Klarheit bemüht, schadet vielleicht gerade deshalb der erlebten Partnerschaftlichkeit – weil man ihn nämlich bloß als fremdbestimmten Ausführenden (wenn nicht als Durchlauferhitzer) und nicht als verantwortlich Handelnden empfindet.

In dieser nicht gerade einfachen Situation kann ein Führungsteam eigentlich nur eines tun: Gemeinsam bereden, wie es Verbindlichkeit erlebt und erleben möchte. „Wie verhalten wir uns? Wie erleben wir einander in Sachen KVP? Was könnte/sollte dabei eventuell anders sein? Was würden wir gewinnen oder verlieren, wenn wir alle verbindlicher wären?“

Wer sich über solche Fragen gemeinsam verständigt hat, kann im konkreten Einzelfall leichter Verbindlichkeit einfordern und ebenfalls leichter damit umgehen, wenn sie bei ihm von anderen angemahnt wird. Das Thema wird dann nämlich weniger als moralinbelastet erlebt. Es wird Teil des täglichen Ausjassens von Führungsbeziehungen. Ganz im Sinne eines „Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses“.

Führungsbrief 34 – Persönliche Führung

Führung ist nicht alles, was eine Führungskraft tut. Führung in einem engeren Sinne umfasst all das, wofür eine Führungskraft nur als Person geradesteht. Der Spielraum für so verstandene persönliche Führung hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen, und dies aus zwei Gründen:

Zum einen gibt es immer mehr Führungsaufgaben, die einer Führungskraft weggenommen werden. Sie werden durch formal definierte HR-Prozesse ersetzt, sie werden vom obersten Management stellvertretend für alle anderen Führungskräfte ein für allemal erledigt. Oder sie werden so sehr standardisiert, dass dem individuellen Stil kaum mehr Spielraum bleibt.

Zum anderen gibt es immer mehr führungsfremde Tätigkeiten, die die Agenda von Führungskräften zuschütten, sodass ihnen immer weniger Zeit für persönliche Führung bleibt. Nicht selten verleitet der Druck dieser zusätzlichen Aufgaben (im Reporting, in Projekten, mit ewigen Abwesenheiten oder schlicht durch zu extensiven Mailverkehr) dazu, im Innersten eigentlich noch ganz empfänglich dafür zu sein, wenn einem die Führungsaufgaben immer mehr weggenommen werden.

Wer Führungskraft sein will, sollte sein ureigenstes Terrain nicht kampflos aufgeben. Und das ureigenste Terrain ist nun mal die persönliche Führung.

Auch wenn mir alles Umstürzlerische fremd ist – ich rufe Sie dazu auf, sich dieses Terrain wenigstens ein Stück weit zurückzuerobern:

  • Schauen Sie wieder häufiger spontan bei Ihren Mitarbeitenden im Büro oder am Arbeitsplatz vorbei – sitzen Sie nicht nur bei terminierten Meetings zusammen.
  • Sagen Sie Ihren Leuten auch außerhalb des definierten Zielsetzungs- und Leistungsbeurteilungsprozesses, was Sie von ihnen wollen und wie Sie ihre Leistung beurteilen.
  • Schreiben Sie keine Mail, wenn ein Telefongespräch möglich wäre, Missverständnisse verhindern könnte und Gelegenheit für ein kleines bisschen Smalltalk gäbe.
  • Besorgen Sie sich zwar alle wichtigen Informationen zu einem Problem, aber erlauben Sie sich auch Bauchentscheide – und stehen Sie dazu.
  • Gehen Sie das Risiko von Konflikten ein – Führung ist kein Beliebtheitswettbewerb.
  • Stellen Sie auch Leute ein, die nicht dem Standard-0815-Profil entsprechen, sondern Ecken und Kanten haben und auch einmal unkonventionell sind.
  • Nehmen Sie sich Zeit zum Denken – ohne Meeting, ohne Block vor sich, ohne Hand an Maus oder Tastatur, ohne Handy; am besten, Sie legen die Beine auf den Tisch oder Sie gehen herum oder Sie machen einen Spaziergang.
  • Verzichten Sie auch mal auf PowerPoint, reden Sie frei und akzeptieren Sie, wenn ein anderer frei spricht.
  • Stehen Sie zu Ihrer Persönlichkeit – mit all Ihren schrägen Seiten, aber helfen Sie anderen, damit umzugehen, und respektieren Sie immer die Würde der anderen.
  • Stellen Sie sich vor Ihre Mitarbeitenden, wenn die einmal Mist gebaut haben.
  • Schielen Sie nicht auf Ihre Karriere, seien Sie eher bereit, sich jederzeit feuern zu lassen; Mutlose soll man nicht Führer sein lassen.
  • Stehen Sie zu Ihren Sympathien und Antipathien; niemand ist glaubwürdig, wenn er allen gegenüber genau gleich ist – denn so einem Menschen ist man letztlich gleich-gültig.
  • Gönnen Sie sich Emotionen, Sie sind nicht aus Plastik; aber seien Sie sich nicht zu schade, sich zu entschuldigen, wenn Sie deswegen einmal jemanden verletzt haben.
  • Beherrschen Sie die modernen Arbeitswerkzeuge und Management-Tools – aber lassen Sie sich nicht von ihnen beherrschen.
  • Sprechen Sie Ihre eigene Sprache, überlassen Sie es den Beratern, mit „Management-Speak“ Eindruck schinden zu wollen.

Sie werden sagen: Wenn ich all das tue, kriege ich Ärger. Das ist so. Aber nicht nur: Sie kriegen auch „Standing“ und Respekt und ein unverwechselbares Image. Man wird sie als Führungspersönlichkeit wahrnehmen.

Hier muss ich etwas einfügen: Wenn Sie die Führungsliteratur ein wenig verfolgen, dann wissen Sie, dass der „Asbach Uralt“ der Führungspsychologie seit einigen Jahren fröhliche Urständ feiert. Man ruft wieder nach charismatischer Führung und behauptet, persönliches Charisma befähige zum Führen. Das ist leider nicht wahr. Wahr aber ist, dass persönliches Charisma einer – mit mehr als nur dieser Ausstrahlung befähigten – Führungskraft viel leichter vieles aus der oben genannten Liste verzeihen lässt. Ihr Ärger wird also etwas geringer, ihr Gewinn etwas größer sein. Charisma ist keine Fähigkeit. Charisma ist eine gute Entschuldigung und ein vorzügliches soziales Schmieröl.

Der Witz an der Sache ist Folgendes: „Echte“ Menschenführung ist persönlich und umfasst lauter Dinge, die nicht schon durch betriebliche Reglemente, Prozesse oder gar Gesetze geklärt sind, sondern eine gewisse Willkür (nicht Beliebigkeit oder Unüberlegtheit!) der Führungskraft enthalten. Die Führungskraft tut etwas, weil sie davon überzeugt ist – es hätte aber auch wegfallen oder etwas anderes sein oder anders getan werden können. Dies führt zu einem gewissen Rechtfertigungs- und Glaubwürdigkeitsdruck. Wo jemand führen will, da muss jemand folgen! (Bei dieser Gelegenheit: Warum sollten Ihre Leute eigentlich Ihnen folgen?)

Persönliche Ausstrahlung, Charisma, ein gewinnendes Wesen, Verführungskünste und ähnliche unverdiente Geschenke der Götter reduzieren diesen Rechtfertigungsdruck. Schön für diejenigen, die darüber verfügen.

Wem die Sache jedoch nicht so leicht in den Schoß fällt, der kann sich persönliche Führung überhaupt nur leisten, wenn er tragfähige Führungsbeziehungen aufbauen kann, die ihm auch dort noch Respekt und Akzeptanz verschaffen, wo er kraft seiner Führung Dinge tut, die eben nicht nur Applaus auslösen.

Wer sich aber persönliche Führung gar nicht leisten kann oder will, bleibt als Führungskraft ein König ohne Land. Da hilft das Tragen der Krone auch nicht viel.

Führungsbrief 33 – Führungserfolg

Ich gebe es zu: Auch nach vielen Jahren engagierter Tätigkeit in der Führungs­entwicklung befällt mich ab und zu ein gewisser pädagogischer Wahn. In diesen leicht vernebelten Augenblicken beseelen mich dann die merkwürdigsten Überzeugungen:

  • Ich glaube dann, der Beruf einer Führungskraft sei Führung. Und wer seinen Beruf liebe, wolle ihn gut machen. Und wer ihn gut machen wolle, der möchte ihn stets auch noch ein wenig besser machen.
  • Ich meine dann, Führungskräfte besäßen den sportlichen Ehrgeiz, kontinuierlich an der Verbesserung ihrer Führungsbeziehungen zu arbeiten.
  • Ich bilde mir dann ein, Führungsentwicklung habe zum Ziel, die Führung zu verbessern, was wiederum dem Ziel diene, den Unternehmenserfolg zu steigern. Weshalb man natürlich nicht die Führungsentwicklungsbudgets gerade dann kürzen sollte, wenn der Unternehmenserfolg nicht im erwünschten Ausmaß eintritt.
  • Ich denke dann, dass man in die Verbesserung der Führung investieren müsse, wenn Projekte aus dem Ruder laufen oder Mitarbeiter zu wenig Leistung zeigen, was ja aber wohl nicht heißen kann, dass dann einfach der Tonfall verschärft wird. Wenn man mit mehr Druck allein nämlich mehr Erfolg erzielen könnte – warum tut man das dann nicht immer? Bessere Führung wäre dann lautere Führung.
  • Ich bin dann jeweils der Auffassung, dass es keine Patentrezepte der Führungsentwicklung gäbe, sondern nur die Anstrengung der Selbstreflexion – bis hart an die Schweißgrenze.
  • Ich meine dann sogar, dass sich Führungskräfte immer wieder Zeit nehmen müssten, um aktiv an ihren Führungsbeziehungen zu arbeiten.

Dabei hat mich gerade kürzlich ein Seminarteilnehmer in einer Veranstaltung, bei der ich lediglich zu einem Vortrag eingeladen war, wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt. Er erklärte mir: Es gibt solche, die führen können, und solche, die es nicht können. Mit Führungsentwicklung kann man vielleicht an den letzten fünf Prozent ein ganz klein wenig schrauben. In der Folge wird dann diese Führungskraft ein unerwünschtes Führungsverhalten vielleicht einmal unterdrücken, oder sie wird – obwohl sie es spontan nicht täte – vielleicht ausnahmsweise doch eine bestimmte erwünschte Verhaltensweise zeigen. Aber ändern könne man niemanden.

Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. – Da kann man nur hoffen, dass der liebe Gott von dieser Regel weiß.

Dass Verhaltensänderungen nicht einfach sind, ist unbestritten. Deshalb artet Führungsentwicklung ja auch in Arbeit aus. Aber wäre es denn nicht merkwürdig, wenn heute, wo in den Unternehmen alles andauernd verbessert werden muss, nur gerade die Führung für unabänderlich gehalten würde?

Für mich gibt es auch zwei Sorten von Führungskräften: Solche, die überzeugt sind, dass zwischen ihrer Menschenführung und dem wirtschaftlichen Erfolg ihres Unternehmens ein Zusammenhang besteht, und solche, die das im Innersten nicht wirklich glauben. Bei den Letzteren versteht man, wenn sie die Führung von mühsamen Verbesserungsmaßnahmen ausnehmen wollen.

Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich rede hier von Menschenführung, nicht von Management. Und ich rede von wirtschaftlichem Erfolg, nicht von Arbeitsklima oder Mitarbeiterzufriedenheit. Denn natürlich weiß jede/r heutzutage, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen guter Führung und der Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Vor der nächsten Mitarbeiterzufriedenheitsbefragung ist man also gerne bereit, etwas netter zu seinen Leuten zu sein. Aber diesen Teil der Geschichte halte ich für uninteressant – oder für zynisch. Und dass Management etwas mit Unternehmenserfolg zu tun hat, wissen wohl auch die meisten.

Was mich in unserer Beratungstätigkeit wirklich interessiert, ist der innere Zusammenhang zwischen Unternehmenserfolg und Menschenführung.

Führungserfolg heißt für mich, nachhaltig mehr Unternehmenserfolg zu haben, weil man Menschen besser führt (selbstverständlich gutes Management vorausgesetzt).

Besser führen heißt also nicht, bei den Mitarbeitenden beliebt zu sein oder sie besonders nett zu behandeln. Sondern besser führen heißt, als Führungskraft seinen bestmöglichen Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten. Was „besser Führen“ konkret und im Einzelnen heißt, soll hier jedoch nicht erörtert werden. Die eine beste Führung gibt es sowieso nicht. Und was ich persönlich in einzelnen Facetten von Führungsbeziehungen für besser (oder aber schlechter) halte, kommt in meinen Führungsbriefen ja immer wieder zum Ausdruck.

Nun kann es ja aber sein, dass ich mit meinen oben genannten merkwürdigen Überzeugungen tatsächlich ein wenig allein dastehe und der von mir zitierte Seminarteilnehmer für die Mehrheit der Führungskräfte redet. Das könnte dann die Erklärung dafür sein, was bei so vielen Führungskräften so unglaublich beliebt ist:

  • Seminare, wo man nicht primär an sich arbeiten muss, sondern von Konzepten und Rezepten hört, die in wohlklingende moderne Fachbegriffe packen, was man schon immer gewusst hatte.
  • Persönlichkeitsmodelle und -tests, die sauber etikettieren, warum der Müller ist wie er ist und warum er immer so bleiben wird.
  • Outdoor-Veranstaltungen, die einem gestatten, alles nachzuholen, was man mit 14 leider nicht konnte, weil man es verpasste, den Pfadfindern beizutreten.
  • Brillante Vorträge mit unbestrittenen Top-Shots, die ihre Führungserfahrungen in knackige Weisheiten kleiden („Do the right thing!“ – Golfkrieg-I-General Norman Schwarzkopf).

Nichts gegen einen guten Unterhaltungswert von Führungsentwicklung. Das hat Fußball manchmal auch. Aber wenn man dabei selber besser werden will, wird man trotzdem ins Schwitzen kommen.

Ich glaube, Ihnen ist das klar. Sonst hätten Sie sich nicht schon 33 Mal durch meine Führungsbriefe gearbeitet. Lassen Sie sich einfach nicht von denen rundherum verunsichern, die alles schon immer gewusst haben. Aber lassen Sie sich auch nicht müde machen, wenn bei mir wieder einmal der pädagogische Wahn durchblitzt. Nehmen Sie das als Kompliment: Wer sich auch mal in Frage stellen lässt, dem tun sich Fenster mit neuen Aussichten auf.

Denn auch für Ihren Führungserfolg gilt: Hieb- und stichfeste Antworten sind zwar beruhigend. Gute Fragen aber sind bereichernd.

Führungsbrief 32 – Zielkonflikte

Es wäre Ihnen nicht zu verargen, wenn Sie bei meinen Führungsbriefen manchmal dächten, irgendwie klänge das alles immer klarer, als Sie es in Ihrem Alltag erleben. Mein Trick besteht natürlich darin, dass ich das Augenmerk in der Regel auf genau eine Sache richten kann und dabei alle anderen ausblende. Leider erlaubt Ihnen das die Realität nicht. Vielmehr finden Sie sich nicht selten in einem Zielkonflikt, also einem Spannungsfeld zwischen (mindestens) zwei Dingen, die Sie beide gleichzeitig erreichen (oder aber verhindern) wollen/sollen – wobei aber das eine das andere (zumindest vordergründig) ausschließt. Das kann ein kniffliges Problem sein. Vielleicht erleben Sie es als ein echtes Dilemma, bei dem Sie sich hin- und hergerissen fühlen. Oder Sie denken, die an Sie gestellten Anforderungen seien völlig paradox, weil logisch gar nicht erfüllbar.

Auch unabhängig von den Ihnen gesetzten Zielen bringt Sie Ihre Rolle als Vorgesetzter grundsätzlich in sogar mehr als ein Dilemma: Sollen Sie nun Chef sein, oder sind Sie ein Mitglied Ihres Teams (und also ein Kollege Ihrer Mitarbeitenden)? Sollen Sie nun Führungskraft sein, oder sind Sie eine Fachkraft (also der, der sein Geschäft am besten kennt)? – Und: Vermutlich kommt noch komplizierend hinzu, dass Sie diesbezüglich von verschiedenen Seiten mit durchaus unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert werden.

Was tun in solchen Spannungsfeldern?

Irgendjemand (ich weiß leider nicht mehr, wer), hat einmal definiert: Ist etwas ein Problem, so muss man es lösen. Ist etwas ein Paradox, so muss man damit leben. Ist etwas ein Dilemma, so muss man sich entscheiden.

Wenn Sie sich in einem konkreten Zielkonflikt befinden, ist es für Sie ja nicht unbedingt klar, ob Sie nun vor einem Problem (das Sie lösen) oder vor einem Paradox (mit dem Sie leben) oder vor einem Dilemma stehen (bei dem Sie sich mit allen Folgen entscheiden müssen). Wir haben hier nämlich durchaus eine gewisse Freiheit der Betrachtung – abhängig davon, was wir alles in unseren Blickwinkel hineinnehmen.

Es gibt zumindest drei Varianten:

  1. (Ist die Sache ein Problem? Vielleicht gibt es einen Trick (das heißt, eine kreative Problemlösung), um dennoch beides zu bekommen. Den Fünfer und „s Weggli“, wie man in der Schweiz sagt.
    Sie möchten, dass Ihre Leute selber denken, aber Sie wollen auch, dass sie für die von Ihnen vorgegebenen Ziele denken. Also sorgen Sie dafür, dass die Ihnen wichtigen Ziele groß und weit genug sind, so dass man überhaupt auf unterschiedlichen Wegen zu ihnen gelangen kann. Aber sorgen Sie gleichzeitig dafür, dass man beurteilen kann, ob ein Weg (zumindest mittelfristig) zielführend ist oder nicht.
  2. Oder ist die Sache ein Paradox? Vielleicht lehnen Sie dann eine Entscheidung rundweg ab, lassen die Dinge, wie sie sind, und lenken Ihren Fokus auf anderes.
    Sie wollen Karriere machen. Aber sie wollen auch ein glückliches Familienleben. Profilieren Sie sich mit der Qualität Ihrer Leistung, aber überschreiten Sie nicht die Menge an Arbeitsstunden, die mit einem glücklichen Familienleben noch vereinbar sind. Machen Sie sich frei von dem Gedanken, Ihre Karriere hänge von Ihrem Input ab. Sie hängt von Ihrem Output ab. Natürlich kann besserer Input zu mehr oder besserem Output führen. Mehr Input allein führt aber keineswegs immer zu besserem Output.
  3. Oder ist die Sache wirklich ein Dilemma? Vielleicht treffen Sie dann eine Entscheidung – für A oder B. Und Sie leben mit den Folgen.
    Sie haben einem Kunden eine Lieferung terminlich und qualitätsmäßig verbindlich zugesagt. Wegen Krankheitsausfällen in Ihrem Team schaffen Sie es nun aber nicht zur vereinbarten Zeit – wenn Sie wirklich alle Qualität sichernden Maßnahmen erfüllen wollen. Sie können nun auf einige davon verzichten und zeitgerecht liefern – aber eine Reklamation in der Qualität riskieren. Oder Sie liefern nicht zur Zeit, was den Kunden sicherlich verärgern wird. In jedem Fall werden Sie die möglichen Folgen zu tragen haben.

Vor allem ein Dilemma präsentiert sich meist in dieser Entweder-oder-Gestalt. Aber wenn man in eine Entscheidungssituation gezwungen wird – A oder B –, so muss man sich fragen, ob es nicht auch die Möglichkeit gibt, sich für A und B zu entscheiden. Dann fühlt sich die Sache zwar ursprünglich wie ein Dilemma an, lässt sich aber als ein Problem verstehen, das sich letztlich lösen lässt.

Als Vorgesetzter sind Sie beispielsweise mit einer ganzen Reihe von Zielkonflikten konfrontiert, bei denen Ihnen in aller Regel gar nichts anderes übrig bleibt, als sich – zumindest übers Ganze gesehen – immer für A und B zu entscheiden. Denn das ist ganz einfach Teil Ihrer Führungsrolle:

  • Autonomie vs. Kontrolle: Sie wollen Ihren Mitarbeitenden Autonomie geben – und Sie müssen sie immer auch kontrollieren.
  • Integration vs. Differenzierung: Sie wollen Ihre Leute zu einem Team zusammenschweißen, bei dem auch Schwächere integriert sind – und Sie müssen in Ihrer Leistungsbeurteilung auch differenzieren und die Unterschiede zwischen besseren und schlechteren Leistungen beim Namen nennen.
  • Kooperation vs. Wettbewerb: Sie wollen mit anderen Bereichen und ihren Chefs zusammenarbeiten – und Sie wollen nicht der Verlierer sein, wenn Sie gerade zu denen in einem Wettbewerb bezüglich Ihres Erfolgsausweises und damit Ihrer Karrierechancen stehen.
  • Öffnung vs. Abgrenzung: Sie suchen den Informationsaustausch mit anderen Bereichen – und Sie müssen Ihren eigenen immer wieder gegen fremde Einmischung oder Übergriffe abgrenzen.
  • Innovation vs. Stabilität: Sie suchen Veränderungen, Verbesserungen, Innovationen – und Sie müssen in Ihrem Bereich auch für die nötige Stabilität sorgen und somit Bewährtes bewahren.
  • Wachsen vs. Fokussierung: Sie wollen möglicherweise wachsen, das heißt Ihr Zuständigkeitsgebiet ausdehnen, neue Aufgaben und mehr Verantwortung übernehmen und sicherlich Ihr Geschäft wachsen lassen – und Sie müssen sich auch auf Ihre Stärken besinnen und Ihre Energie dort fokussieren, wo Sie am meisten bewirken können und Ihre Kräfte nicht verzetteln.

Erkennen Sie solche Zielkonflikte als Teil Ihrer Aufgabe (statt als ein unlösbares Dilemma), dann können Sie sich daran machen, A und B zu erreichen – jedenfalls dort, wo es wirklich Sinn macht. Nehmen wir den eingangs genannten Zielkonflikt, der in jeder Führungsrolle steckt: Es bleibt Ihnen als Führungskraft letztlich gar nichts anderes übrig, als immer sowohl Führungskraft als auch Fachkraft als gleichzeitig auch Kollege zu sein. Akzente können Sie setzen. Aber gänzlich ignorieren können Sie keine Seite dieses dreifachen Dilemmas.

Einfach ist das nicht. Ein Balanceakt ist es allemal. Aber sehen Sie es von der stolzen Seite: Wenn Ihr Job keine derartigen Schwierigkeiten aufwiese, hätte man ja nicht gerade Sie dafür einsetzen müssen.

Führungsbrief 31 – Hilfe

Unter all den Ressourcen, die Führungskräfte zur Bewältigung ihrer Aufgabe­ beiziehen können, ist ja immer auch die Möglichkeit, sich von anderen Menschen helfen zu lassen. Von Mitarbeitenden, von Teammitgliedern, von der ­eigenen Chefin, von irgendwelchen Kollegen, von einem professionellen Coach oder Unternehmensberatern.

Über die Letzteren wird und wurde schon so viel gelästert, dass ich nichts Neues dazu beitragen kann. Reden wir deshalb nicht von den Helfern, sondern von den – zumindest potenziellen – Hilfeempfängern.

Aus drei Gründen haben Führungskräfte mehr als andere Menschen die Möglichkeit, sich helfen zu lassen: Wenn sie jemanden nur schon bitten, wirkt das manchmal wie ein (freundlicher) Befehl – ihr Hilferuf wird daher selten abgelehnt. In ihrer eigenen Linien-Zuständigkeit haben sie die akzeptierte Möglichkeit, Hilfe direkt einzufordern. Und schließlich: Im Rahmen ihrer Budgetkompetenz können sie sich jederzeit bezahlte professionelle Hilfe holen. Mit anderen Worten, an der Möglichkeit, sich helfen zu lassen, mangelt es Führungskräften meistens also nicht.

Dennoch mangelt es Führungskräften nicht selten an der Bereitschaft, sich helfen zu lassen. Dabei sind ja gerade sie in (fast) allem und jedem darauf angewiesen, dass ihnen andere zudienen, liefern oder aber eben helfen. Das meiste davon ist aufgrund der betrieblichen Arbeitsorganisation schlicht unvermeidlich und gehört eher in die Rubrik „Delegation“. Zwar haben auch damit einige Führungskräfte mehr Mühe als andere. Aber das ist hier nicht das Thema. Das Thema ist Hilfe. Aber schon beim Thema Delegation sehen wir, dass ja gerade Führungskräfte lernen müssen, mit sehr viel Unselbstständigkeit zu leben – wo immer sie andere für sich arbeiten lassen.

Warum dann die Mühe dabei, Hilfe zu akzeptieren? Vielleicht liegt es daran: Meistens sind es ja gerade die besonders selbstständigen Persönlichkeiten – wie Sie! –, die Führungskraft werden. Da möchte man doch die Dinge am liebsten selber tun. Denn wo vermeidbar ist, sich von anderen helfen zu lassen, da kocht der Meister am liebsten selber. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!

Im betrieblichen Kontext halte ich dies für keine besonders gute Maxime. Dies dagegen rate ich Ihnen: Sie sollten sich (auch ohne Not!) jede Menge Hilfe holen. Melken Sie alle verfügbaren Ressourcen! Mitarbeitende, Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte, Externe. Dabei können Sie Ihren Helfern sowohl vertrauensvoll eine lange Leine lassen wie auch gleichzeitig die Kontrolle über sie behalten: Denn die Helfer sollen helfen – nicht an Ihrer Stelle entscheiden. So können Sie sich mit manchen anderen Standpunkten auseinandersetzen und gleichzeitig letztlich Ihren Standpunkt festigen. Es wird sogar Ihre Leistung bleiben, was am Schluss dabei rauskommt – oder eher im Gegenteil: Es ist gerade dann Ihre Leistung, wenn Sie alles genutzt haben, was Ihnen helfen könnte/­konnte. Best use of resources nennt man das in der Fliegerei. Sie dürfen sich sogar mit fremden Federn schmücken (falls sie von Beratern, nicht aber, wenn sie von Mitarbeitenden stammen). Solche „dirty tricks“ erlaubt die mikropolitische Seite von Führung allemal.

Sich helfen lassen kann aber nur, wer dem Helfer vertraut. Sie werden auf der Notfallstation kaum zuerst überprüfen können, ob die Notfallchirurgin ihr Staatsexamen wirklich bestanden hat. Nicht mal, ob ihr Skalpell steril ist, werden Sie checken können. Ihr Vertrauen ist also die Voraussetzung, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können.

Der Gewinn, den solches Vertrauen verspricht, ist aber lohnend: Denn es kann geradezu ein Wundermittel gegen Überforderungen aller Art sein, wenn man sich helfen lässt. Vorausgesetzt, die Hilfe taugt etwas. Führungskräfte haben wie gesagt den Spielraum (und manchmal auch das Budget), sich gezielt ein Netzwerk von Helfern aufzubauen. Intern und extern.

Nur werden sie es bloß dann tun, wenn sie verstanden haben, dass ihre Leistung als Führungskraft nicht in dem besteht, was sie getan haben, sondern in dem, was sie bewirkt haben.

Sie sollten nicht vergessen: Führungskräfte müssen immer mehr bewegen, als sie selber stemmen könnten. Das geht fast immer nur mit Hilfe. Wir müssen jedoch zwei Dinge unterscheiden: a) Sich helfen lassen ist nicht dasselbe wie b) andere die eigene Arbeit tun lassen. Was ich hier propagiere, bezieht sich immer und ausschließlich auf a). Es geht nicht an, die ureigensten Dinge der Führung zum Beispiel an Berater „outzusourcen“. Berater können etwa den Prozess einer Strategieentwicklung moderieren und dafür umfangreiches Wissen einbringen – aber sie dürfen nicht die Strategie machen. Coachs können Mitarbeitern in schwierigen Situationen helfen – aber sie dürfen nicht die Führungsarbeit von deren Chefs übernehmen. Moderatoren können einen Workshop optimieren, in dem der Chef Teil des Themas oder aber thematisch so involviert ist, dass er nicht auch noch moderieren kann – aber Moderatoren sind nicht dafür da, anstelle von entscheidungsschwachen Chefs eine Entscheidung (um nicht zu sagen ein Plebiszit) herbeizuführen.

Und wenn wir schon bei den Beratern sind, noch ein Wort dazu, was die externe (bezahlte) Hilfe angeht. Natürlich fehlt es manchmal einfach am Budget. Natürlich sind Berater mitunter teuer. Natürlich sind nicht alle Berater ihr Geld wert. Nur: Von all dem rede ich hier nicht.

Aber ich wünsche Ihnen, dass …

  • Sie nicht (am leichtesten mit Kostenargumenten) die Hilfe durch Berater ablehnen, bloß weil Sie es in Ihrem Innersten für ein Schwächezeichen halten, sich helfen zu lassen.
  • Sie sich nicht scheuen, Helfer lediglich helfen zu lassen. Berater haben Ihnen nicht ins Steuer zu greifen. Sie sitzen im Driving seat.
  • Sie sich nicht heimlich irgendwie schämen, wenn ein Helfer Ihr Problem sähe. Denn wenn Sie Ihrem Berater die ganze Zeit nur „beweisen“, wie toll Sie alles im Griff haben, kann Ihnen nur schwer geholfen werden.
  • Sie persönlich nicht zu stolz sind, sich helfen zu lassen. Anerkennen Sie, dass ein anderer etwas bringt oder kann, das Sie vielleicht nicht selber brächten oder könnten! Solcher Großmut wird Sie auch in anderen Aspekten eine gute Führungskraft sein lassen.

Zurück zu jeder Art von Hilfe, sei sie von intern oder extern: Was glauben Sie, wer am häufigsten im Duden nachschlägt? Es sind die Leute, die am besten schreiben können! Und wer liest am meisten? Es sind die, die bereits sehr viel wissen.

Nur die Klugen lassen sich helfen. Denn die Kompetentesten verfügen über eine Kompetenz, die auf den schönen Namen Inkompetenzkompetenz hört. Sie wissen, was sie nicht so gut können, was andere besser können – und die ziehen sie als ihre persönliche Hilfe bei.

Führungsbrief 30 – Kontrollverlust

Aus der Stressforschung wissen wir, dass Kontrollverlust eine der wichtigsten Ursachen von Stress ist, und der macht bekanntlich krank. Was Kontrollverlust meint, kann sich jeder vorstellen, der vor etlichen Jahren im Fernsehen die Szene in „Verstehen Sie Spaß?“ gesehen hat, wo ein Modellflugzeugpilot seine Fernsteuerung mal kurz einem zufällig vorbeikommenden Spaziergänger übergibt – und verschwindet. Der unfreiwillige „Pilot“ versucht verzweifelt, das Modellflugzeug zu steuern, das aber macht höchst eigenwillige Sachen. Es wird gar nicht von seiner Fernsteuerung, sondern von einer versteckten aus gesteuert. Und das verzweifelte Opfer der versteckten Kamera schreit eins ums andere Mal „Söll emal cho!!!“ (Der soll endlich wiederkommen!). Das ist Kontrollverlust pur.

Mich dünkt, Führungskräfte sind oftmals Menschen, die keine Überraschungen lieben. Die Dinge sollen sich so entwickeln, wie sie es geplant und gewollt haben. Überraschungen jedoch – falls es sich nicht gerade um Lottogewinne handelt – führen leicht zu Kontrollverlust. Dummerweise aber sind Mitarbeiter Menschen, von denen ihre Vorgesetzten in der Regel erwarten, dass sie jede Überraschung gelassen zur Kenntnis nehmen. Sie sollen sich ohne Angst und Widerstand ins Unvermeidliche schicken, wenn sich irgendetwas überraschenderweise von heute auf morgen ändert. Sie sollen mitspielen, mitmachen, womöglich gar begeistert sein. Auch wenn es sich nicht gerade um Lottogewinne handelt. Mitarbeitende sollten – so käme es ihren Vorgesetzten gelegen – das Wort „Kontrollverlust“ überhaupt gar nicht kennen, geschweige denn unter dem Phänomen leiden.

Das Fatale für unsere Überlegungen hier ist freilich, dass alle Adressaten dieses Führungsbriefs immer sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende sind (wenn sicher auch auf unterschiedlichem hierarchischem Niveau).

In Ihrer Rolle als Führungskraft planen und initiieren Sie also Veränderungen und gehen davon aus, dass sich Ihre Mitarbeitenden freudig darauf einlassen. Wenn nicht, halten Sie sie für ängstlich oder ewiggestrig oder gar renitent. Zumindest aber für unnötig aufgeregt.

In Ihrer Rolle als Mitarbeiter/in aber finden Sie es unerhört, wenn Ihre Chefs mal wieder so eine blöde Idee haben und meinen, Sie hätten gerade darauf gewartet und nichts Gescheiteres zu tun, als da fröhlich und überzeugt mitzutun. Dabei machen Sie sich bei jeder so angekündigten Veränderung durchaus berechtigte Sorgen.

Sie fragen sich unwillkürlich (und sei es nur nächtens im Schlaf):

  • Was heißt das für mich?
  • Ist mein Rang bedroht?
  • Verliere ich Einfluss, Zuständigkeiten, Unterstellte, Kompetenzen?
  • Wirkt sich die Sache negativ auf meinen Lohn oder Bonus aus?
  • Verliere ich Privilegien (vom Parkplatz bis zum Titel)?
  • Was sagt man danach über mich – sieht man in mir einen Verlierer oder eine Siegerin?
  • Schaffe ich den Change überhaupt?
  • Was ist überhaupt der Sinn der ganzen Sache?
  • Ist es denn nicht gut, so wie wir es bisher gemacht haben?
  • Usw., usf.

Ich versichere Ihnen, Ihre Mitarbeitenden stellen sich ganz ähnliche Fragen, wenn sie von einem Change betroffen sind, den Sie (oder Ihre Vorgesetzten) initiiert haben.

Die Schlussfolgerung kann leider kaum lauten, Überraschungen seien somit auf jeder Ebene zu vermeiden. Denn es wird sie weiterhin geben. Und Kontrollverlust damit auch. Auch bei Führungskräften. Sie werden also lernen müssen, Kontrollverlust besser auszuhalten.

Wie lernt man, Kontrollverlust (besser) auszuhalten?

  • Erstens geht es darum, sich selber vom Anspruch zu befreien, jederzeit alles unter Kontrolle haben zu müssen. Sie können nur dann jederzeit alles unter Kontrolle haben, wenn Sie allwissend und allmächtig sind. Man nennt Sie dann „Der liebe Gott“, und für dieses Amt sind Sie derzeit vermutlich unterbezahlt.
  • Zweitens geht es darum, sich zu vergegenwärtigen, dass es zwar zu Ihren Aufgaben gehört, Menschen, Prozesse, Ergebnisse zu kontrollieren. Sie vergleichen dazu jeweils Soll- und Ist-Werte. Es gehört aber nicht zu Ihren Aufgaben, niemals eine Differenz zwischen Soll und Ist aufkommen zu lassen. Im Gegenteil: Führungskräfte braucht es überhaupt nur deswegen, weil die Dinge eben manchmal vom Weg abkommen und dann darauf zurückgeführt werden müssen.
  • Drittens geht es darum, sich ein wenig Gelassenheit zuzulegen. Gewiss, es kann manches schief gehen. Sicher, es wird jede Menge schief gehen. Aber garantiert, die Welt wird dabei nicht untergehen. Praktizieren Sie „Management by Schindler-Lift“! Dort finden Sie ja immer den – im Sinne einer psychologischen Selbstinstruktion durchaus sinnvollen – Befehl: Ruhe bewahren!
  • Viertens geht es darum, sich in die Position Ihrer Mitspieler zu versetzen. Das gibt Ihnen die Möglichkeit zu erkennen, wohin die Dinge sich entwickeln werden. Gehen Sie dabei aber nicht einfach von der Annahme aus, Ihre Mitspieler wollten primär Ihnen schaden. Glauben Sie mir, mit so einer Befürchtung nähmen Sie sich selber viel zu wichtig. Andere wollen – so wie Sie auch – einen guten Job machen. Also lässt sich der Sinn einer Sache am besten begreifen, wenn man ihn (auch) aus den Augen der anderen anschaut.
  • Fünftens schließlich geht es darum, gezielt danach zu schauen, wo sich in einer Veränderung eine Chance abzeichnet. Es reicht nicht, einfach an den Spruch zu glauben, wonach eben in jeder Veränderung auch eine Chance stecke. Man muss schon danach suchen. Und diese Suche ist Ihre eigene, Ihre ganz persönliche Sache. Wenn Sie sich damit beschäftigen (statt mit den oben formulierten ängstlichen Fragen), dann werden Sie sich nicht als Opfer fühlen, sondern als Akteur/in. Das ist das beste Mittel gegen das Gefühl von Kontrollverlust überhaupt.

All dies hilft nur, besser mit Kontrollverlust umzugehen. Es garantiert keineswegs, überhaupt kein Gefühl von Kontrollverlust mehr zu haben. Nur: Sollte Sie so ein Gefühl überhaupt nie beschleichen, dann überschätzen Sie sich entweder maßlos, oder Sie leben in fürchterlich langweiligen Verhältnissen.

Beides wünsche ich Ihnen nicht.

Führungsbrief 29 – Zahlen

Für jeden Kleingewerbler gilt (auch wenn dies nicht allen bewusst ist!): Wenn er keine Liquidität mehr hat, ist es aus. Ende. Egal, wie schön sein Laden und wie nett er mit seinen Kunden ist, wie gut seine Produkte sind und wie prächtig seine Aussichten. Für Führungskräfte wie Sie entspricht dieser existenziellen Rolle der Liquidität die Kenntnis der eigenen wirtschaftlichen Kennziffern.

Drei Dinge sind unabdingbar:

  1. Sie müssen wissen, was für Ihren Zuständigkeitsbereich die wirklich wichtigen Kennziffern sind (und zwar nur für Ihren Bereich – alles Weitere ist fakultativ).
  2. Sie müssen wirklich verstanden haben, was diese Kennziffern bedeuten. Es reicht nicht zu wissen, ob „mehr“ oder „weniger“ gut respektive besser ist oder wo ungefähr der rote Bereich beginnt.
  3. Sie müssen eine Ahnung davon haben, wie diese Kennziffern oder Stellgrößen zusammenhängen: Was beeinflusst was? Wie kann man worauf aktiv Einfluss nehmen? Welche Gefahr droht, wenn eine Kennziffer vom grünen in den gelben oder sogar den roten Bereich rutscht? Woran kann man das frühzeitig – möglichst noch bevor es passiert – erkennen?

Was immer Sie in der Führung gut machen, es hilft Ihnen nichts, wenn die wirtschaftliche Leistung nicht stimmt. Auch wenn Sie all die klugen (pardon!) Ratschläge der letzten 28 Führungsbriefe bestens berücksichtigen – es nützt nichts, wenn Sie die oben genannten drei Voraussetzungen nicht erfüllen. Natürlich: Die Sache kann dennoch gut gehen. Lange sogar. Aber wenn dann etwas passiert (und Ihnen also die bildlich gemeinte „Liquidität“ ausgeht), dann sind Sie am Ende.

Ich kenne Ihren Zuständigkeitsbereich zu wenig gut, um Ihnen hier den Beweis für diese drastische Warnung zu liefern. Aber Sie tun gut daran, es nicht darauf ankommen zu lassen zu erfahren, ob ich wirklich recht habe. Andererseits kann es Ihnen sicher nichts schaden, wenn Sie mir glauben – auch wenn es etwas Mühe kostet, die gewünschte Zahlenkenntnis zu erlangen.

Warum komme ich überhaupt zu so einer Behauptung?

Bei vielen, durchaus gut ausgebildeten und erfahrenen Führungskräften erlebe ich immer wieder, dass sie sich um den oben genannten Punkt 1 nicht kümmern. Sie liefern zwar, was immer ihr Chef an Zahlen von ihnen verlangt. Aber sie haben nicht eigene Zahlen, die ihren eigenen Bereich maßgeblich betreffen, die für sie wichtig sind und die sie ständig aktualisiert bei sich führen. Vielleicht decken sich diese Kennziffern mit denen, die der Chef verlangt. Vielleicht aber eben auch nicht. Machen Sie die Probe: Fragen Sie herum, für welche Führungskraft in Ihrer Umgebung welche Kennziffern wichtig sind, warum, und ob diese Führungskraft genau wüsste, wo die Zahl derzeit steht. Fragen Sie sich selber! Es gibt Ausnahmen, die auf so eine Frage ein (1!) Blatt aus der Tasche ziehen und ein wunderschönes mehrfarbiges Cockpit für ihre Steuerungsverantwortung vorzeigen können. Chapeau, wenn Sie auch dazu zählen.

Was Punkt 2 betrifft, bin ich noch pessimistischer. In schöner Regelmäßigkeit sitze ich mit Manager-Crews zusammen, bei denen – bevor wir zu dem Thema kommen, weswegen ich dort bin – noch vom Chef die Vormonatszahlen vorgestellt und kommentiert werden. Nicht selten verstehe ich dann nur Bahnhof. Ich darf das, es ist nicht mein Geschäft. Aber später, in einer Pause, stelle ich ein paar Verständnisfragen bei einzelnen Führungskräften (aber weder beim CEO noch beim Finanzchef!). Als Psychologe darf man sich da ja ganz schön dumm anstellen. Und dann realisiere ich in einem erschreckenden Ausmaß, dass zwar viele Begriffe wie EBIT, DB I-III, Marge usw. verwenden, aber nicht so genau verstehen, dass sie sie auch erklären könnten. Reicht das wirklich?

Bei Punkt 3 kann es entsprechend auch nicht gerade rosig aussehen. Psychologisch erschwerend kommt dazu, dass man nicht nach sagen wir fünf Jahren in der Funktion als Abteilungsleiter plötzlich die Frage stellen kann, ob sich ein bestimmter Aufwand eigentlich im DB II oder erst im DB III niederschlägt. Zumindest traut sich kaum einer. Aber so werden die Dinge niemals besser.

Die Folge von alledem ist, dass Führungskräfte der unteren Stufen nicht als Frühwarnmessgeräte wirken können, sondern eher dazu neigen, die Dinge zu beschönigen, zu bemänteln und zu belassen. Das Top-Management erfährt so nichts von feinen Mauerrissen, sondern sieht erst den richtigen Dammbruch – mit dem nötigen Entsetzen, versteht sich. Ein gutes Controlling kann hier zwar vielleicht das Schlimmste verhindern. Aber es ersetzt nicht den Vorteil, den man hätte, wenn auch auf den untersten Führungsstufen jede/r wüsste, worauf es bei ihr/ihm ankommt und warum – und wie es im Moment steht.

Große, schmerzhafte Restrukturierungen könnten verhindert werden, wenn alle Führungskräfte ihr Zahlenhandwerk beherrschen würden. Vorausgesetzt natürlich, dass sie (und das oberste Management) auch bereit und fähig sind, rasch wirksame Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, wenn sich die Notwendigkeit dafür abzeichnet.

Einschränkend ist zu sagen, dass es keineswegs trivial ist, auf jeder Ebene die richtigen Kennzahlen zu benennen. Und es sind auch längst nicht immer „die üblichen Verdächtigen“. Wenn man es aber nicht schafft, muss man sich auch nicht wundern, wenn man sich irgendwann im Nebel verliert.

Deshalb rufe ich Sie auf: Ergründen Sie gemeinsam mit Ihrem Chef und eventuell Ihrem Controller, was für Ihren Bereich die sagen wir fünf wichtigsten Kennzahlen sind. Sorgen Sie für aktualisierte Werte in nützlichen Abständen. Besprechen Sie die Sache so lange, bis Sie fähig sind, Ihren Leuten genauestens zu erklären, was warum wichtig ist und wie beeinflusst werden kann.

Es ist letztlich in Ihrem Interesse. Denn nur so können Sie rechtzeitig handeln und verhindern, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. Ich verspreche es Ihnen: Zahlen zahlen sich aus.

Führungsbrief 28 – Ärger

Selbst wenn ich Sie nicht persönlich kenne – ich bin sicher, Sie bemühen sich darum, eine gute Führungskraft zu sein. Sonst verfolgte mich ja kaum der Ehrgeiz, Sie mit meinen Führungsbriefen dabei ein ganz klein wenig zu unterstützen. Dennoch: Es ist auch ziemlich sicher, dass sich Ihre Mitarbeitenden von Zeit zu Zeit so richtig über Sie ärgern und beispielsweise beim Abendessen zu Hause lautstark über Sie schimpfen.

Jawohl, über Sie. Tut mir leid.

Für einen Teil der Ursachen dieses Ärgers Ihrer Mitarbeitenden gilt: Sie sollten ernsthaft daran arbeiten und sich stetig weiterverbessern als Chef. Von dem Teil reden wir heute (für einmal) nicht. Für einen anderen Teil gilt aber: Das muss so sein, dass sich Mitarbeitende über Sie ärgern – auch dafür sind Sie bezahlt. Finden Sie sich damit ab! Von diesem Teil sei heute die Rede.

Chefs sind eine ideale Projektionsfläche für den eigenen Ärger.

Wir Menschen wollen wissen, wer schuld daran ist, dass wir selber Ärger haben. Wenn klar ist, wer wirklich schuld ist, können wir unser Feindbild bestens adressieren. Dann kann unser Ärger gezielt den Schuldigen treffen. Wenn es aber nicht so klar ist, wer der Bösewicht ist, und wenn vor allem das unangenehme Risiko besteht, dass wir in Tat und Wahrheit gar noch eine eigene Mitschuld am Grund des Ärgers haben (was wir freilich, wenn möglich, lieber nicht einsehen möchten), dann ist der Chef die Projektionsfläche unserer Wahl. Er ist schuld!

Psychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass wir alle dazu neigen, die Ursache für Erfolg uns selber, die Ursache für Misserfolg aber anderen Menschen oder widrigen Umständen zuzuschreiben. Ist eine Sache gelungen, so war das meine Leistung. Ist sie aber misslungen, dann haben mich andere nicht unterstützt oder Fehler gemacht oder die ganze Sache war letztlich unmöglich zu bewältigen oder ... oder ... Deshalb ist die hier besprochene Sache mit dem Sich-über-den-Chef-ärgern nicht verwunderlich, auch wenn sie manchmal objektiv ungerecht ist. Wir Menschen sind nun mal so.

  • Vielleicht sind Sie ja gegen solche Dinge sehr unempfindlich und nehmen es ganz gelassen, wenn sich Ihre Leute über Sie ärgern – obwohl Sie natürlich keinerlei Schuld trifft. Dann ist ja gut. Es sei denn, Ihre Unempfindlichkeit muss eher als Gleichgültigkeit gegenüber Ihren Mitarbeitenden gelesen werden. Das aber wäre dann doch schon ein „Tolggen im Reinheft“ für Sie als Chefin oder Chef.
  • Vielleicht aber sind Sie gegen solche Dinge gar besonders empfindlich. Das könnte ich zwar gut verstehen, aber es könnte auch wieder ein schlechtes Licht auf Sie werfen. Vor allem dann, wenn Sie Ihre Führungsaufgabe mit einem Beliebtheitswettbewerb verwechseln. Das ist sie nämlich nicht! Chefs können nicht immer nur geliebt sein – sonst führen sie nicht.

Was können Sie also tun, wenn es Sie zu Recht wurmt, dass sich Ihre Mitarbeitenden – aus Ihrer Sicht vermutlich zu Unrecht – über Sie ärgern und über Sie schimpfen?

Zunächst können Sie sich darüber freuen, dass man Sie als Chef ernst nimmt. Offenbar hält man Sie nicht nur für einen netten Kumpel, dem irgendwer bloß der guten Ordnung halber ein symbolisches „Leiter von ...“ ans Revers geheftet hat.

Dann können Sie sich auch noch darüber freuen, dass Sie von diesem Ärger überhaupt etwas mitbekommen. Das zeugt von einem gewissen Vertrauen Ihrer Mitarbeitenden. Wäre dies nicht da, würden Ihnen Ihre Leute vordergründig Zustimmung heucheln und nur hinter vorgehaltener Hand über Sie fluchen.

Sie können sich auch darüber freuen, dass Sie eines der stimmigsten Feedbacks überhaupt erhalten haben. Wenn immer Sie erkannt haben, dass sich jemand aus Ihrem Team über Sie ärgert, dann können Sie davon ausgehen, dass dies ein ernstzunehmendes Feedback an Sie ist. Leider kann man dies bei Feedbacks, die nach allen Regeln der Kunst in „konstruktive“ Worte gekleidet sind, längst nicht immer tun.

Weiter können Sie sich darüber freuen, dass Ihnen die Ärgerreaktion Ihrer Mitarbeiterin oder Ihres Mitarbeiters Gelegenheit zu einer so genannten Meta-Kommunikation gibt. Nehmen Sie das Vorkommnis als Anlass, mit ihr oder ihm über Ihre Führungsbeziehung zu reden. In aller Ruhe – nachdem der erste Ärgerdampf schon abgelassen ist.

Und schließlich können Sie sich darüber freuen, dass – falls Sie objektiv doch etwas falsch gemacht haben – Sie nun wieder einen Punkt sehen, an dem Sie sich als Chef weiter verbessern können.

Kurzum: Auch wenn sich Ihre Leute über Sie ärgern – Sie haben deswegen gar keinen Grund, sich auch zu ärgern. Es sei denn natürlich, über Ihren Chef. Denn das ist bestimmt so einer, der sich sogar noch darüber freut, wenn Sie sich über ihn ärgern …

Wenn sich hingegen Ihrer Meinung nach Ihre Mitarbeitenden nie über Sie ärgern, dann sind sie von einem anderen Stern. Oder aber Sie. Oder Sie wissen letztlich nichts von Ihren Leuten. Das wiederum wäre ein gravierendes Problem.

Und noch etwas: Wenn Sie das nächste Mal zu Hause beim Abendessen über Ihre/n Vorgesetzte/n schimpfen, dann lauschen Sie geistig ein wenig, um das leise Murmeln Ihrer Mitarbeitenden zu vernehmen, die im selben Moment gerade dabei sind, über Sie zu schimpfen. Und wundern Sie sich nicht, wenn deren Kritik auch nicht weniger gerecht und differenziert ist als das, was Sie Ihrer Frau/Ihrem Mann nun gerade über Ihre Chefin/Ihren Chef erzählt haben.

Führungsbrief 27 – Wir-Gefühl

Teamgeist, Zusammengehörigkeit, verschworene Bande – das Kollektive wird wieder beschworen. Vielleicht ist es eine Gegenreaktion auf den Zeitgeist des Individualismus, des Ego-Trips, der „Ich-AG“, der Ellenbogengesellschaft. Wo immer heute Menschen beruflich zusammenarbeiten müssen, wird das Hohelied des Wir-Gefühls gesungen.

Nur: Jedes Wir-Gefühl braucht ein Ihr-Gefühl. Wer als Führungskraft – egal auf welcher Ebene – möchte, dass „seine/ihre“ Leute ein starkes Wir-Gefühl entwickeln, der muss sich fragen, durch welches Ihr dieses Wir denn abgegrenzt und letztlich definiert wird.

Ihr – das sind die anderen. Bloß: Welche anderen?

In den Unternehmen lässt sich häufig beobachten, dass sich die oberste Führung wünscht, dass alle Mitarbeitenden durch ein „Wir von der Firma X“-Gefühl beseelt werden. Das Ihr bestünde dann aus der Konkurrenz, die es zu schlagen gilt. Fakt ist aber leider, dass das psychologisch wirksame Wir im Alltag für die meisten von uns „Wir von der Abteilung (oder gar dem Team) Y“ heißt. Das zu schlagende Ihr ist dann aber die Abteilung (oder das Team) Z. Das ist nicht gerade die Grundlage für ein „One company“-Denken, wie es heute Management-Gurus fordern!

Bevor wir dies jedoch hier beklagen, sollten wir uns klar machen, dass ein Wir-Gefühl eben nur um den Preis – und mit allen möglichen Nachteilen – ­eines Ihr-Gefühls zu haben ist. Also sollten wir uns zunächst fragen, ob denn so ein starkes Wir-Gefühl überhaupt nötig und wünschbar ist – und warum.

Wie so oft – es kommt halt drauf an:

  • Wenn wir das Wir-Gefühl auf eine Fußballmannschaft und ihre Fans beziehen, so lässt sich diese Frage klar mit Ja beantworten. Die Begründung lautet, dass das Ihr – nämlich alle anderen Mannschaften in der Liga – ja ausdrücklich das Ihr ist, das es zu schlagen gilt.
  • Wenn wir das Wir-Gefühl auf eine Finanz-Holding mit unterschiedlichsten Tochterfirmen beziehen, so würden wir eher mit Nein antworten. Wozu soll man hier ein Wir-Gefühl haben, wenn das Ihr aus irgendwelchen fremden Firmen besteht, die zwar selbstredend nicht zur eigenen Holding gehören – von denen aber die meisten auch auf ganz anderen Märkten tätig sind als man selber es ist? So etwas gibt kein das Wir stärkendes Ihr ab.
  • Wenn wir das Wir-Gefühl auf eine „normale“, größenmäßig einigermaßen überschaubare Firma beziehen, so kann man mit Fug und Recht ein Ja oder aber ein Nein zur Antwort geben. Ja, wenn wir die Leute zum Wettstreit gegen genau bekannte Konkurrenten anstacheln wollen. Nein, wenn wir darauf setzen, dass die Firma dann am besten reüssiert, wenn jede Abteilung in sportlichem Wettstreit mit jeder anderen steht. Letzteres geht aber nur, wenn diese Abteilungen recht autonom sind und nicht auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen sind – z.B., weil sie separate Märkte bedienen oder unterschiedlichen Geschäftsmodellen folgen.

All dies könnte man sich in jeder Unternehmensleitung überlegen und dann als Beschluss verkünden: Bei uns soll das Wir-Gefühl da und da leben – und dort und dort nicht.

Wenn da nur nicht das Ego vieler Führungskräfte wäre! Dieses Ego sagt nämlich: Wir ist dort, wo ich dafür zuständig bin! Daran ist ja auch nichts auszusetzen, solange damit einfach eine Führungszuständigkeit abgesteckt wird.

Wenn aber für den so definierten Wir-Kreis ein besonders starkes Wir-Gefühl eingefordert wird, obwohl es vom abgesteckten Zuständigkeitskreis her gar nicht genügend Gemeinsamkeit gibt (außer dem gemeinsamen Chef), dann ist genau dies der Anfang davon, dass das Wir-Gefühl nicht hilft, sondern interne Gräben vertieft und Reibungen zwischen den Bereichen fördert.

Warum wünschen sich überhaupt so viele Chef-Egos dieses Wir-Gefühl sogar dann, wenn es gar nicht für ihren Zuständigkeitsbereich sinnvoll ist (sondern eher weiter unten oder weiter oben oder gar nirgends)? Vielleicht drücken hier frühjugendliche, häufig allererste Führungserfahrungen durch, die manche Führungskräfte ein Leben lang prägen: Ich bin schon der unbestrittene Chef der Jugendbande gewesen – und diese Bande, das war Wir. Oder ich war Pfadi-Führer – und mein Fähnli, das war Wir. – Und es war eben mehr als eine Zuständigkeit: Es war ein ungeheuer starkes Gefühl!

Das mag problemlos für Meier, Huber, Müller gelten, wenn diese hierarchisch gleichgestellt nebeneinander wirken können. Was aber, wenn es nun auch noch für Hugentobler, ihren gemeinsamen Chef, gilt? Dann wissen die armen Mitarbeitenden zuunterst überhaupt nicht mehr, zu welchem Wir sie sich gefühlsmäßig zählen und gegen welches Ihr sie nun mit Herzblut antreten sollen.

Ich behaupte, dass die Bedeutung eines enthusiastischen Wir-Gefühls in heutigen Unternehmen überschätzt wird. Unterschätzt dagegen wird, wie viel Energie von jedem Wir-Gefühl ins Negative verkehrt in ein Ihr-Gefühl gepumpt werden muss. Wenn sich dies gegen die Nachbarabteilung richtet, ist das schlimm genug. Und wenn es sich gegen die Konkurrenz richtet, fördert dies höchstens das arrogante Gefühl „Wir sind eben besser als die“. Und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Zudem führt es kaum zu auch nur einem Franken mehr Umsatz oder Gewinn.

Den Unternehmen wie auch den Firmenangehörigen wird mit dem Beschwören eines Wir-Gefühls ein emotionaler Anspruch aufgesetzt, den sie fast nur enttäuschen können. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wieder etwas nüchterner zu werden und Unternehmen/Firmen/Abteilungen/Teams als Zweck­gemeinschaften zu verstehen, die sich – wie der Name sagt – zu einem Zweck zusammengefunden haben. Nur über diesen Zweck (oder die zu erreichenden Ziele) müssen sich alle Beteiligten wirklich klar sein.
Dann braucht man weniger Emotionen à la Wir-Gefühl und kann gerade dadurch vielleicht viel entspannter und produktiver (zusammen) arbeiten.

Ehen brauchen Emotionen. Freundschaften auch. Fußballmannschaften und Fanclubs sowieso. – Arbeitsgemeinschaften dagegen sollen kooperieren und leisten. Nicht in Gefühlen schwelgen.

Für den jeweiligen Chef (und sein Ego) macht das die Sache zwar etwas trockener. Aber es kann ihm (oder ihr) auch helfen, sich auf das Wesentliche der eigenen Führungsaufgabe zu konzentrieren. Ohne emotionale Überfrachtung. Dafür aber mit der Chance, abends etwas früher nach Hause zu kommen.

Das täte den persönlichen Emotionen und dem Wir-Gefühl zu Hause manchmal gar nicht schlecht.

Führungsbrief 26 – Druck dynamisieren

Sie wollen Erfolg. Sie haben sich hohe Ziele gesetzt. Sie tun viel, um die Effi­zienz und die Effektivität Ihrer Arbeit zu maximieren. All dies wollen Ihre (obersten) Chefs auch. Die wollen Spitzenleistung im ganzen Unternehmen. Dazu entwickeln sie Strategien, schmieden Pläne, stellen Mittel bereit, begeistern ihre Mitarbeitenden – und sie machen Druck.

Druck machen ist ein grundsätzlich legitimes Mittel von Führung. Lassen wir mal den Fall beiseite, wo jemand unmenschlich viel Druck ausübt. Stellen wir uns also nicht die Frage, wie viel Druck legitim sei, sondern wie viel Druck optimal sei – so dass letztlich ein maximales Ergebnis resultiert.

Leider verstehe ich nichts von Formel-I-Rennen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass uns „Schumi“ sagen würde, dass permanentes Vollgasgeben nicht das Geheimrezept seiner vielen Erfolge und Siege war. Ich glaube deshalb, auch Führungskräfte müssen lernen, den Druck zu dynamisieren. Manchmal Vollgas geben, im richtigen Moment aber auch Gas rausnehmen können. Denn:

  • Wer weiß, dass der Chef nicht bloß einfach immer mehr fordert, ist eher bereit, sein ­Maximum zu geben – dann nämlich, wenn es wirklich zum Gesamterfolg beiträgt.
  • Wer auch mal Pause machen oder etwas nachlassen kann, geht nachher mit mehr Schwung und Energie an die Arbeit. (Selbst von einfachsten Arbeiten wissen wir, dass die Gesamtleistung größer wird, wenn die Leute 55 Minuten arbeiten und 5 Minuten Pause machen. Es kommt über die Schicht gesehen mehr raus, als wenn sie 60 Minuten pro Stunde arbeiten würden.)
  • Wer die Erfahrung macht, dass er für seine Offenheit nicht büßen muss, ist eher zu Transparenz bereit. Damit können Probleme besser vorausgesehen, Fehler vermieden und Optimierungen ermöglicht werden.
  • Wer spürt, dass der Chef Druck zu dynamisieren versteht, erlebt ihn als sportlich-ehr­geizig, aber gleichzeitig als menschlich-weise. Und nicht als jemanden, der bloß gierig und misstrauisch ist – und den man zum eigenen Schutz am besten mit allen Mitteln austrickst.

Für viele (obere und oberste) Führungskräfte ist es aber offenbar unglaublich schwer, dies wirklich zu glauben (und konsequent danach zu handeln). Sie denken vielmehr, sie müssten stets das Maximum an Gas geben, das möglich ist, ohne dass der Motor zu kochen beginnt. Mit anderen Worten, sie wissen zwar, dass sie beim Druckmachen auch übertreiben könnten und dann Gefahr liefen, dass Leute krank werden oder gehen oder zu viele Fehler machen. Unterhalb dieser „roten Linie“ aber glauben sie fest daran, dass mehr besser ist: Sie glauben, mehr Druck erzeuge mehr Leistung. Sie stehen an ihrem Kommandopult und schieben sämtliche Hebel auf „full power“ und sagen heroisch wie weiland Luther vor dem Reichstag: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir!“

Die Begründung lautet meist so: Wenn der (oberste) Chef mit dem Druck nachlässt, dann lassen die Leute sofort mit der Leistung nach. Das darf nicht sein. Also muss der Druck ständig aufrecht erhalten werden. Diese Überzeugung basiert auf dem irrigen Glauben, wonach, wenn etwas gut ist, mehr vom Selben besser ist. Ich glaube nicht, dass dies in der Führung gilt.

Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass gleichbleibender hoher Druck zu insgesamt suboptimaler Leistung führt. Ein paar Beispiele können illustrieren, warum:

Wenn die Leute wissen, dass ihr Chef immer das Maximum fordert, werden sie damit beginnen, „taktische Unterzieher“ zu machen. Sie bezeichnen etwas als das maximal Mögliche, das kleiner ist, als was sie wirklich leisten könnten. Sie wissen, dass der Chef ja dann ohnehin noch etwas drauflegt. In der Regel sind sie dem Chef damit immer eine Runde voraus. Die Gesamtleistung ist somit suboptimal.

Es braucht Energie, sich stetig gegen zu großen Druck zu wehren. Diese Energie fehlt für die eigentliche Arbeit. Die Gesamtleistung ist somit suboptimal.

Um sich gegen zu großen Druck zu schützen, muss man manches verschleiern. Die Vorgesetzten haben somit keine vollständige Transparenz darüber, wie es um die Dinge steht. Damit können ihre Entscheide nicht auf die beste Basis gestellt werden. Die Gesamtleistung ist somit suboptimal.

Wer weiß, dass seine Nächstjahresziele unbedingt höher sein müssen als das Diesjahresresultat, hat keinerlei Interesse daran, dieses Jahr ein maximales Ergebnis zu erzielen. Die Gesamtleistung ist somit suboptimal.

Je häufiger die Chefs die Erfahrung machen, dass in Tat und Wahrheit noch mehr „Luft drin“ war, als sie angenommen haben, desto mehr setzen sie auf „noch mehr Druck machen“. Damit kommen all die vorgenannten Effekte verstärkt zum Tragen. Überdies braucht es bei den Chefs Zeit und Energie, die für strategisches Denken oder für Begeisterungsarbeit fehlt. Die Gesamtleistung ist somit suboptimal.

All diese Nachteile kann man verhindern, wenn man in der Lage ist, den Druck zu dynamisieren. Freilich braucht man dazu eine gewisse Gelassenheit – die Souveränität zu wissen, dass man jederzeit bei Bedarf auch wieder Vollgas geben könnte. Vielleicht muss man dazu nicht standhaft wie Luther sein, sondern cool wie Papst Johannes XXIII, der vor dem Vatikanischen Konzil geknurrt haben soll: „Hier sitze ich, ich kann noch ganz anders, Gott helfe Euch!“

Aber Vorsicht: Sie müssen wissen, dass es heikel sein kann, wenn Sie von heute auf morgen vom System „Vollgas“ auf das System „Druck dynamisieren“ umstellen – ohne etwas zu sagen. Denn dann spielen die Leute weiter nach den alten Regeln – sie werden tatsächlich sofort in ihrer Leistung nachlassen, sobald der Druck nachlässt. Und dann werden Sie schnell zum alten Glauben zurückkehren und wieder ununterbrochen Vollgas geben. Es funktioniert also nur dann mit „Druck dynamisieren“, wenn alle wissen, welches Spiel gespielt wird.

Der Versuch eines solchen Systemwechsels lohnt sich. Denn wir sollten uns im Wirtschaftsleben immer daran messen, ob wir das Rennen gewonnen haben. Nicht daran, wie kräftig wir aufs Pedal gedrückt haben.

Führungsbrief 25 – Old problems

Vor Jahren hatten wir ein Führungsentwicklungsprojekt bei der deutschen Tochter eines großen Chemieunternehmens. Der Produktionschef war ein Herz von einem Menschen, aber dennoch gefürchtet, weil er emotional leicht explodierte und schon seit rund 100 Jahren im Unternehmen war.

Mitten in unserem Führungsentwicklungsprojekt bekam das Unternehmen einen neuen CEO, weil der bisherige für den Konzern für andere Aufgaben gebraucht wurde. Der Neue war jung, gescheit und ehrgeizig. Mit ihm führte ich die Gespräche mit jeder einzelnen Führungskraft in unserem Projekt, um persönliche Lernziele zu formulieren und den individuellen Lernfortschritt zu evaluieren. Zum Leidwesen der dortigen Führungskräfte sprach der neue CEO mit ihnen nur englisch (er war allerdings Franzose).

Als so ein Dreiergespräch mit besagtem Produktionschef dran war, legte der neue CEO den Finger (zu Recht) auf ein bestimmtes Problem. Der Produk­tionschef entgegnete ganz entspannt: „Oh, you know, that’s an old problem!“ Worauf der neue CEO ihm in einem ungewohnt unwirschen Tonfall mit der Bemerkung über den Mund fuhr:
„I hate old problems!“

In der Tat, das sollten wir alle: Alte Probleme hassen, statt uns liebevoll an sie zu gewöhnen.

Vielleicht ist dies eine der wichtigsten Bremsen im Besserwerden in Führung und Organisation – dass wir uns an vieles schon so lange gewöhnt haben, dass wir das Problem gar nicht mehr anpacken. Was seit dem Jahre 1291 ein anerkanntes und bekanntes Problem darstellt, verursacht keinen Leidensdruck mehr. Also löst es auch keiner.

Kommt Ihnen irgendetwas von der folgenden Liste bekannt vor? Irgendwie wie ein alter Bekannter? Vielleicht sogar wie ein ganz, ganz alter Bekannter?

  • Der Informationsfluss klappt an bestimmten neuralgischen Stelle sehr oft nicht.
  • Sitzungen sind ineffizient und/oder dauern viel zu lange.
  • E-Mails werden unnötigerweise an viel zu viele CC-Empfänger geschickt.
  • Eine Stelle ist seit Längerem mit jemandem besetzt, der/die dafür nicht geeignet ist.
  • Meier spricht nicht mit Müller.
  • Projekttermine werden nicht eingehalten.
  • Prozesse sind unnötig kompliziert.
  • Usw.

Wenn immer Sie ein solches oder ein ähnliches „old problem“ erkennen, stellt sich die Frage, ob es wirklich ein Problem ist. Vielleicht ist es ja auch nur etwas, das (mindestens als Einzelfall) halt zum (Arbeits-) Leben gehört, mit dem man sich bloß abfinden kann. Von der Problemliste sollten Sie es dann aber streichen und unter „misslichen Umständen“ oder „Ungerechtigkeiten des Lebens“ abbuchen.

Wenn es aber auf der Liste der Probleme zu bleiben verdient, fragt es sich, warum keiner was dagegen tut. Natürlich kann es sein, dass das Problem unlösbar ist (die berühmte Quadratur des Zirkels ist so eines). Oder es ist offenbar einfach noch keinem eine Lösung eingefallen, aber es wird sicherlich einmal eine geben (z.B. DVD-Zellophan-Hüllen, die man in weniger als 30 Minuten und ohne Verletzung der Hand oder der DVD wegkriegt).

Aber ich habe hier nicht primär diese Art von „old problems“ im Sinn, sondern jene, von denen man im Stillen denkt, mit etwas gutem Willen müsste das doch zu lösen sein. Oder mit ein wenig Mut. Oder mit etwas Anstand. Oder auch bloß mit ein klein wenig Fantasie.

Bei einigen dieser Probleme ist es auch so. Man muss sich halt nur einmal einen Ruck geben und das Problem anpacken. Obwohl es einem stinkt. Aber danach freut man sich meist über die Lösung und ärgert sich vielleicht, dass das „old problem“ so alt werden musste.

Wenn die Sache aber nicht mit einem solchen „Jetzt-geb-ich-mir-einen-Ruck­und-räume-die-Garage-endlich-mal-auf“ aus der Welt schaffen lässt, dann steht man vor dieser Art von ungelösten alten Problemen oft ziemlich ratlos da. Warum bloß packt keiner dieses oder jenes Problem an?

Bevor Sie diese Fälle erfolgreich lösen können, müssen Sie wie die Tatort-Kommissare das Motiv suchen. „Cui bono?“, fragten die alten Römer. Wem nützt es?

Dass nämlich etwas in Ihren Augen (zu Recht) ein Problem ist, heißt noch lange nicht, dass nicht ein anderer davon profitiert (selbst wenn er es nicht zugeben würde und selbst dann, wenn er das Ganze auch als Problem betrachtet).

In der Medizin spricht man von einem „sekundären Krankheitsvorteil“. Es gibt Nebeneffekte von Krankheiten – z.B. das Mitleid der anderen oder die Berechtigung, irgendetwas nicht tun zu müssen –, die indirekt dazu beitragen, dass man sich jeder Heilung verweigert. Zu schön ist der zwar unbeabsichtigte, aber dennoch willkommene Nebeneffekt. Und wir müssen uns dessen auch gar nicht bewusst sein (sonst bekämen wir noch ein schlechtes Gewissen): Unser Unbewusstes ist stark genug, uns entsprechend zu steuern und unser Bewusstsein gar nicht erst damit zu behelligen.

Das alles ist kein größeres Drama, wenn sonst niemand echt darunter leidet. Wenn aber ein Dritter (Sie!) das Problem wirklich lösen möchte, steht er vor dem Problem, anderen den „sekundären Krankheitsvorteil“ kaputt machen zu müssen. Dagegen werden die sich wehren. Unter anderem durch Abstreiten ihrer Motive (was umso leichter ist, als sie ihnen gar nicht bewusst sein müssen):

  • Wer Information zurückhält, gewinnt Macht.
  • Wer Sitzungen unnötig verlängert, missbraucht sie oft zur Selbstdarstellung.
  • Wer E-Mails an 1000 CC-Empfänger schickt, sichert sich ab.
  • Wer unfähige Mitarbeiter behält, glänzt daneben und lenkt Klagen von sich ab.
  • Wer einem anderen die Kommunikation verweigert, kann ihn leichter als Sündenbock pflegen.
  • Wer sowieso immer Projekttermine nicht einhält, wird kaum mehr in die Pflicht genommen.
  • Wer komplizierte Prozesse nicht ändert, muss sich wenigstens nicht umgewöhnen.

Mag sein, dass im Einzelfall ganz andere Motive treibend sind. Unterstellen Sie also anderen nicht vorschnell etwas. Aber irgendetwas steckt immer hinter „old problems“. Irgendein Nutzen, den es aber zu finden gilt, wenn wir alte Probleme wirklich hassen – und beseitigen wollen.

Sooo dumm sind die Menschen nun auch nicht, dass sie nur aus Spaß am Leiden endlos unter den ewig gleichen „old problems“ leiden möchten.

Führungsbrief 24 – Bewahren

Wandel ist die einzige Konstante. Wer sich nicht ändert, geht unter. Wir müssen anders, besser, schneller werden. Die Konkurrenz schläft nicht. Blablabla.

Sie kennen dieses Lied zur Genüge. Ich auch. Manchmal singe ich es sogar selber.

So richtig es auch sein mag: Trotzdem sollten wir uns einmal darauf besinnen, was eine wirklich gute Innovationskraft ausmacht. Wir können dabei von der Natur lernen. Immerhin hat die Evolution auf dieser Erde eine ziemlich beeindruckende Vielfalt von Lebewesen hervorgebracht. Langsam beginnen die Biologen besser zu verstehen, wie die Evolution dies macht. Eines ihrer Geheimnisse besteht darin, auf höchst kluge Weise Bewährtes zu bewahren und in veränderten Umständen wieder zu verwenden. – Sie glauben gar nicht, was alles Sie und ich mit jeder Amöbe gemeinsam haben! Und mit den Schimpansen sind wir zu 99 Prozent genetisch identisch. 99 Prozent Bewahren und 1 Prozent Innovation hat den Sprung zum Menschen geschafft – doch eine bemerkenswerte Leistung, nicht?

Zugegeben, der Trick besteht darin, das richtige eine Prozent zu erneuern! Und dabei haben wir es in Unternehmen schwerer als die Natur, die sich einfach ein paar Milliönchen Jahre Zeit nehmen kann, um auszuprobieren, was sich denn so bewährt. Andererseits aber können wir – anders als die Natur – den Innovationsprozess bewusst, überlegt und gezielt angehen.

Haben Sie sich schon mal überlegt, was Sie bei all den Änderungen, denen Sie sich ständig unterziehen müssen und die Sie vielleicht selber vorantreiben, sorgfältig bewahren müssten?

Ich weiß: Der Zeitgeist schätzt es gegenwärtig nicht besonders, wenn jemand diese Frage stellt. Und ich will Sie ja auch nur dazu anstiften, sich das mal zu überlegen. Gehen Sie mit Ihren Erkenntnissen also nicht gleich hausieren. Sonst heißt es, der Müllermeier wehrt sich in 99 Prozent der Fälle gegen jede Veränderung. Der ist einfach ewiggestrig. So einen können wir nicht gebrauchen!

Aber hier, unter uns, können wir uns die Frage ja dennoch mal stellen. Und dann sehen wir, dass es gar nicht so einfach ist, das zu Bewahrende richtig zu erkennen. Was könnte es bei Ihnen sein?

Hier ein paar mögliche Kandidaten:

  • Sie sind selber auf dem richtigen Stuhl.
  • Sie haben die richtigen Leute um/unter sich.
  • Sie haben eine gute Unternehmenskultur.
  • Ihre Kommunikationspolitik ist vorbildlich.
  • Bei Ihnen kann man auf eine weiterführende Art konstruktiv streiten.
  • Querdenker werden bei Ihnen für ihre Kreativität geschätzt.
  • Sie verfügen über wertvolle Traditionen im Unternehmen.
  • Der Umgang zwischen den Menschen ist bei Ihnen von Offenheit und Respekt gekennzeichnet.
  • Sie kennen Ihre Kunden.
  • Sie wertschätzen das Know-how auch Ihrer ältesten Mitarbeitenden.
  • Ihre Produkte sind gut und auf dem Markt gesucht.
  • Bei Ihnen hat man Prozesse und Kosten im Griff.
  • Sie kennen Ihre Stärken (oder wenn Sie es lieber hören: Ihre Kernkompetenzen).
  • Erfahrung zählt bei Ihnen.
  • Ihre Organisation ist flach und schlank und setzt auf viel Eigenverantwortung.
  • Bei Ihnen stellt ein neuer Manager nicht zwingend gleich mal alles auf den Kopf.
  • Ihre Chefin hat ein klares strategisches Ziel vor Augen.
  • Bei Ihnen anerkennt man, dass die Büroklammer abschließend erfunden ist.
  • Usw.

Verwenden Sie so eine Liste als Ihre persönliche Checkliste. Was sind die „Standbeine“, die Ihnen Stabilität geben – auch in Zukunft? Welches „Sprungbein“ verhilft Ihnen zur Innovation? Und welches Bein ist zu wackelig, als dass Sie sich künftig darauf verlassen könnten?

Meine Liste dient natürlich nur als Anregung. Sie müssen sie auf Ihren eigenen Bedarf zuschneiden, ändern, ergänzen, konkretisieren.

Bevor Sie die Liste abschließen, machen Sie bitte noch einen kleinen Test: Wenn unter „Bewahren“ fast nur Dinge stehen, die Sie betreffen oder Sie verantworten, und unter „Ändern“ fast nur die Belange von anderen – dann gehen Sie doch einfach nochmals über die Bücher. Denn sonst wäre Ihre Liste ein wenig wie die Unschuldsbeteuerungen der Manager der Tabakindustrie: Leicht zu verstehen, aber kaum zu glauben!

Wenn Ihre Liste aber gut bedacht ist und Ihnen (und anderen) klar geworden ist, was Sie auch für die Zukunft bewahren müssen, dann prüfen Sie Ihre Change-Projekte darauf hin, ob sie dies faktisch auch respektieren. Wenn nicht, riskieren Sie nämlich, vor lauter Change-Begeisterung Ihr Tafelsilber zu verscherbeln. Das wäre doch schade!

Und noch etwas: Es würde jedem Change-Manager (und überhaupt jedem Manager) gut anstehen, nicht nur darüber zu reden, was er verändern will, sondern ausdrücklich klar zu machen, was er (zumindest vorläufig) bewahren will. Und warum.

Dann wäre es nämlich – trotz Zeitgeist – möglich, die für jedes Unternehmen absolut überlebenswichtige Frage nach dem Bewahrenswerten zu stellen und zu diskutieren – ohne deswegen gleich als Verhinderer oder Bremser verschrien zu werden.

Als Nebenwirkung dieser Medizin verspreche ich jedem Change-Manager, dass es den Menschen nachher viel leichter fällt, eine „Why not“-Haltung gegenüber dem wirklich innovativen einen Prozent zu entwickeln. Wenn in der Evolution nämlich immer alle statt eines gelassenen „Why not?“ ängstlich „Yes but“ gesagt hätten, würden wir wohl immer noch auf den Bäumen hocken und uns gegenseitig lausen.

Führungsbrief 23 – Werte

Nicht nur zwischen einzelnen Menschen spielen Werte (über Wertschätzung oder aber Abwertung) eine große Rolle. Auch Unternehmen verpflichten sich immer häufiger als ganze Organisation ausdrücklich auf bestimmte Werte. Diese zu respektieren soll Pflicht und Stolz für alle Unternehmensangehörigen sein.

Damit richten die Firmen zumindest an all ihre Führungskräfte, meist aber an alle Mitarbeitenden eine Botschaft, und sie erhoffen sich nicht selten, dass diese Botschaft auch außen (auf dem Arbeitsmarkt, bei den Kunden, in der öffentlichen Wahrnehmung) gehört und begrüßt wird.

Trotz wohlklingender Worte und meist grafisch ansprechender Aufmachung dieser Werte – zum Beispiel in einem Leitbild – wird aber gar nicht immer klar, was die Botschaft wirklich besagt. Das könnte damit zu tun haben, dass verschiedene Dinge leicht durcheinandergeraten:

Werte heißen Werte, weil sie uns etwas wert sind. Dahinter steht eigentlich ein «Ich will …». Und das, was ich will (oder wir wollen), darf auch etwas kosten. Beispielsweise können wir Mut als Wert postulieren – aber wir müssen dafür mit einer gewissen Risikobereitschaft bezahlen. Oder wir fordern Verbindlichkeit – der Preis heißt Disziplin.

Es kann aber auch sein, dass etwas als Wert genannt wird, das eigentlich ein Grenzwert ist. Dahinter steht eigentlich ein „Du sollst (nicht) …“. Ehrlichkeit ist ein Klassiker dafür, der vor allem fordert: „Du sollst nicht lügen“. Grenzwerte haben immer ein wenig den Geruch von Moralin.

Vor allem Werte können uns etwas wert sein, weil wir daran glauben, dass wir gerade damit besonders viel Erfolg haben werden. Zum Beispiel, weil wir denken, dass wir mit Mut letztlich mehr gewinnen werden. Oder weil wir überzeugt sind, dass Verbindlichkeit von Kunden geschätzt und honoriert wird.

Vor allem Grenzwerte können aber auch einfach eine moralische Entscheidung beinhalten: Bis hierher und nicht weiter! Wir versuchen alles, um Erfolg zu haben – aber nur bis zum Punkt, wo wir ehrlich bleiben können. Unabhängig davon, ob uns jemand beim Lügen erwischt oder nicht. Auch dann, wenn dadurch unser Erfolg geschmälert wird.

Ob Werte oder Grenzwerte: Ihre explizite Nennung durch (in der Regel) das oberste Management kann entweder die gelebte oder aber eine gewünschte Kultur im Unternehmen zum Ausdruck bringen. Dies muss klargestellt werden: Andernfalls resultiert ein Verlust an Glaubwürdigkeit. Denn wenn man etwas als Wert deklariert, ohne es klar als Soll zu bezeichnen, dann wird als unglaubwürdig verstanden, wenn das Ist im täglichen Erleben spürbar davon abweicht.

Also – eine wertebasierte Führung muss deutlich machen, was sie anstrebt:

  • „Wir wollen…“ oder „Du sollst (nicht) …“?
  • Werte, um Erfolg zu haben, oder Erfolg, ohne Werte zu verletzen?
  • Ist oder Soll?

Wenn das geklärt ist, stellt sich die Frage: Warum gerade die Werte, die wir auf unsere Fahne schreiben? Warum nicht andere?

Hier können folgende Überlegungen und Anregungen hilfreich sein:

Es macht keinen Sinn, 27 Werte aufzuzählen. Die kann sich eh keiner merken. Ich fürchte, dass selbst in unseren kulturellen Breitengraden kaum jemand alle zehn Gebote aufzählen kann. Und was man nicht im Kopf hat, wird einen auch kaum bewusst lenken.

Es macht keinen Sinn, für ein Unternehmen Dinge mit großen Worten als Wert zu formulieren, die eigentlich schon das Zivil- oder Straf­gesetzbuch von uns allen verlangt (z.B. „Wir betrügen unsere Kunden nicht“).

Es macht wenig Sinn, Werte hervorzuheben, die im eigenen Kerngeschäft gar nicht wirklich gefragt sind – oder höchstens bei einem kleinen Teil der Mitarbeitenden oder Führungskräfte (z.B. Kreativität bei einer Buchprüferfirma).

Es macht wenig Sinn, Werte zu fordern, die für jedes beliebige Unternehmen wertvoll oder sogar einfach unumgänglich sind (z.B. Kundenorientierung oder Profitabilität).

Es macht hingegen viel Sinn, jene (wenigen) Werte zu formulieren, deren Befolgung oder Nicht-Befolgung einen klar erkennbaren Unterschied für das Unternehmen machen – und zwar einen Unterschied, der plausibel macht, dass die Unternehmensleitung wirklich hinter den deklarierten Werten steht.

Nur ein Unternehmen, das so gewonnene Werte deklariert, wird sie auch führungsmäßig umsetzen. Für die einzelne Führungskraft – für Sie also! – hat das den Vorteil, dass Sie eine Leitlinie für Ihr Handeln in Zweifelsfällen haben. Für all jene Dinge, die nicht durch Prozesse und Reglemente und Gepflogenheiten geregelt sind. Das müsste Ihnen eigentlich viel wert sein!

Übrigens: Wissen Sie, ob sich Ihr Unternehmen auf Werte verpflichtet hat? Können Sie sie auswendig aufzählen? Haben sie Ihnen im Führungsalltag schon einmal geholfen? Glauben Ihre Vorgesetzten mit Überzeugung daran?

Und was würden Ihre Mitarbeitenden auf diese Fragen antworten?

Führungsbrief 22 – Abwertung und Wertschätzung

Für jede Beziehungspflege ist Wertschätzung der Dünger. Und Abwertung ist das Gift schlechthin. Das gilt nicht nur für Paar- oder Freundesbeziehungen, das gilt auch für Führungsbeziehungen.

Gehen wir die zwei Dinge getrennt an.

Abwertung ist leicht getan, mitunter sogar durch Nichtstun. So wie es Schönheit nur im Auge des Betrachters gibt, liegt die wirkliche Abwertung – das ist die, die Wirkung zeigt – immer im Kopf der abgewerteten Person. Daraus darf nicht der Schluss gezogen werden, die Person, die sich durch ein Wort von mir (oder durch ein fehlendes Wort) abgewertet fühlt, sei daran selber schuld. Daraus muss vielmehr der Schluss gezogen werden, dass ich es nicht an meiner (auch noch so guten) Absicht bemessen kann, ob ein Tun oder Lassen von mir für andere abwertend ist, sondern allein an meiner faktischen Wirkung. Das verlangt Gespür und Einfühlungsvermögen.

Was tatsächlich abwertend wirkt, hängt von persönlichen Werten ab. Sie können mir gegenüber nicht abwertend sein, indem Sie sich über meine Glatze lustig machen – denn meine (fehlende) Haarpracht ist mir ziemlich wurscht. Bei einem anderen könnte das anders sein.

Im Führungsalltag bewegt sich Abwertung stets auf einem schmalen Grat. Denn Führung muss durchaus immer wieder auch kritisieren – vielleicht sogar ziemlich hart. Und je nachdem, wie das geschieht, wird es (obwohl sachlich vielleicht gut begründet) als Abwertung erlebt. Abwertung kann sich auf vieles beziehen: auf die Person, auf eine Gruppe, auf anderer Leute Themen/Inte­res­sen, auf jemandes Funktion oder Aufgabe, auf seine Leistung. Verletzt wird dabei immer die Werthaltung des anderen – und das wiederum lässt diesen die (Führungs-) Beziehung zum Abwertenden generell schlecht(er) erleben.
Obwohl wir alle wohl immer wieder andere Menschen abwerten (ob absichtlich oder nicht, sei dahingestellt), bin ich überzeugt, dass es keinen einzigen guten Grund dafür gibt. Die wahrscheinlichsten Erklärungen, warum wir es jedoch trotzdem immer wieder tun, sind wohl Folgende:

  • Indem wir den anderen kleiner machen, machen wir uns (vermeintlich) größer. Andere abzuwerten ist dann freilich ein Zeichen eigener Schwäche.
  • Oder wir wollen jemandem, der sich ständig aufspielt, mal eins auf den Deckel geben. Das mag uns dann gut tun, nützt aber meist nicht viel.
  • Wir meinen nicht selten, etwas Bestimmtes müsse doch nun endlich mal gesagt werden. Muss es aber gar nicht! Sei es, weil es nicht notwendig oder weil es nicht nützlich ist, es zu sagen. Selbst wenn es wahr ist.
  • Und dann ist es halt so, dass wir uns schwer tun, auf eine gute Art zu kritisieren. Kritik kann wehtun – aber das muss noch keine Abwertung sein. Missglückte Kritik jedoch kann Abwertung mit sich bringen. Konstruktive dagegen ist nicht leicht: Aus der Optik des Kritisierenden heißt „konstruktiv“ berechtigt. Aus der Optik des Kritisierten bedeutet es aber annehmbar (ohne Gesichtsverlust, zum Beispiel). Das ist nicht dasselbe und kann Beziehungen nachhaltig belasten. Konstruktiv kritisieren – ohne abwertend zu wirken – ist sicherlich eine hohe Kunst.

Ich glaube aber, dass die meisten Abwertungen gar nicht beim expliziten Kritisieren entstehen, sondern eher durch kleine Dinge – nicht selten zu klein, als dass man sich gut dagegen wehren könnte. Aber spürbar genug, dass sie die Beziehung nach und nach erodieren lassen. Kleine Unfreundlichkeiten und Respektlosigkeiten, Desinteresse und Nicht-Beachten, vor allem aber Mangel an Anerkennung und Wertschätzung.

Wertschätzung ist wie gesagt der Dünger jeder Beziehung. Auch jeder Führungsbeziehung. Wertschätzung ist aber keineswegs immer leicht getan. Anders als Abwertung braucht Wertschätzung bewusstes Handeln. Zudem kann man Wertschätzung nicht einfach als Trick oder Kunstgriff einsetzen. Nur redlich gemeint, entfaltet sie ihre förderliche Wirkung. Nicht vergessen: Es gilt dies für beide Seiten – Führende wie Geführte – in gleicher Weise.

Damit stehen wir jedoch vor einem Problem: Was, wenn wir keinen oder wenig Grund dafür sehen, redlich Wertschätzung auszudrücken? Wenn dies ­einen Mitarbeitenden betrifft und aus der Optik seines Vorgesetzten so ist, dann muss der Vorgesetzte handeln: Es darf nicht sein, dass er es bei dieser Situa­tion belässt. Entweder er muss aufgaben- oder personseitig etwas ändern. Wenn es in umgekehrter Richtung gilt, dann sollte sich der Mitarbeitende fragen, ob er länger unter dieser Führung arbeiten will.

Aus der Optik dessen, der Wertschätzung erwartet, ist es natürlich selten so, dass es dafür keinen Grund gibt. Er hofft (in seinen Augen mit gutem Grund) auf zumindest gute Gefühle (Anerkennung, Aufmunterung, Verständnis usw.). Denn jede/r will ja ein wenig geliebt werden. Nun kann es freilich leicht sein, dass die damit verbundenen Erwartungen die andere Seite völlig überfordern. Seinen Chef (oder aber seine Mitarbeitenden) dafür verantwortlich zu machen, dass das eigene Ego täglich genügend gestärkt und vor aller Unbill geschützt wird, dürfte nicht besonders realistisch sein. Dass man sich dieser Erwartungshaltung aber auch noch nicht einmal bewusst ist, sie vielleicht gar leugnet, macht die Sache sicherlich nicht einfacher.

Noch eine kleine Randbemerkung: Auch wenn wir das Thema hier immer auf andere bezogen haben – man kann natürlich auch sich selber gegenüber abwertende oder aber wertschätzende Einstellungen haben. Wertschätzung ist auch hier fruchtbarer – nur sollte sie nicht mit kritikloser Selbstüberhöhung verwechselt werden. Aber besser, Sie klopfen sich selber auf die Schultern, als dass es gar niemand tut.

Übrigens:

  • Wie geht es Ihnen? Werden Sie genügend wertgeschätzt? Von wem am meisten?
  • Wofür erfahren Sie vor allem Wertschätzung? Wo fehlt sie Ihnen?
  • Wann und wie zeigen Sie Ihre Wertschätzung anderen gegenüber?
  • Wird das von den anderen auch als Wertschätzung erlebt?
  • Welche Note bezüglich Ihres Umgangs mit ihnen würden Ihnen Ihre Mitarbeitenden wohl geben auf einer Skala von -10 für totale Abwertung bis +10 für totale Wertschätzung?

Bitte reflektieren Sie einmal ganz sorgfältig, was Abwertung respektive Wertschätzung bei Ihnen selbst ausmacht und auslöst. Und richten Sie dann Ihren Umgang mit Ihren Mitarbeitern (und Ihrem Chef!) sinngemäß darauf aus. Die Chance ist groß, dass es denen nicht viel anders geht als Ihnen.

Schließlich: Manch faktisch abwertende Bemerkung erfolgt einfach im Affekt. Unsere Emotionen brennen mit uns durch – und nicht selten tut es uns hinterher leid. Wenn wir dann aber auch die Feinfühligkeit haben zu erkennen, dass wir verletzend waren, und über die Größe verfügen, dies auch zuzugeben, dann kann das mitunter sogar eine Brücke bauen, über die wir auch zu ehrlicher Wertschätzung gelangen: So etwas gibt dann allen Beteiligten das süße Gefühl der Versöhnung.

Führungsbrief 21 – Drei Hüte

Sie müssen täglich das Kunststück bewältigen, drei Hüte gleichzeitig zu tragen. Welches sind diese drei Hüte? Was bedeutet es, sie gleichzeitig zu tragen? Wie präsentiert sich eine solche Kleidermode gegen außen? Der Reihe nach.

Hut Nummer 1 steht für die Führung Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ist der klassische Teil jeder Führungsaufgabe: das hierarchische top-down. Der größte Teil der Führungsliteratur behandelt Themen, die unter diesen Hut gehören. Hier geht es darum, wie Sie die Ziele, die Sie von Ihrem Chef bekommen haben, gemeinsam mit Ihren Mitarbeitenden zu erreichen versuchen.

Hut Nummer 2 umfasst all die Aufgaben, die nichts Unmittelbares zu Ihrer eigentlichen Aufgabe (Hut Nummer 1) beitragen, die aber für Ihre Chefin oder deren Chef wichtig sind. Ein Teil davon umfasst Reporting und Controlling: Ihre Chefin muss jederzeit ein Gefühl dafür haben, wie die Dinge bei Ihnen laufen. Sie muss rechtzeitig erfahren, wenn die Dinge aus dem Ruder zu laufen beginnen. Sie muss im genau richtigen Maß (das aber leider schwer bestimmbar ist) mit Informationen dotiert werden, um ihrerseits gegen oben Rechenschaft ablegen und kritische Fragen beantworten zu können. Ein anderer Teil davon betrifft Ihr Engagement in organisatorischen oder anderen Projekten aller Art. Das ist meist eine nur temporäre Verpflichtung. Überdies braucht Ihre Chefin Sie ganz persönlich, denn sie bedarf auch ab und zu der moralischen Unterstützung, um mit der Gefahr der Einsamkeit – die mit jeder Führungsrolle verbunden ist – besser umgehen zu können. Dieser letzte Teil der Aufgaben unter Hut Nummer 2 erfolgt in aller Regel ohne expliziten Auftrag: Sie sollten vielfach selber merken, wessen es hier bedarf.

Hut Nummer 3 erwächst aus der Erfordernis, dass Sie und Ihre Kolleginnen sozusagen die erweiterten Gehirnwindungen Ihres Chefs darstellen und sich mit ihm seinen Kopf zerbrechen müssen. Sie müssen jederzeit für das Ganze (mit)denken, was mit Ihrem ersten Hut leider durchaus in Konflikt geraten kann. Für eine Geschäftsleitung gilt dies ganz ausgesprochen, aber vom Grundsatz her gilt es für jedes Führungsteam.

Das sind also die drei Hüte, die Sie als Führungskraft tragen müssen. Was aber heißt nun, sie gleichzeitig zu tragen?

Sicherlich ist es dann kein besonderes Problem, wenn aufgrund dieser drei Hüte keine widersprüchlichen Erwartungen an Sie entstehen. Häufig dürfte dies glücklicherweise so sein – aber leider nicht immer. Denn aufgrund von Hut Nummer 3 kann es beispielsweise Dinge geben, die sich gegen die Interessen Ihres Teams oder Bereichs richten, so dass Hut 3 Hut 1 in die Quere kommt. Oder zwischen Hut 1 und 2 respektive 3 gibt es nur schon einen Verteilungskonflikt um Ihre Gunst respektive Zeit. In all diesen Fällen müssen Sie sich entscheiden, wie Sie mit solchen Zielwidersprüchen respektive Verteilungskonflikten konkret umgehen.

Für diesen Entscheid gibt es kein Patentrezept. Nicht selten wird Ihr Entscheid auch Ärger nach sich ziehen. Zwar gilt meistens „Ober sticht Under“ – aber das macht die Verlierer nicht unbedingt glücklicher. Es entlastet Sie nicht einmal davon, selber zu entscheiden.

Wenn Sie sich entschieden haben, dann sollten Sie sich des Ampel-Modells bedienen: So wie man bei einer Straßenkreuzung immer alle drei Lichter sieht, wobei aber nur eins oder manchmal zwei davon leuchten, so sollte für Ihre Umwelt (Vorgesetzte/Kollegen/Mitarbeitende) immer klar sein, dass Sie zwar jederzeit alle drei Hüte tragen, aber auch, welche(r) davon für Sie jetzt gerade richtungweisend sind/ist. Und warum.

Wie nun aber werden diese drei Hüte im Allgemeinen so getragen? Ich beobachte Folgendes:

Beim ersten Hut dürfte die Bandbreite des Existierenden besonders groß sein. Da sich diese Führungsbriefe meistens mit dem Bereich befassen, will ich hier diesmal nicht näher auf das Thema eingehen. Mit einer Ausnahme: Der zeitliche Anteil, den Hut Nummer 1 faktisch in Anspruch nimmt (respektive nehmen darf), ist eher rückläufig – vor allem zu Gunsten des zweiten Hutes. Darunter leiden vor allem die Mitarbeitenden.

Beim zweiten Hut müssen wir zwei Aspekte unterscheiden: Das, was Führungskräfte von sich aus unter diesem Hut tun, kommt eher zu kurz. Zu wenig überlegen sie, wie sie ihren Chef unterstützen können. Hingegen nimmt immer mehr Zeit in Anspruch, was Führungskräfte unter diesem Hut im expliziten Auftrag „von oben“ tun müssen: in erster Linie also Projekt- und Gremienarbeit sowie Reporting und Zentralistenanforderungen. Unter dem Argument, dass Führung Veränderung heiße, wird fast nur noch hier investiert – und das „Running the business“ unter Hut 1 kommt dann eben zu kurz. Hier wäre eine gewisse Korrektur zweifellos angebracht: Zumindest könnte es fruchtbar sein, ein wenig Tempo herauszunehmen.

Beim dritten Hut nehme ich wenig Erfreuliches wahr. Aus der Perspektive „von oben“ wird er zwar immer erwartet. Aber gleichzeitig misst man mit vielen Bonussystemen heutzutage die Führungskräfte an ihrer eigenen (Bereichs-) Leistung und auch am Gesamtresultat – aber eben nicht an ihrem (den eigenen Bereich überschreitenden) Beitrag zum Gesamtresultat. Entsprechend dürftig fällt der dann meist auch aus.

Letzteres ist verwunderlich. Denn eigentlich müsste es ja vor allem die Leistung unter Hut Nummer 3 sein, die jemanden für einen nächsten Karriere­schritt qualifiziert. Aber vielleicht bin ich da zu blauäugig. Denn der Hut Nummer 2 dürfte hierfür heute faktisch wesentlich wichtiger sein – dort lockt schließlich am meisten persönliche Sichtbarkeit im Unternehmen.

Wenn bei all dem primär Hut Nummer 1 leidet, ist das unerfreulich. Schön ist natürlich, wenn es Führungskräfte schaffen, unter Hut Nummer 1 so sehr auf die Entwicklung der Kompetenz und Selbstständigkeit ihrer Mitarbeitenden zu setzen, dass diese eine knappere zeitliche Verfügbarkeit ihres Chefs vergleichsweise gelassen verkraften.

Wenn Sie mich nun unter vier Augen fragten, was Sie mit all dem anfangen sollten, dann würde ich Ihnen die folgende Drei-Hüte-Kraftformel empfehlen: Beim ersten Hut auf das Empowerment der Mitarbeitenden im täglichen Geschäft setzen (was aber nicht heißt, sie einfach allein zu lassen!), mit dem zweiten Hut als fähiger Change Manager sichtbar und als Stütze des eigenen Chefs spürbar werden und – wenn Sie denn Karriere machen wollen – sich mit einem faktisch gut getragenen dritten Hut für höhere Aufgaben empfehlen (freilich ohne je davon zu reden!).

Führungsbrief 20 – Self-care

Ihr Beruf fordert viel von Ihnen. Gehen wir für einmal davon aus, dass die Ursachen dafür sind, wie sie sind – so als wären sie alle unveränderlich (denn als das dürften Sie sie ja häufig auch erleben). Dann stellt sich die Frage, wie Sie unter solchen Umständen, die manchmal auch sehr widrig sind, dennoch gesund bleiben. Wie können Sie Sorge zu sich tragen?

Self-care – also die Kunst, zu sich selber Sorge zu tragen – erstreckt sich über Ihren ganzen ­Alltag, nicht nur auf die Arbeitszeit. Ich möchte Ihnen hier 24 Facetten anbieten, deren Berücksichtigung zu Ihrer Self-care beitragen kann. Der Einfachheit halber betitle ich sie alle mit einem ­Namen, der mit A anfängt, so dass Sie sich die Formel A24 merken können. Damit will ich sagen, dass ­diese 24 A in einer multiplikativen Verbindung stehen. Stärkere können also schwächere kompensieren.
Aber wenn auch nur ein solches A auf Null (das heißt auf einem miserablen Wert) steht – dann ist Ihre ganze Self-care bedroht. Fragen Sie sich also, welche der folgenden A Ihre Stärken sind (auf die Sie setzen können). Und fragen Sie sich weiter, ob eines dieser A droht, Null zu werden: Dann ist Alarm und Sie sollten sich unbedingt geeignete Unterstützung holen. Hier die 24 A:

A1 – Achtung: Sie müssen Self-care wollen. Sie müssen darauf achten, dass es Ihnen gut geht. Sie müssen die Achtung vor sich selber pflegen.

A2 – Ausrufen: Sagen Sie, wenn es Ihnen nicht gut geht. Aber jammern Sie nicht unaufhörlich. Das will keiner hören. Und fragen Sie sich, ob Sie wirklich wollen, dass sich die Dinge bessern, oder ob Sie lieber weiter klagen dürfen wollen.

A3 – Auswahl: Man kann nicht alles machen. Und man kann schon gar nicht alles gleichzeitig tun. Prioritäten muss man gerade auch dann setzen, wenn nur noch Wichtiges und Dringliches auf dem Tisch liegt. Dabei geht immer etwas unter. Aber selten die Welt.

A4 – Aufmerksamkeit: Wofür immer man sich entschieden hat, es zu tun – das sollte man mit voller Aufmerksamkeit tun. Verzettelung ist der Anfang von Ineffizienz und Stress.

A5 – Ausgleich: Unablässig weiterarbeiten bringt nichts. Wir brauchen Ausgleich und Abwechslung. Und es lohnt sich, neue Wege zu probieren statt stets nur die ausgetretenen Pfade zu gehen.

A6 – Allgemeinbefinden: Gesundheit zuerst! Beachten Sie die üblichen Verdächtigen: genug Schlaf, Wohlfühl-Gewicht, Bewegung, Maß halten beim Sündigen, aber: genussfähig sein.

A7 – Arbeitstechnik: Persönliche Arbeitstechnik kann immer nur persönliche Arbeitstechnik sein. Aber die werden Sie erst finden, wenn Sie wirklich wissen, was Sie hinterher mit dem Zeitgewinn anfangen wollen – und wenn man Sie dies auch wirklich machen lässt.

A8 – Aufgabenverständnis: Nur wer weiß, was er warum und wozu zu tun hat, kann sinnvoll tätig sein. Hier hat die Vorgesetzte die Bring- und der Mitarbeiter die Holpflicht.

A9 – Aktualität: Wir leben heute. Es ist Einstellungssache, ob man immer der Vergangenheit verhaftet bleibt oder ob man sich auf die Gegenwart einstellen kann. Nicht vergessen: Diese Gegenwart ist das, was wir morgen als das viel bessere Gestern loben werden.

A10 – Ausruhen: Pausen machen, schlafen, spazieren – was immer Sie sich erholen lässt.

A11 – Argumente: Wer die Dinge versteht, hat es sehr viel leichter. Kennen Sie die Gründe anderer! Haben Sie selber überzeugende Gründe! Fallen Sie nicht auf den Fetischismus der Sachlichkeit hinein. Nicht selten sind die „niedereren“ Motive die „wahreren“.

A12 – Angstfreiheit: Leichter gesagt als getan. Aber es ist nicht jede Angst angebracht – ein wenig mutig sein ist längst nicht immer tollkühn. „Why notter“ kommen weiter als „Yes butter“.

A13 – Austausch: Gesprächspartner sind wichtig. Und auch das Palaver über die Dinge, die einen beschäftigen. Social support ist einer der wichtigsten Antistressfaktoren.

A14 – Alltag: Self-care ist keine Spezialübung. Das richtige Leben findet nur im Alltag statt.

A15 – Angehört werden: Schön, wenn Ihr Vorgesetzter Gedanken lesen kann. Sicherer, wenn Sie sich Gehör zu verschaffen lernen. Und zwar so früh, dass Ihr Tonfall noch okay ist.

A16 – Arbeitsumgebung: Wissen, wie/wo es einem wohl ist, und sich aktiv dafür engagieren.

A17 – Antizipation: Überraschungen sind nicht immer schön. Denken Sie stets einen Schritt voraus. Es lohnt sich, die betriebliche Wettervorhersage zu kennen.

A18 – Aktivität: Versuchen Sie, die Dinge aktiv anzugehen und selber mitzusteuern. Nur auf dem Beifahrersitz kann einem schlecht werden.

A19 – Aushalten: Sorry – Shit happens. Manchmal muss man halt auf die Zähne beißen.

A20 – Arrangement: Es gibt viele Ziel- und Interessenkonflikte. Manchmal muss man sich mit widrigen Umständen arrangieren. Das ist nicht immer Feigheit. Manchmal ist es Weisheit.

A21 – Abgrenzen: Lernen Sie Nein sagen. Man muss sich nicht jeden Affen auf die Schulter setzen lassen. Nein sagen – anständig, aber bestimmt.

A22 – Abgeklärtheit: Gelassenheit und Humor helfen viel. Hier hilft es ausnahmsweise, sich auf früher zu besinnen: Was haben Sie nicht schon alles unbeschadet überstanden!

A23 – Ass im Ärmel: Pflegen Sie ihre „Assets“ – Ihr Wissen, Wollen, Können und Kennen. Dann können Sie im richtigen Moment Ihren Trumpf spielen.

A24 – Ankommen: Erfolg haben, Ziele erreichen – und manche Mühsal ist vergessen. Nothing beats success! Feiern Sie Ihre Erfolge!

Nochmals: Prüfen Sie, welche dieser A Ihre Stärke sind, mit der Sie Ihre schwächeren A kompensieren können.

Und wenn Sie mit auch nur einem A auf Null abzurutschen drohen, dann holen Sie sich Hilfe.

Tragen Sie Sorge zu sich (und zu anderen)!

Führungsbrief 19 – Lust auf Führung

Woher immer sie kommen mag, ich weiß es nicht: die Lust auf Führung. Am ehesten wohl durch das Erlebnis, dass sich Menschen überhaupt führen lassen (wollen) und dass darüber Leistungen und Erfolge möglich werden, die der oder die Führende anders nie hätte bewerkstelligen können. Die Führungspsychologie ist ja nicht gerade arm an Kalenderweisheiten, und wenn sie von Führungskräften selber stammen, dann haben sie meistens die Funktion zu erklären, warum der Erfinder besagter Weisheit so unglaublich gut führe. Aber eine dieser Praxisweisheiten möchte ich doch mit allem Respekt zitieren. Es ist das 4M-Prinzip der Führung, das ein ehemaliger höchster Ausbildungsoffizier der Schweizer Armee zu seiner Leitlinie gemacht hat (ob er es auch erfunden hat, entzieht sich meiner Kenntnis). Es fordert: Man muss Menschen mögen.

Selbstverständlich gibt es verschiedenste Motive, Chef/in sein zu wollen. Menschen zu mögen, ist dafür kein Muss – es sei denn, man will eben Lust an der Sache (also an der Menschenführung) haben. Und nur davon ist hier die Rede. Gleichzeitig steht auch nicht zur Debatte, was dabei zum Erfolg führt, denn es gibt ja Despoten und Technokraten und andere „Führer“, die Erfolg haben, ohne je Lust auf Menschenführung zu haben. Aber das wäre ein anderes Thema.

Daran führt nun wahrlich kein Weg vorbei: Wer sich nicht für all die Schattierungen und Eigenarten der Menschen, für diese Vielfalt an Charakteren, für dieses Kaleidoskop aus Ähnlichem und Fremdem, Interessantem und Langweiligem, Echtem und Falschem, Sympathischem und Abstoßendem, Klugem und Dummem zu interessieren vermag und wer nicht genau dieses reichhaltige Spektrum an den Menschen mag, der wird keine Freude an der Menschenführung haben (auch wenn er das Chef-sein dennoch liebt). Natürlich ist damit nicht gesagt, dass man einen faulen, langweiligen, dummen, unsympathischen Mitarbeiter mögen muss. Man darf sich herzhaft über jeden Einzelnen ärgern. Aber man muss sich mit der Liebe eines Forschers dafür interessieren, was jemanden faul, langweilig, dumm und unsympathisch macht, und ob man an ihm nicht vielleicht doch noch andere Seiten entdecken oder gar zum Leben erwecken könnte. Und dies ist die Grundeinstellung einer Lust auf (Menschen-) Führung.

Vielleicht ist dies sogar der einzige Aspekt von Führung, der sich auf dem Weg nach oben nicht ändern sollte: Was immer sich an Prioritäten, Techniken und Prinzipien ändert, wenn man die betriebliche Hierarchie nach oben klettert – die Lust auf Führung sollte dabei nie abhanden kommen.

Es ist das Gefühl, das entsteht, wenn man als Führungskraft bei Mitarbeitenden allein durch ein Gespräch, durch Aufmerksamkeit, Respekt und klare eigene Vorstellungen Energie, Leistungsbereitschaft, Zuversicht erzeugen kann. Wenn man zu Beginn einer Sitzung vor vielen offenen Fragen und Problemen steht, für die man selber keine Lösung weiß, und es nach einigen Stunden geschafft hat, dass das Wissen und die Erfahrung von anderen, ihre Einstellungen und Denkhaltungen eingegangen sind in eine Kooperation, aus der Lösungen entstanden. Und wenn man weiß, dass die eigene Art, die Beziehung mit den Beteiligten zu gestalten, einen maßgeblichen Anteil am Erfolg gehabt hat.

Eine ungeschriebene Regel der Führung müsste eigentlich darin bestehen, dass sich Führungskräfte selber – so redlich wie man mit sich selber überhaupt sein kann – Rechenschaft darüber ablegen, was ihnen Lust an der Führung bereitet und worauf sie also setzen könnten, wenn sie ihre Lust auf Führung weiter steigern wollen. Dieses Rechenschaftablegen ist prekär, da es immer schon mit einem Fuß in der Falle des Moralins steht. Dabei ginge es ja gerade darum, sich auch seiner mitunter eher „niederen“ Motive gewahr zu werden, sich mit dem eigenen Narzissmus auseinanderzusetzen, seine eigenen Machtbedürfnisse ernst zu nehmen, auch zu einer vielleicht kindlichen Freude an bestimmten Dingen zu stehen usw. Witzlos ist es, nur die hehren Motive des Gemeinsam-etwas-bewe­gen-wollens oder des Verantwortung-übernehmen-müssens oder des Unternehmenswert-zu-steigern-habens zu bemühen. Denn das ist es alles nicht.

Es wäre wesentlich reifer (und überdies auch redlicher), zu seinen tiefer liegenden Motiven zu stehen und bewusst damit umzugehen. Das muss (und soll) keineswegs auf Kosten anderer gehen. Genauso wenig, wie der Zweck die Mittel heiligt, verderben „niedere“ Motive gutes Tun. Geben wir es doch lieber zu: Es ist manchmal einfach geil, Menschen führen zu können.

Wie bei einem Tornado, der sich selber beim Wirbeln mit Energie auflädt und immer rasanter wird, kann man sich die Entstehung und Entwicklung von Lust auf Führung vorstellen: Eine gewisse Lust zu führen muss als Voraussetzung zunächst sicherlich da sein. Dann führt man effektiv und erreicht eine gewisse Hebelwirkung, was heißt, dass mehr möglich wird, wenn man Menschen führt, als wenn man nur selber was täte. Vor allem aber mehr, als die Summe dieser Menschen ohne Führung zustande gebracht hätte. Dann sieht man den gemeinsamen Erfolg und erkennt den eigenen Anteil daran. Ist stolz darauf. Erhält vielleicht Anerkennung dafür. Und kriegt Lust auf mehr. Mehr Lust auf Führung.

Vielleicht erwächst die wahre Lust auf Führung letztlich aus dem Geist des Prometheus: Nach der griechischen Sage hatte Prometheus den Göttern das Feuer gestohlen und es den Menschen gebracht. Die Götter fanden das nicht so toll und ketteten Prometheus zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus. Jeden Tag schickte Zeus, der Göttervater, einen Adler vorbei, der Prometheus die Leber aus dem Leib riss, die ihm nachts wieder nachwuchs. Zyniker mögen vermuten, dass es vielleicht an diesem Erbe liegt, dass schlechte Führung – oben wie unten – nicht selten in Leberschäden ausmündet.

Lust auf Führung wäre demnach: eine Flamme zu entzünden und am Brennen zu halten, Energie zu geben und zu spüren, Dinge zu schaffen und verändern zu können, Menschen zu mehr und Neuem zu befähigen, Erfolge zu erringen und Niederlagen zu überwinden, weiterzukommen und Anerkennung zu erlangen, im Rampenlicht zu stehen und den Applaus zu suchen, seinen Willen durchsetzen zu können und die Konsequenzen davon zu verantworten, den Wandel zu meistern und voranzutreiben, sich an den Grenzen der Wirklichkeit zu reiben und sich dennoch immer wieder an der Unbegrenzt­heit der Möglichkeit zu begeistern.

Kurzum: Lust auf (Menschen-) Führung ist letztlich die Lust, das Feuer zu beherrschen – und es erst noch den Göttern geklaut zu haben.

Führungsbrief 18 – Zeit

Für einmal handelt der Führungsbrief von einem Thema, das gar keines ist. Zeit ist kein Thema. Denn, wie den meisten von Ihnen bekannt ist, hat der Tag für alle – ausnahmsweise ganz demokratisch – gleich viele, nämlich 24 Stunden. Außer man steht eine Stunde früher auf, dann hat er 25.

Selbstverständlich ist hingegen ein Thema, was wir in dieser Zeit tun. Wir können sehr unterschiedliche Dinge tun. Wir können die Dinge sehr unterschiedlich tun. Der Spielraum ist hier im Prinzip offen – zumindest bis an die Grenze der vorhandenen Zeit.

Wenn wir also von Zeit reden, reden wir immer über Mangel an Zeit, und was wir wirklich meinen, ist, dass die Zeit nicht reicht für das, was zu tun wäre. Das eigentliche Thema heißt daher: Wie kommt die Liste von all dem zustande, was Sie den ganzen Tag tun, plus dem, was Sie zusätzlich tun müssten oder wollten? Wie kommt das auf Ihren Schreibtisch, was Sie beschäftigt?

Nähern wir uns dem Thema aus ganz verschiedenen Blickwinkeln:

  • E-Mails. Der Berg an E-Mails, den man täglich zu beantworten hat, ist der Klagepunkt heutzutage. Dabei sollten uns die elektronischen Kommunikationsmedien die Arbeit erleichtern. Die Frage ist: Beherrschen Sie die E-Mails, oder beherrschen Ihre E-Mails Sie? Man muss lernen, selektiv genug mit seinen E-Mails (und mit dem Zeitpunkt ihrer Bearbeitung) umzugehen. Man muss auch nicht jede E-Mail beantworten (und nicht jede mit einer E-Mail – vielleicht ist was anderes besser). Wir müssen uns darüber Rechenschaft ablegen, ob und warum wir lieber das Nachdenken oder einen Kundenbesuch oder ein Mitarbeitergespräch bleiben lassen und dafür alle Mails abarbeiten als umgekehrt. Es ist unsere Wahl, was liegen bleibt.
  • Meetings. Viele Meetings sind überflüssig. Viele sind schlecht geführt. Prüfen Sie einmal, wie viel Zeit durch Selbstdarstellung, Nebenkriegsschauplätze oder Geplauder verloren geht. Häufig wurde die Auswahl der Teilnehmenden nicht sorgfältig genug bedacht. Hier kann viel verbessert werden. Wenn Sie selber weniger unter unfruchtbaren Meetings leiden wollen, müssen Sie sich jederzeit für gute Sitzungsführung stark machen und radikal prüfen, an welche Meetings Sie gehen. Dabei dürfen Sie sich nicht von der Angst terrorisieren lassen, etwas zu verpassen.
  • Kultur. Der Zeitgeist verlangt, dass man als Führungskraft „im Stress“ ist. Sie haben also keinerlei Aussicht auf einen lockeren Job. Das Beste, was Sie überhaupt erreichen können, ist, dass der Anteil der Dinge, die Sie wirklich tun wollen, steigt – aber es wird ein Anteil von insgesamt vielen Stunden bleiben. Das freilich muss noch nicht Überlastung oder Stress heißen. Denn: Wir sind nicht im Stress, weil/wenn wir Zeitnot haben. Wir haben Zeitnot, weil/wenn wir im Stress sind!
  • Driving seat. Gestalten Sie Ihre Agenda? Oder wer oder was tut das? Bemühen Sie sich, hier selber am Steuer zu sitzen, oder sind Sie einfach Beifahrer/in und andere bestimmen Ihren Tagesablauf? Einfacher – aber sicher schlechter – ist es, reaktiv zu sein. Es ist erstaunlich, wie leicht man im Management einen Termin erhält – vorausgesetzt, der Manager hat zum gewünschten Termin zufällig noch nichts in der Agenda.
  • Zeitigkeit. Im Griechischen gibt es zwei Begriffe für unser Thema: „Chronos“ und „Kairos“. Chronos meint Zeit, die man in Stunden messen kann. Wie erwähnt, sind das für alle 24 Stunden täglich. Daran lässt sich nichts ändern. Kairos dagegen meint Zeitigkeit; also die Frage des richtigen Zeitpunkts. Daran müssen (und können) Sie arbeiten. Denn wer die Dinge zur falschen Zeit – oder zur Zeit die falschen Dinge! – tut, der käme auch mit einem 48-Stunden-Tag nicht aus!

Unter all diesen Blickwinkeln zeigt sich immer die gleiche Erkenntnis. Es sind drei Dinge, die Sie selber beeinflussen können. Ich nenne sie das Triple-AAA:

Auswahl: Sie haben immer die Wahl, was Sie tun und was Sie lassen wollen. Zeitfragen sind Entscheidungsfragen. Sie kommen nicht zu X, weil Sie sich für Y entschieden haben. Natürlich müssen Sie mit den Folgen Ihrer Entscheidung leben. Wenn Sie also etwas nicht tun, das „man“ von Ihnen verlangt, werden Sie vermutlich Ärger kriegen. Das gebe ich zu. Aber sind Sie sicher, dass dieser Ärger wirklich schlimmer ist als die Probleme, die Sie heute haben, da Sie alles tun, was man von Ihnen will? Ich will es mir hier nicht zu einfach machen. Aber ich bin überzeugt, dass Sie mehr Wahlmöglichkeiten hätten, als Sie bislang nutzen. Sie müssen nur den Mut dafür aufbringen!

Aufmerksamkeit: Wofür immer Sie sich entschieden haben – tun Sie das, was Sie zu einem gegebenen Zeitpunkt tun, mit voller Aufmerksamkeit. Ohne sich vom E-Mail-Ankündigungs­bimmeln terrorisieren zu lassen. Selbst im Großraumbüro kann man mal ein Schild aufstellen: „Bitte bis 11 Uhr nicht stören.“ Mit voller Aufmerksamkeit brauchen Sie weniger Zeit für eine Arbeit, Sie machen sie besser und Sie sind hinterher zufriedener mit sich selber. Wenn Sie also ein Gespräch führen, dann führen Sie dieses Gespräch. Wenn Sie Mails bearbeiten, dann bearbeiten Sie Mails. Wenn Sie Pause machen, dann machen Sie Pause. Das klingt simpel, geht aber nur, wenn Sie eine Planung respektive Arbeitstechnik haben, die Ihre Aufmerksamkeit auf jeweils einer Tätigkeit lässt – so dass Sie nicht währenddessen ständig darüber nachdenken müssen, was Sie denn sonst noch alles tun sollten und keinesfalls vergessen dürften.

Ausgleich: Sorgen Sie für einen abwechslungsreichen Mix in Ihrem Arbeitsalltag. Als Führungskraft haben Sie hier mehr Möglichkeiten, als wenn Sie am Fließband oder an der Kasse stünden. Aber Sie müssen sie auch nutzen. Kein Mensch kann immer nur hochkonzentriert arbeiten. Auch endlose Sitzungen ohne methodische Vielfalt bringen nichts. Abends noch bis zum Schlafengehen fürs Geschäft arbeiten ist schlecht. Ausgleich wirkt entspannend und erhöht Ihre Gesamtleistungsfähigkeit. So werden Sie mehr aus Ihrer Zeit machen.

All dies klappt aber nur, wenn Sie wirklich weniger unter Zeitnot leiden wollen. Wirklich weniger! Natürlich klappt es nicht immer und nicht ununterbrochen, denn ab und zu ist jede/r mal in Zeitnot. Aber es kann viel helfen: Wenn Sie es tatsächlich ernst meinen, probieren Sie das Triple-AAA aus. Sie können höchstens gewinnen da­bei. Zu verlieren haben Sie dabei nichts außer Ihrer Zeitnot.

Sollten Sie es aber nicht einmal versuchen, dann habe ich leider einen ganz gemeinen Verdacht: Dann glaube ich, dass es Ihnen wichtiger ist, die Stressfahne vor sich herzutragen und darüber zu klagen, als weniger zu leiden. Bitte schön: Vom süßen Gefühl des Selbstmitleids möchte ich Sie keineswegs abhalten.

Übrigens: Woher hatten Sie die Zeit, diesen Führungsbrief zu lesen?

Führungsbrief 17 – Motivieren

Die vornehmlichste Führungsaufgabe heißt: Motivieren. Richtig? Falsch!!! In Managerbüchern wie auch Führungsseminaren wird immer wieder die Leit­frage aufgestellt: Wie motiviere ich meine Mitarbeitenden? Mit der Frage nach dem Wie wird unhinterfragt unterstellt, dass Motivieren tatsächlich Führungsaufgabe sei. Weiter wird unterstellt, dass überhaupt jemand jemanden anders motivieren könne. Diese beiden Unterstellungen will ich hier in Zweifel ziehen.

Natürlich gibt es vielfältige Möglichkeiten, jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, was er oder sie nicht von sich aus gewollt hätte. Man kann Druck aufsetzen; man kann mit negativen Sanktionen drohen; man kann befehlen; man kann jemanden verführen; man kann argumentativ überzeugen, dass es richtig und wichtig sei, dass jemand nun etwas Bestimmtes tut; man kann mit Belohnung locken usw.

Aber all dies wird in der Regel nicht gemeint, wenn von Motivieren die Rede ist. Speziell auch die Frage des Geldes im Zusammenhang mit Motivation möchte ich hier mal ausklammern. Das wäre ein eigenes Thema.

Wer motiviert ist, will etwas tun, weil er oder sie dafür Motive hat. Motivieren heißt also, jemanden dazu zu bringen, etwas zu wollen – nicht bloß dazu, etwas (auch gegen seinen Willen) zu tun.

Wollen kann man aber nur selber. Ich kann nicht jemanden wollen lassen.

Das Feld, in dem sich jemand beruflich bewegt, die Aufgaben, die jemand darin zu bewältigen hat, der Beruf, den jemand ausübt – all das muss individuell (zumindest übers Ganze gesehen) gewollt sein. Andernfalls soll man lieber etwas anderes suchen. Wer eine Aufgabe aber übernimmt, soll nicht erwarten, dass ihn sein Chef dazu überhaupt erst motiviert. Einen Jagdhund soll man nicht zur Jagd tragen müssen.

Das Problem der Motivation ist also ein Problem der Personalauswahl, nicht der Personalführung. Das heißt: Bevor Sie jemanden anstellen, müssen Sie seine/ihre Motive und damit Motivation prüfen. Nachdem Sie jemanden aber angestellt haben, haben Sie als Führungskraft kein Thema „Moti­vieren“ mehr. Aber Sie haben dann das Thema „Demotivieren“. Und dieses ist ein Problem der Personalführung.

Hier die beliebtesten elf Wege, in der Personalführung Mitarbeitende zu ­demotivieren:

  • Mangel an Anerkennung. Wer nie Lob erhält, kaum ein Danke hört, nie mit einem Gut quittiert wird und keine Wertschätzung erfährt, verliert den Glauben an sich – und damit an seine eigenen Motive. Kurz: Er/sie wird demotiviert.
  • Mangel an Sinn. Vorgesetzte können – aufgrund ihrer „höheren“ Warte – besser sehen, worin der Sinn einer Arbeit besteht. Diesen Sinn müssen sie aber auch deutlich machen. Wer nicht erkennen kann, wo und wie sich seine Arbeit sinnhaft eingliedert, kann sich nicht wirklich dafür engagieren und verliert die Motivation.
  • Mangel an Information. Wer von den Vorgesetzten zu wenig Information erhält, kann seine Arbeit weder effektiv noch effizient machen. Das verhindert Stolz auf die eigene Leistung und demotiviert auf Dauer.
  • Mangel an Gehör. Wenn die Vorgesetzten die Probleme und halt auch den vielleicht kleinen Kummer und die Nöte der Mitarbeitenden nicht hören wollen oder als unwichtig abtun, dann nehmen sie ihre Mitarbeitenden als Menschen nicht ernst. Was könnte demotivierender sein?
  • Mangel an Ressourcen. Wer ohne erkennbare und nachvollziehbare Gründe seine Arbeit mit suboptimaler Mittelausstattung machen muss, wird um seinen Erfolg gebracht oder zumindest unnötig behindert. So etwas nervt nicht nur, es demotiviert.
  • Mangel an Autonomie. Wer zwar Aufgaben erhält und für die Zielerreichung verantwortlich gemacht wird, aber nicht auch die dafür erforderlichen Entscheidungskompetenzen erhält – und wer ständig und bei allem kontrolliert wird, der verliert Lust, Mut und Motivation.
  • Mangel an Gerechtigkeit. Vorgesetzte treffen Entscheide, und diese haben nicht für alle Betroffenen die gleichen Konsequenzen. Wer sich mehrmals gegenüber anderen benachteiligt und ungerecht behandelt fühlt, dessen Motivation wird auf Dauer schwinden.
  • Mangel an Zuwendung. Es mag der modernen, aufgeklärten Berufswelt als altmodisch erscheinen: Aber noch immer möchten Menschen in der Arbeit nicht nur funktionieren, sondern insbesondere von ihren Vorgesetzten Aufmerksamkeit und menschliche Zuwendung erhalten. Nicht bloß einen Bonus. Wer sich nicht für seine Mitarbeitenden als Menschen interessiert, wird ihre Motivation ersticken.
  • Mangel an Anstand. Zu meinen, in der Hierarchie gälten die Anstandsregeln von „oben“ nach „unten“ nicht oder zumindest nicht unbedingt, der irrt. Und er zerstört Motivation – sehr schnell, denn hier gibt es nie einen Grund für Verständnis. Denn ohne Anstand wird der Respekt vor der Person verletzt. Das ist unverzeihlich.
  • Mangel an Empathie. Wenn Vorgesetzte kein Gespür dafür haben, dass die Welt aus den Augen ihrer Mitarbeitenden womöglich (und zwar zu Recht!) anders aussieht als von der buchstäblich höheren Warte des Vorgesetzten aus, der kann Menschen weder gewinnen noch überzeugen, er kann letztlich nur demotivieren.
  • Mangel an Kommunikation. Ich weiß, dieses Lied kennen Sie schon zur Genüge …

De-Motivation ist also ein Mangelthema. Prüfen Sie daher, wenn Ihnen Mitarbeitende als zu wenig motiviert erscheinen, woran es ihnen mangelt. Und sorgen Sie dann für Abhilfe. Bei Ihrem Auto machen Sie das ja auch. Oder fahren Sie damit – etwa, weil Sie keine Zeit zum Tanken haben – auch dann weiter, wenn das Benzin alle ist?

Ich weiß sehr wohl, dass es gerade die Mitarbeitenden sind, die behaupten, sie ließen sich durchaus motivieren. Ich glaube es ihnen sogar – denn so hätten sie es gerne. Aber ich akzeptiere es nicht. Denn es ist ihr Eintrittsbillet in ihre Arbeit, dafür auch motiviert zu sein. Zumindest solange sie ihr Chef – das sind Sie! – davon nicht abbringt.

Führungsbrief 16 – Offen und ehrlich

Wo immer ich mit Führungskräften arbeite – und das tue ich seit über dreißig Jahren fast ununterbrochen – gibt es etwas, was sich durchs Band wiederholt (und vielleicht als Einziges in dieser langen Zeit nicht durch neue Moden abgelöst wurde). Sobald man darüber spricht, wie denn der Umgang unter­einander und die Kommunikation zwischen den Beteiligten sein sollen, sagt der Erste „offen und ehrlich“ – alle nicken, und keiner widerspricht.

Außer mir. Ich muss es Ihnen, liebe Führungskräfte, offen und ehrlich sagen: Die Forderung nach offenem und ehrlichem Umgang ist unredlich. Denn sie kaschiert, dass es in aller Regel um etwas ganz anderes geht:

  • Vielfach geht es darum, eine (vielleicht zwar unabsichtlich begangene) Taktlosigkeit unter dem Deckmantel von Offenheit und Ehrlichkeit zu rechtfertigen. Wenn ich jemandem sage: „Das ist ja furchtbar, wie Sie stottern“, dann ist das möglicherweise offen und ehrlich – vor allem ist es aber ungeheuer taktlos.
  • Oder es geht darum, den anderen unausgesprochen in die Pflicht zu nehmen, alles zu glauben, was man ihm sagt. Schließlich wurden ja Offenheit und Ehrlichkeit vereinbart. Angesichts der bekannten grundsätzlichen Schwierigkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation ist dies eine Zumutung. Denn noch nicht einmal ich selber weiß immer mit Gewissheit, ob ich alles, was ich gesagt habe, auch genau so meine. Überdies tut es allen Beteiligten besser, wenn Kommunikation kritisch und wohlwollend erfolgt, also nicht alles für bare Münze nimmt.
  • Vielleicht geht es auch darum, den anderen moralisch zu drängen, seine Karten offenzulegen. Hosen runter! Das ist Nötigung. Woher nehme ich mir das Recht, genau zu wissen, was der andere denkt oder was ihn bewegt?
  • Manchmal würde es überdies an Dummheit grenzen, offen und ehrlich alles zu sagen. Etwa dann, wenn man über Kündigung(en) erst nachdenkt, sich aber noch nicht sicher ist.

Taktlosigkeit, Zumutung, Nötigung und Dummheit: Nicht gerade die ideale Rezeptur für sorgsamen Umgang und gelingende Kommunikation!

Vielleicht müssen wir jedoch etwas nachsichtiger sein und davon ausgehen, dass die Forderung nach „Offenheit und Ehrlichkeit“ nur die hilflose Umschreibung für „Behandle mich bitte anständig!” ist. Respekt und Achtung – das wäre dann das eigentlich Gemeinte. Aber das traut man sich wohl häufig nicht für sich einzufordern.

Oder aber man meint mit „offen und ehrlich“ eigentlich Aufrichtigkeit. Aber dann wird es noch schwieriger, denn: Aufrichtigkeit ist das Einzige, was man nicht kommunizieren kann. Bitte merken Sie sich dies! Natürlich kann man aufrichtig kommunizieren, aber man kann nicht sagen, dass man dies tut. Wenn ich jemanden sagen höre „Ich sage Ihnen jetzt mal ganz ehrlich …“, dann schleicht sich die Überlegung in meinen Kopf: „Also hat er mich bis jetzt belogen?“

Selbstredend kann die Konsequenz aus all den genannten Bedenken nicht heißen, nicht offen respektive nicht ehrlich zu sein:

  • Die Forderung nach Offenheit sollten wir abändern und stattdessen fordern, Kommunikation müsse anschlussfähig sein. Das bedeutet, dass ich immer so kommuniziere, dass der andere auch kommunizieren kann. Dass die Kommunikation durch meine Kommunika­tion nicht abgebrochen wird, sondern – im Prinzip! – fortgesetzt werden kann. Natürlich kann man auch mal eine unfruchtbare Diskussion abbrechen – aber eben nicht die Basis der Kommunikation. Statt offen im Sinne von „alles sagen“ gälte dann eben „offen für eine Fortsetzung unserer Kommunikation“. Das meint anschlussfähig. Respekt und Achtung sind dafür sicherlich gute Zutaten.
  • Die Forderung nach Ehrlichkeit sollten wir nicht auf Wahrheit beziehen, sondern auf ­einen anderen Teil, der ebenfalls in dem Wort steckt: nämlich ehrenhaft. So wie man früher von einem Ehrenmann sprach, so sollte Kommunikation sein. Sie sollte mit der eigenen Ehre und der Ehre des anderen vereinbar sein. Das meint ehrenhaft. Ohne Respekt und Achtung ist das nicht zu haben.

Mit beiden Forderungen – in der Kommunikation anschlussfähig und ehrenhaft zu sein – ist verträglich, was nämlich in jeder Kommunikation auch vorkommt: ein Stück Mikropolitik. Das Spiel, das man spielen muss, um jemanden für sich einzunehmen, zu überzeugen, zu gewinnen, vielleicht gar zu verführen usw. Dies ist – solange es anschlussfähig und ehrenhaft geschieht – keineswegs unanständig. Es ist vielmehr Teil jeder menschlichen Kommunikation. Und es verletzt weder Respekt noch Achtung.

Eine gute Mikropolitik umfasst den kunstvollen Einsatz von Elementen wie:

  • Charme
  • List
  • entwaffnender Humor
  • diplomatisches Abfedern schlechter Nachrichten
  • dosierter und gezielter Einsatz von Informationen
  • sich so in den anderen hineindenken, dass man aus seiner Logik heraus argumentieren kann

Keinen Platz aber hat unter den Titeln „anschlussfähig“ und „ehrenhaft“ eine Mikropolitik, die …

… Machtverhältnisse egoistisch ausnutzt

… andere über den Tisch zieht

… bewusst mit Unwahrheiten arbeitet

… auf Hinterlist basiert

… andere verletzt und/oder sie ihr Gesicht verlieren lässt

… kurzum: eine Mikropolitik, die andere Menschen weder respektiert noch achtet

Zwar gilt auch hier der Grundsatz: „Wie man in den Wald ruft, so tönt es zurück.“ Aber dennoch können Sie – auch wenn Sie selber um anschlussfähige und ehrenhafte Kommunikation bemüht sind – keineswegs garantieren, dass dies andere auch tun. Auch nicht bei Ihren Mitarbeitenden.

Aber dennoch liegt es immer an Ihnen, den ersten Schritt zu tun. Warten auf den anderen zählt nicht. Das sage ich Ihnen ganz offen und ehrlich ...

Führungsbrief 15 – lechts und rinks

Aus dem Mathematikunterricht sind wir uns alle gewohnt, dass in der Arithmetik jeweils etwas gegeben ist, das man auf die linke Seite schreibt, dann malt man ein Gleichheitszeichen, und dann geht es darum herauszufinden, was denn rechts als Resultat hingehört. Und was wir schließlich rechts hinschreiben, kann richtig oder falsch sein – je nachdem, was links gegeben war.

Aus der Psychologie wissen wir, dass wir Menschen häufig gerade andersrum funktionieren. Wir wissen ganz genau, was „rechts“ rauskommen muss, und wir verwenden unsere ganze Intelligenz darauf, „links“ das Passende dazu zu erfinden, so dass wir nachher sagen können: Weil eben das und das und dies, deshalb muss ich … Ob ich nun einfach gerne den neuesten PC hätte und mir dann alle guten Gründe dafür zurecht lege (bis ich sie selber glaube), oder ob ich einen miserablen Film mit meinem Lieblingsschauspieler gut finde, weil ich einfach will, dass seine Filme gut sind – das sind alles recht harmlose Folgen des Verwechselns von „links“ und „rechts“.

Deutlich weniger harmlos ist die Sache, wenn es um die Beurteilung von Menschen geht. Sehe ich bei jemandem nur noch kritische Verhaltensweisen, weil ich eine schlechte Meinung von ihm habe und mich darin nicht beirren lassen will? Erscheint mir jemand als besonders gut, weil er tatsächlich Leistung erbringt – oder halte ich sein Tun unbesehen für Leistung, einfach weil ich ihn gut finde?

Im Falle von Ihnen stellt sich die Frage: Sind Führungskräfte Arithmetiker oder Menschen? Funktionieren sie nach den Gesetzen der Mathematik oder nach jenen der Psychologie?

Vermutlich beides. Vermutlich sogar manchmal beides zur gleichen Zeit. Denn viele von Ihnen sind intelligent (und nicht selten auch eloquent) genug, dass sich die nachträgliche Rechtfertigung eines reinen Bauchentscheids unge­heuer logisch und plausibel anhört. So logisch gar, dass die entsprechende Führungskraft selber glaubt, sie hätte von links nach rechts gerechnet.

Nun, damit wir uns recht verstehen: Ich habe gar nichts gegen Bauchentscheide. Ich habe nur etwas dagegen, dass man Bauchentscheide mit Scheinargumenten legitimiert. Bauchentscheide entstehen nämlich nicht im Bauch (wer hätte das gedacht!). Sie gedeihen ebenso in unserem Gehirn wie all unsere Kopfentscheide. Aber sie entstehen in jenem Bereich, der uns selber nicht (oder nur teilweise) bewusst ist. Und dieser Bereich ist unglaublich viel größer als der unseres bewussten Denkens.

In Wahrheit hat unser Gehirn bei sogenannten Bauchentscheiden also schon von links nach rechts gerechnet, aber es hat uns nur das Resultat auf der rechten Seite bewusst werden lassen. Das Preisrätsel lautet nun also: Was stand wirklich auf der linken Seite?

Lösen lässt sich dieses Rätsel nicht einfach damit, dass man an seine eigene Ehrlichkeit appelliert: „Nun mal ganz ehrlich, was war es wirklich?“ Das reicht nicht. Vielmehr müssen wir kontinuierlich daran arbeiten und lernen, auf unser Inneres zu hören und uns diesbezüglich nichts vorzumachen.

Wie kann das gehen? Das sind die fünf goldenen Regeln:

  • Stelle dir mindestens immer die Frage nach deinen wirklichen Motiven!
  • Suche dabei vor allem nach emotionalen, nicht nach sachlichen Motiven!
  • Trau einem so gefundenen „niederen“ Motiv immer mehr als einem edlen!
  • Prüfe, was dich am meisten stören würde, wenn „rechts“ etwas ganz anderes rauskäme!
  • Frage dich, was du jemandem unterstellen würdest, der vordergründig gleich wie du argumentiert, dem du aber nicht ohne Weiteres vertraust!

Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Warum soll man sich die Mühe überhaupt machen?

Das Problem liegt – wieder einmal! – in der Kommunikation. Wenn jemand zu uns spricht, nehmen wir nämlich überhaupt nicht nur die geäußerten Worte wahr, sondern wir hören/sehen/spüren/lesen enorm viel mehr. Nicht selten „wissen“ wir sogar mehr als der, der sich äußert! Damit ist die Chance groß, dass wir ganz genau realisieren, wenn er uns links von seinem Gleichheitszeichen etwas vormachen will, das gar nicht stimmt. Und dann verliert er seine Glaubwürdigkeit.

Und eine verlorene Glaubwürdigkeit schlägt sich dummerweise dann auch auf die rechte Seite des Gleichheitszeichens nieder: Wir glauben dann nicht mehr an seinen Entscheid.

Schlauer wäre also gewesen, zu sagen, dass man im Bauch spüre, dass XY der richtige Entscheid sei – aber man könne selber nicht so genau sagen, warum.

Klüger wiederum wäre es gewesen, sich zuerst so lange selber zu prüfen, bis man auf seine wahren Motive stößt. Vielleicht sogar im offenen Gespräch mit anders Denkenden.

Weiser aber wäre es, sich bei all seinen Überzeugungen immer bewusst zu sein, dass (auch) in der menschlichen Psyche rechts und links gelegentlich durcheinandergeraten. Und nicht nur bei den anderen. – Das wird Sie offen machen, und bescheiden.

Vom österreichischen Lyriker Ernst Jandl stammen die schönen Zeilen:

lichtung
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum!

Führungsbrief 14 – Unternehmenskultur

Jedes Unternehmen hat seine Unternehmenskultur. Fragt sich nur, welche. ­Unternehmenskultur ist für sich genommen also weder gut noch schlecht, sondern ein Charakteristikum jedes Unternehmens. Man kann auch bei Organisationen von einer Organisationskultur, bei Abteilungen von einer Abteilungskultur usw. sprechen. Ich verwende im Folgenden für all das nur den Begriff Unternehmenskultur – es ist Ihnen überlassen, Anwendungen auf Bereiche im Unternehmen selber zu übertragen.

Unternehmenskultur ist die Summe aller Selbstverständlichkeiten in einem Unternehmen.

Alles, was für die Mitglieder eines Unternehmens so selbstverständlich ist, dass es jede/r weiß und man es gar nicht mehr gesondert erwähnen muss, das prägt seine Kultur. Viele dieser Dinge hat nie jemand „beschlossen“ oder „angeordnet“ – sie sind vielmehr im Laufe der Zeit einfach selbstverständlich geworden respektive zur Selbstverständlichkeit „geronnen“. Man könnte auch sagen, sie haben sich ausgeprägt wie Trampelpfade: Nachdem immer mehr Leute einen bestimmten Weg eingeschlagen haben, zeigt sich der so entstandene Trampelpfad für andere als schon fast einzig möglicher Weg.

Wenn eine Unternehmenskultur auf diese Weise die „richtigen“ Dinge als selbstverständlich erscheinen lässt, so ist das natürlich eine wunderbare Sache. Wenn aber nicht, so kann es ziemlich mühsam werden, wenn man bei einem ungewünschten Trampelpfad wieder Rasen ansäen und gedeihen und die Menschen einen anderen Weg gehen lassen will.

Beispielsweise kann es in einer Unternehmenskultur selbstverständlich sein, dass man Informationen austauscht, dass man kooperiert, dass man Leistung anerkennt und honoriert. Oder aber es ist eben selbstverständlich, dass jeder sein Wissen für sich behält, dass man sich mehr gegen andere interne Abteilungen als gegen externe Konkurrenten abgrenzt, dass man dann als schlau gilt, wenn man möglichst viel vom Unternehmen profitieren kann und möglichst wenig tun muss.

Mit dem Wesen von Unternehmenskulturen sind also durchaus problematische Seiten verknüpft:

  • Denn es können natürlich ebenso schlechte wie auch gute Selbstverständlichkeiten entstehen.
  • Und es lässt sich nicht einfach beschließen/planen/steuern, was man für eine Kultur will.
  • Ebenfalls lässt sich manchmal nur schwer korrigieren, was einmal zur kollektiven Selbstverständlichkeit geronnen ist.
  • Schließlich wird jede Auseinandersetzung mit der eigenen Unternehmenskultur dadurch erschwert, dass man kaum noch sehen kann, was für einen völlig selbstverständlich ist – gerade hier liegt nämlich unser blinder Fleck.

Trotz dieser Widrigkeiten aber lohnt es sich, auf die Wirkung von Unternehmenskultur zu setzen. Denn wenn es gelingt, all das zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, was man sonst mühsam anordnen/verlangen/kontrollieren müsste, dann hat man das Unternehmen unglaublich gestärkt.

Wie kann man das erreichen? Wie gewinnen wir die richtige Unternehmenskultur?

Das ist ganz einfach: Es ist wie beim englischen Rasen. Man erhält ihn, indem man täglich zweimal gießt und einmal mäht. Und das während ungefähr hundert Jahren.

Ganz so einfach ist es also doch nicht. Denn Kulturen kann man eben nicht machen, sondern bestenfalls kultivieren. Also sorgsam pflegen.

Bevor Sie damit loslegen können, haben Sie drei Fragen zu klären:

  1. Was wollen Sie erreichen in Sachen Unternehmenskultur? Was sollen also die künftigen Selbstverständlichkeiten sein? (Das ist die Art des Rasens, die Sie anstreben.)
  2. Was trägt dazu bei, diese Selbstverständlichkeiten kollektiv zu fördern und andere zu verhindern? (Was heißt bei Ihnen also gießen und mähen?)
  3. Wie erreichen Sie die Konsequenz, die erst den Erfolg bringt? (Täglich, während 100 Jahren.)

Das Erste scheint leicht zu sein, aber das täuscht. Denn oft macht man sich hier etwas vor und wünscht sich Dinge, die gar nicht zum eigenen Unternehmen passen. Beispielsweise, wenn jeder Mitarbeiter Unternehmer sein sollte, aber keiner eine Aufgabe hat, bei der man etwas „unternehmen“ kann. Hier gilt es also, redlich mit sich selber zu sein.

Das Zweite kann nur so gut gelöst werden, wie das erste schon gelöst ist. Wenn Sie sich statt für einen englischen Rasen für eine Naturwiese entschieden haben, dann dürfte tägliches Mähen nicht ganz das Richtige sein. Aber ich glaube, dass ein Führungsteam, das die erste Frage seriös und wohldurchdacht beantwortet hat, auf die zweite Frage Antworten findet.

Das Dritte ist das Leidigste. Denn es erfordert Disziplin. Jeden Tag und in allen Facetten von Führung! Stellen Sie sich das vor! Und keine Ausnahmen, bitte. Denn Gründe dafür, es heute auch mal sein zu lassen, weil etwas anderes gerade wichtiger oder bequemer ist, gibt es immer. Also hilft nur bedingungslose Disziplin.
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wörtlich ich das meine. Lernen Sie aus diesem Beispiel:

Als die Firma DuPont 1880 ins Geschäft mit der Dynamitproduktion einstieg, verlangte man von den Werksleitern, dass sie mit ihrer Familie mitten auf dem Werksgelände wohnten. Logisch, dass diese Werksleiter nicht riskieren wollten, dass rund um ihr Heim und ihre Familie die Fabrik in die Luft fliegt, weil irgendeiner unachtsam bei der Herstellung des Dynamits war. Daraus ist eine so bedingungslose Sicherheitskultur entstanden, dass noch heute – über 100 Jahre später – in den Nachfolgeunternehmen der damaligen Firma Sicherheit ganz, ganz groß geschrieben und absolut selbstverständlich gelebt wird. In einem Maß sogar, das andere Unternehmen kaum für möglich halten würden. Wenn man weiß, was man kulturell will, und man es wirklich will und dann auch konsequent durchzieht – dann klappt es also offenbar.

Auch wenn Sie selber nicht in der Position sind, dass Sie Ihre Soll-Unternehmenskultur definieren können, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, Trampelpfade zu nutzen, zu meiden oder neu anzufangen – je nachdem, welche Unternehmenskultur Sie sich wünschen würden. Und Sie können Ihre Mitarbeitenden auch dazu anhalten – sei es durch Ihr Vorbild oder durch gezielte Maßnahmen.

Aber seien Sie sich bewusst: Sie sind immer ein Vorbild. Wenn nicht ein gutes, dann eben ein schlechtes. Sie haben die Wahl. Fragen Sie sich, was für Sie selbstverständlich ist und was nicht. Und ob es für eine Unternehmenskultur steht, die Sie Ihrem ganzen Unternehmen wünschen würden.

Denn eine Unternehmenskultur, die man sich nur von den anderen wünscht, die man aber nicht selber lebt, ist vielleicht ein schöner Traum – aber das bleibt sie halt auch.
Wichtig ist in Sachen Unternehmenskultur ausschließlich das Tun. Alles Reden, das sich nicht mit dem Tun deckt, ist nicht bloß sinnlos, sondern kontra­produktiv, denn es straft den Redner Lügen und untergräbt so seine ganze Autorität.

Führungsbrief 13 – Selbstbewusstsein

Warum sollen sich andere von Ihnen führen lassen? Was schätzt man an Ihnen? Was verschafft Ihnen Respekt? Was macht Sie glaubwürdig? – Ich kann es nicht wissen. Aber Sie sollten etwas auf solche Fragen antworten können. Denn so viel Selbstbewusstsein müssen Sie haben!

Ich glaube, dass für Sie ein gesundes Selbstbewusstsein ganz einfach nötig ist, um sich in eine Position als Führungskraft stellen zu lassen, in der Sie ja schließlich …

  • gegenüber anderen Menschen hierarchisch ausgezeichnet werden.
  • darauf angewiesen sind, dass andere sich nach Ihnen ausrichten.
  • Ihren Führungsanspruch dadurch unterstreichen müssen, dass Sie auch mal „ich will“ sagen.
  • unter spezieller Beobachtung von unten, von oben und von Gleichgestellten stehen.
  • nicht selten vielleicht auch ein wenig einsam sind.

Ein gesundes Selbstbewusstsein von Vorgesetzten ist der Effektivität einer Organisation durchaus zuträglich, da das damit häufig verbundene dramaturgische Geschick, die Zuversicht und Zielgerichtetheit einer solchen Führungskraft ansteckend auf die Mitarbeitenden wirken können. Freilich ist damit noch nichts darüber ausgesagt, wie viel Selbstbewusstsein man denn haben dürfe oder gar müsse, um als Führungskraft zu bestehen. Sicher ist hilfreich, wenn man sich selber akzeptiert, sich im Großen und Ganzen gut findet, sich selber auch mag und glaubt, überzeugend zu wirken. Denn wenn man es schon selber nicht tut – wie könnte man denn dann erwarten, dass andere, vor allem die Mitarbeitenden, einen akzeptieren könnten, insgesamt gut fänden, persönlich mögen täten und als überzeugend erlebten?

Zuviel davon ist aber auch hier ungesund. Ein übersteigertes Selbstbewusstsein nennt man Narzissmus. Narzissten sind Menschen, die besonderen Wert darauf legen, vor anderen als überlegen, großartig und unerreichbar dazustehen. Sie reden fast ausschließlich von sich, ihren Ideen und Erfolgen. Dagegen bringen sie dem, was andere zu berichten haben, wenig Interesse oder sogar offene Geringschätzung entgegen. So wirken sie meist arrogant, überheblich oder eingebildet.

Narzissmus ist eine Form der übertriebenen Selbstliebe, die gerade auf einem ungenügenden Selbstwertgefühl beruht. Narzissten sind sich ihrer selbst nicht sicher und können deshalb auch nicht offen, freundlich, aufgeschlossen, nachsichtig und hilfreich sein. Die anderen werden nicht nur als potenzielle Konkurrenten, sondern auch als Bedrohung empfunden, die die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen bloßstellen könnten. Schon in kleinerer Ausprägung können solche narzisstischen Persönlichkeitszüge für alle anderen eine ziemlich anstrengende Sache werden. Denn narzisstische Persönlichkeiten sind beim kleinsten Anlass gekränkt. Sie beziehen alle Ereignisse auf sich. Das macht jede Form der Beziehungsgestaltung schwierig. Unerträglich ist vor allem ihre Unfähigkeit, Kritik zu ertragen, wobei sie gleichzeitig ein Klima der Unterwürfigkeit schaffen.

Mit Narzissmus hat ein gesundes Selbstbewusstsein also nichts zu tun. Worin aber besteht es dann? Gesundes Selbstbewusstsein ist zunächst ein Selbst-Bewusstsein. Also ein Bewusst-sein seiner selbst. Wo liegen meine Stärken, wo liegen meine Schwächen? Welche guten und vielleicht auch weniger guten Muster leiten mein Handeln immer wieder? Wie wirke ich auf andere? Was ist das implizite Selbstverständnis meiner Führungstätigkeit, das „heimliche Drehbuch“, das sich im Laufe der Jahre aufgrund all meiner Erfahrungen in mir verfestigt hat?

Diese Art von Selbst-Bewusstsein ist nicht einfach eine Einstellungssache: Ja, ja, ich bin mir schon im Klaren über mich selbst. Das wäre zu einfach. Selbst-Bewusstsein zu erlangen, ist Knochenarbeit. Das bedeutet Reflexion, Auseinandersetzung mit Kritik, Sensibilität bezüglich seiner Wirkungen, Lernen aus Fehlern, Eingeständnis von Schwächen und Scheitern usw.

Was aber in Aussicht steht als Lohn für diese Anstrengung, ist eben ein gesundes Selbstbewusstsein. Ein Wissen um das, was man kann und leistet. (Das heißt übrigens auch: Ein Wissen um diejenigen, die einem dabei geholfen haben und noch immer helfen.) Ein Wissen darum, was man will und warum.

Wer sich selber so gut kennt, weiß, wofür er Respekt verdient; und er wird diesen Respekt auch finden. Und es wird ihm leichtfallen, auch andere Menschen zu respektieren – ohne auf „Ich-bin-besser-als-du“ machen zu müssen.

Was ein gesundes Selbstbewusstsein wohl immer auch auszeichnet, ist ein gewisser Humor und eine Prise Ironie sich selber gegenüber. Ironie hat etwas Feines, etwas Warmes an sich. Sie ist nie­mals zynisch oder verbittert. Ironie braucht Ge­lassenheit, schätzt Mündigkeit. Ironie heißt keines­wegs, sich (oder an­de­re) und das Leben nicht ernst zu nehmen. Iro­niker sind freilich keine Wichtignehmer (ein bisschen Wichtigtuer vielleicht manchmal schon).

Das englische Wort für Selbstbewusstsein, „aplomb“, zeigt uns übrigens noch etwas: Aplomb (vom lateinischen plumbum, Blei, Senkblei, im Französischen d’aplomb, senkrecht) ist ein prägnanter Ausdruck für eine gerade, sichere Haltung, ein sicheres Auftreten, Nachdrücklichkeit in der Rede, Gelassenheit bis hin zu einem Mut, der vielleicht auch mal an Chuzpe grenzt – also all das, was wir schon einmal in einem Führungsbrief mit dem schweizerdeutschen „Aaneschtoh“ forderten.

Was tun, um sein Selbstbewusstsein zu stärken?

  • Durchleuchten Sie Ihr Berufsleben als Führungskraft, um sich selber besser kennenzulernen. Wann sind/waren Sie besonders erfolgreich? Warum? Welche Muster erkennen Sie?
  • Organisieren Sie sich so, dass Sie Erfolgserlebnisse haben können – auch kleine.
  • Setzen Sie Ihre Maßstäbe so realistisch, dass Sie sie überhaupt erfüllen können, aber dennoch so hoch, dass es für Sie ein gutes Gefühl ist, wenn Sie es schaffen.
  • Nehmen Sie sich nicht allzu ernst. Nehmen Sie sich niemals für wichtiger als andere – aber nehmen Sie sich als den einzigen Menschen, über den Sie immer lachen dürfen.
  • Akzeptieren Sie auch Fehler und Zweifel mit Selbstbewusstsein. Aber lernen Sie daraus.
  • Freuen Sie sich am Selbstbewusstsein anderer.
  • Gehen Sie persönliche Risiken ein: Die Chance zu gewinnen lohnt das Risiko, auch mal reinzufallen.
  • Stärken Sie das Selbstbewusstsein anderer. (Das ist vielleicht der wirksamste Trick überhaupt.)

Sie wären nicht zur Führungskraft berufen worden, wenn es nicht gute Gründe gäbe, an Sie zu glauben. Also seien Sie nicht der Einzige, der das nicht tut.

Führungsbrief 12 – Stress

Eines vorneweg: Stress ist schlecht. Stress macht krank. Punkt. Es gibt keinen „guten“ Stress. Wenn uns etwas fordert, ist das eine Herausforderung, aber noch kein Stress. Arbeit kann müde machen. Auch das ist kein Stress. Viel Arbeit kann uns belasten. Davon müssen und können wir uns erholen. Aber Stress ist etwas anderes.

Stress stellt eine ernste Gefährdung der Gesundheit dar, etwa bezüglich Herz oder Magen, ­weil der Körper unter Stress erhöhte Mengen von so genanntem ACTH (das ist ein adrenocorticotropes Hormon – wow!) ausschüttet, was ihm auf Dauer aber schadet.

Stress entsteht dann, wenn uns die Dinge entgleiten. Wenn wir die Kontrolle über unser Tun verlieren. In aller Regel ist damit der Zwang verbunden, Entscheide zu treffen, wobei die Lage aber so ist, dass wir mit unseren Entscheiden unerwünschte Folgen erzeugen oder nicht vermeiden können.

Natürlich kann so verstandener Stress in der Arbeit auftauchen. Und bei viel Arbeit wird er wahrscheinlicher. Und bei Zeitdruck noch mehr. Aber dennoch ist es nicht die Arbeit oder die Arbeitsmenge oder der Zeitdruck, die Stress ausmachen, sondern der so genannte Kontrollverlust. Das ist eben das Empfinden, dass einem die Dinge entgleiten und/oder dass das eigene Tun unerwünschte Folgen zeitigt, ohne dass man dies verhindern könnte.

Nun geht es hier um Führungsthemen, und so interessiert uns vor allem, was Führungskräfte tun müssen, damit ihre Mitarbeitenden in Stress geraten.

(Falls Sie der Meinung sind, es sei nicht gerade eine vornehmliche Führungsaufgabe, Mitarbeitende unter Stress zu setzen, so bin ich mit Ihnen durchaus einig. Nur sollten Sie dann auch davon absehen, das zu tun, was ich im Folgenden aufliste.) Es dürfte unschwer einleuchten, dass die folgenden Dinge umso mehr Stress produzieren, je häufiger sie vorkommen und je mehr von ihnen gleichzeitig vorkommen.

Also: Stress wird begünstigt, wenn …

  • Mitarbeitende unklare Ziele erhalten.
  • mehrere gesetzte Ziele widersprüchlich sind, so dass sie nicht gleichzeitig erreicht und auch nicht priorisiert werden können.
  • die zur Verfügung gestellten Ressourcen (Zeit, Geld, Personal, Infrastruktur, Information etc.) nicht gestatten, die Ziele zu erreichen.
  • Mitarbeitende sich ungleich und vor allem ungerecht behandelt fühlen
  • Menschen sich eher abwertenden als wertschätzenden Feedbacks gegenübersehen.
  • all das Vorstehende verstärkt wird durch hierarchischen Druck (bezüglich Leistungs- und terminlichen Vorgaben) oder auch durch moralischen Druck, etwa aus einem Kollektiv.

Sicherlich wird diese Art von Stress begünstigendem Führungsverhalten nicht selten deshalb praktiziert, weil die Führungskraft damit versucht, ihrem eigenen Stress zu entgehen. Damit kommt ein Mechanismus in Gang, den kaum je eine/r der Betroffenen aus eigener Kraft durchbrechen kann.

In der obigen Liste versteckt, aber leicht zu erkennen, sind die wichtigsten führungsmäßigen „Rezepte“ zur Reduktion von Stress bei den Mitarbeitenden. Nicht enthalten ist aber, wie man sich als selber Betroffene/r dagegen wehren kann.

Angesichts der definitionsgemäß negativen Bewertung von Stress mutet es umso befremdlicher an, dass heute Stress für viele Menschen – und wohl besonders für Führungskräfte – zu einem eigentlichen Statussymbol geworden ist. Offenbar halten es viele für ein Zeichen der eigenen Bedeutung, wenn sie unter Stress stehen.

Das ist ziemlich dumm.

Glücklicherweise aber können wir auch davon ausgehen, dass viel von dem, was aus Statusgründen als Stress gezählt wird, gar keiner ist – sondern lediglich etwa Zeitdruck oder viel Arbeit – oder schlicht viel Lärm um nichts.

Unglücklicherweise aber wird wohl vieles, was nicht Stress sein müsste, dennoch zu Stress, weil man es so empfindet und/oder weil man – um zu beweisen, wie sehr man unter Stress steht – noch nicht mal das ändert, was man ändern könnte (z.B. Aufgaben delegieren oder sein lassen; Prioritäten setzen usw.).

Und das führt uns zu einem heiklen Thema: Es gibt Menschen, die schätzen an einem Problem (z.B. Stress) so sehr das Recht, sich zu beklagen und Mitleid zu verlangen, dass sie lieber mit dem Problem leben als an seiner Lösung zu arbeiten. Und nicht viele erlauben sich eine ehrliche Antwort auf die Frage: Bin ich Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Dummerweise ist dieser Mechanismus psychologisch so gestrickt, dass er nur wirkt, wenn man ihn sich nicht eingesteht. Das bedeutet, dass Sie das angesprochene heikle Thema vielleicht noch bei Ihrem Chef oder Ihren Kollegen oder Ihren Mitarbeitenden erkennen – aber sicherlich nicht bei Ihnen selbst. Aber das heißt leider noch lange nicht, dass nicht auch Sie manche Probleme eher lieben als lösen wollen.

Lassen Sie sich von einem Ihnen wohlgesonnenen Menschen einen Spiegel vorhalten – und zwar nicht generell (keiner liebt all seine Probleme!), sondern bezogen auf jene Probleme, die Ihren Stress auslösen.

Oder aber Sie machen es besonders geschickt und lernen zu klagen, ohne zu leiden.

Vorausgesetzt aber, Sie wollen wirklich Ihren eigenen Stress abbauen, dann helfen letztlich nur die klassischen Dinge: Planung, Arbeitstechnik, Prioritätensetzung, Delegieren. Das Ziel dabei muss heißen: Wieder die Kontrolle über die Dinge zu kriegen, statt sich von ihnen kontrollieren zu lassen. Und besonders hilfreich gegen Stress ist soziale Unterstützung – sei es durch Vorgesetzte, Kollegen oder Mitarbeitende. Oder durch private Bezugspersonen. Oder auch mal durch einen Coach.

Und wenn Sie nun sagen: Das wüsste ich ja eigentlich alles schon, aber es will mir eben einfach nicht gelingen – dann bitte gehen Sie in diesem Text nochmals zurück an die Stelle, wo von einem heiklen Thema die Rede war, und seien Sie ausnahmsweise ganz ehrlich mit sich selbst.

Führungsbrief 11 – Nichtunterstellte führen

Wie eigentlich führt man in Situationen, wo einem die Geführten hierarchisch gar nicht unterstellt sind? Dies ist typisch für Matrixorganisationen in Projekten. Oder bei Kooperationen mit Gleichgestellten. Oder gegenüber Mitarbeitenden von gleichgestellten Führungskräften.

Mir scheint, genau gleich wie sonst auch. Nur dass man ohne den Fallschirm „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“ auskommen muss. Man könnte gar sagen: Führung ohne hier­archi­sche Befugnis ist die Königsdisziplin des Führens. Denn da zeigt sich wirklich, ob jemand das Zeug hat, um „Führung als Beziehungsgestaltung“ bewusst und gezielt leben und praktizieren zu können. Beispielsweise:

  • Ziele vereinbaren: Anderen klar machen und/oder gemeinsam mit ihnen klären, worum es geht.
  • Ressourcen bereitstellen: Personal, Finanzen, Infrastruktur, Informationen, Zeit.
  • Effizienz steigern: Planung, Reporting, Prioritäten, Arbeitstechnik.
  • Kommunizieren: Informieren, diskutieren, Feedback geben, Feedback holen.
  • Konflikte anpacken: Zielkonflikte ebenso wie zwischenmenschliche Konflikte.
  • Entscheiden: Befugnisse und Verantwortungsbereiche klären und ausschöpfen.

All dies ist leichter gesagt als getan. Es dürfte dort vergleichsweise einfach sein, wo die Beteiligten in einer guten persönlichen Beziehung zueinander stehen, gleiche oder zumindest kompatible Interessen haben und einander fachlich respektieren.

Sicherlich gibt es einen Kreislauf, der sich selber verstärkt: Je besser das oben stichwortartig skizzierte Führungs-„Handwerk“ beherrscht und gelebt wird, desto besser werden die Beziehungen sein, desto leichter können Interessenkonflikte gehandhabt werden und desto größer ist der gegenseitige Respekt. Und umgekehrt.

Also sollten wir uns dem Fall zuwenden, wo die Dinge – warum auch immer – nicht besonders gut laufen. Was kann man dann als Führungskraft tun – wie gesagt, ohne die Möglichkeit, den eigenen Willen mittels Hierarchie durchzusetzen? Sicherlich muss man seine Anstrengungen in Sachen Kommunikation verstärken. Damit das aber auch wirklich hilft, muss das dabei verfolgte Ziel das richtige sein: Es geht nicht darum, Auseinandersetzungen zu gewinnen, sondern Menschen.

Hier ist ein wichtiger (aber unangenehmer) Einschub fällig: Meistens leitet sich Kommunikation an der Vorstellung, es gehe darum, recht zu haben. Jemand (genauer: ich) hat die besseren Argumente, und das sollten die anderen endlich kapieren und zugeben. Mit dem Ziel „Menschen gewinnen“ hat der Anspruch, recht zu haben, aber leider ganz und gar nichts zu tun. Im Gegenteil: Nur wer diesen Anspruch loslassen kann, hat eine Chance, Menschen für sich zu gewinnen.

Wie gewinnen Sie Menschen für sich? Die Werkzeugkiste hierfür ist reichlich gefüllt:

  • Üben Sie, die Situation durch die Augen der anderen zu sehen.
  • Respektieren Sie, dass andere Standpunkte notwendigerweise eine andere Perspektive ergeben.
  • Seien Sie authentisch und machen Sie transparent und nachvollziehbar, wo Sie stehen.
  • Bemühen Sie sich um einen guten, fairen Stil und setzen Sie Ihren ganzen Charme ein.
  • Haben Sie Humor. Seien Sie fähig, über sich selber zu lachen. Nicht über andere.
  • Tragen Sie dafür Sorge, dass die anderen nie ihr Gesicht verlieren.
  • Gewährleisten Sie genügend Nähe, so dass Kommunikation erleichtert wird.
  • Hören Sie zu. Hören Sie mehr zu, als dass Sie auf andere einreden.
  • Garantieren Sie, dass Sie Ihre eigenen Hausaufgaben auf jeden Fall gemacht haben.
  • Seien Sie verbindlich und sorgen Sie dafür, dass man sich auf Sie wirklich verlassen kann.
  • Suchen Sie nach tragfähigen Gemeinsamkeiten in Ihrem Interesse und dem der anderen.
  • Gestehen Sie sich und anderen unüberbrückbare Differenzen ein („We agree to disagree“).
  • Versuchen Sie nicht, es allen recht zu machen.
  • Pflegen Sie jene, die Ihnen wohlgesonnen sind.
  • Machen Sie den ersten Schritt. Vor allem bei jenen, die Ihnen nicht wohlgesonnen sind.
  • Nehmen Sie die Dinge nicht so schnell persönlich.
  • Achten Sie auf Ihren Bauch. Respektieren Sie Ihre Gefühle. Setzen Sie auf gute Chemie.
  • Begreifen Sie Konflikte als Chance. Es können auch Win-win-Lösungen gefunden werden.
  • Pflegen und nutzen Sie Ihr persönliches Netzwerk.
  • Fragen Sie sich nicht, was der andere für Sie tut. Fragen Sie sich, was Sie für ihn tun können.
  • Leisten Sie sich den Luxus der unbedingten Höflichkeit.
  • Geben Sie anderen eine Plattform, auf der sie sich profilieren und Erfolg haben können.

Der entscheidende Punkt ist, ob es Ihnen gelingt, eine Beziehung aufzubauen und zu pflegen, in der eine konstruktive Kooperation auf ein gemeinsames Ziel hin möglich ist.

Nicht anders also als bei einer Führung, die auf hierarchischer Ordnung mit Weisungsbefugnis beruht. Denn wenn Sie nur noch dank Letzterer führen können, dann führen

Sie nicht mehr, dann herrschen Sie. Auf Dauer wird das wenig fruchtbar sein.
In hierarchischen Verhältnissen so zu führen, als wären sie nicht hierarchisch, ist wahrscheinlich der bessere Weg als das Umgekehrte.

Übrigens: Gehen Sie doch die oben stehende lange Liste nochmals durch und malen Sie sich den einen oder ein paar wenige Punkte an, die Sie am ehesten nutzen könnten. Und vergessen Sie alle anderen.

Führungsbrief 10 – Details

Bis zu welchem Detail muss eine Führungskraft die Dinge wissen, kennen, beherrschen? Muss der Verwaltungsratspräsident der Großbank wissen, ob mein Konto überzogen ist oder nicht? Wohl kaum. Klar ist, je höher eine Führungskraft angesiedelt ist, desto weniger Details kann sie wissen. Unklar ist, wie viel sie aber wissen muss.

Nichts wissen schätzt man bei Chefs in der Regel nicht. Und nicht jeder Chef, der sozusagen nichts weiß, kann das wie weiland US-Präsident Ronald ­Reagan dadurch kompensieren, dass er seine Führungsrolle einfach schauspielert. Denn wenigstens das muss man können (und RR war da wirklich gut!), und außerdem braucht man dafür jemanden, der das Drehbuch schreibt. So jemanden dürften die meisten von Ihnen nicht haben.

Wenn ich Ihnen nun verrate, wie viel Sie wirklich wissen müssen, dann muss ich Ihnen leider eine etwas dunkle Seite meiner sonst natürlich lupenreinen Seele öffnen: Sie müssen nämlich genau so viel wissen, wie dem Erhalt und der Mehrung Ihrer Macht förderlich ist. Achtung: Ich rede nur von dem, was Sie wissen müssen – nicht vom Problem der Mitarbeiterinformation, bei dem ich mich im Führungsbrief Nr. 8 dagegen ausgesprochen habe, Information als Machtmittel zu missbrauchen!

Wenn ich Ihnen hier also zu mehr Macht (die ja bekanntlich leider korrumpiert) verhelfen will, schulde ich Ihnen schon ein paar Erklärungen:

  • Macht ist nichts, das nur bei den Großen und Mächtigen vorkommt. Macht ist Teil jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Das ist nicht schlimm, das ist eine Tatsache. Schlimm wird es erst, wenn Macht missbraucht wird (und das ist hier nicht das Thema).
  • Macht bedeutet, jemanden im Ungewissen zu lassen. Ich kann über Sie dann Macht ausüben, wenn ich Sie über Dinge im Ungewissen zu lassen vermag, die Sie wissen möchten oder müssten und die Ihnen in Ihrem Tun helfen würden.
  • Wenn ich nun Ihr Chef wäre (keine Sorge, das wird nie geschehen!) und wenn ich meine Macht Ihnen gegenüber stärken wollte, so würde ich dafür sorgen, immer überraschenderweise etwas mehr zu wissen, als Sie erwarten. Das ist das Geheimnis!

Sie sind immer dann in einer guten Position, wenn Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überrascht sind, dass Sie etwas wissen/kennen/beherrschen, das man von Ihnen nicht unbedingt erwartet hätte. Denn das lässt die Mitarbeitenden immer im Ungewissen darüber, was Sie denn vielleicht sonst noch wissen.

Nun ist es Zeit für eine Einschränkung: Wir reden hier immer nur darüber, dass Sie ein überraschendes Mehr wissen sollten. Wir reden nicht davon, dass Sie dieses Mehr wissen wollen sollten! Von Ihren Leuten immer noch überraschenderweise etwas mehr wissen zu wollen, stärkt Ihre Position ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Man wird sich immer darüber ärgern. Man wird Ihnen Detailkrämerei vorwerfen. Man wird Ihnen Mangel an Vertrauen vorwerfen. Man wird Ihnen vorwerfen, nicht die großen Zusammenhänge zu sehen usw.

Freilich ärgern sich Mitarbeitende nicht nur gerne über eine Detailverliebtheit ihrer Chefs. Im Bedarfsfall ärgern sie sich ebenso gerne darüber, dass ihr Chef dieses oder jenes Detail nicht wisse und ja eigentlich überhaupt keine Ahnung habe. Einen Königsweg gibt es also auch hier nicht.

Dennoch: Die Kunst besteht darin, Dinge zu wissen, ohne dass jemand sieht (oder gar darunter leidet), wie man sie sich beschafft! Die überraschenden Details müssen Sie daher in den Unterlagen finden, die Ihnen regulär zugänglich sind. Eine gute Arbeitstechnik bei der Verarbeitung von Information ist dabei unzweifelhaft nützlich. Weiter lohnt es sich, gut zuzuhören. Und schließlich geht es um die Kunst, gute Fragen zu stellen. Gute Fragen signalisieren echtes Interesse, machen klar, dass man den Befragten für kompetent hält, und zeigen, dass man selber seine Hausaufgaben gemacht hat.

Nun ist freilich das Wissen um überraschende Details nur die eine Hälfte von dem, was Ihnen zu einer starken Position verhilft. Die andere Hälfte besteht darin, die Details in ein großes Bild einzubauen und so verständlich machen zu können.

Das wird Ihnen nur gelingen, wenn Sie Ihrerseits eine sehr aktive Informa­tionsbeschaffung bei Ihrem/Ihrer Vorgesetzten betreiben. Wer höher steht, sollte eigentlich weiter sehen. Das müssen Sie sich zunutze machen. Löchern Sie ihn/sie bei jeder Gelegenheit. Und geben Sie dann Ihren so gewonnenen Überblick an Ihre Mitarbeitenden weiter.

Wir können davon ausgehen, dass es nie schadet, wenn Führungskräfte ihr Geschäft à fond kennen. Schädlich werden Fachwissen und Berufserfahrung erst, wenn man sie verwendet, um andere zu bevormunden oder klein zu machen. Im Guten wie im Schlechten: Wissen ist Macht.

Aber wer an „Wissen ist Macht“ denkt, unterstellt meist, dass das interessierende Wissen sich im Handeln niederschlägt. Für die versprochene Erhöhung Ihrer Macht als Führungskraft müssen Sie aber auch lernen, gewisse Dinge zwar zu wissen – dann aber dennoch nicht danach zu handeln. So zum Beispiel, wenn Sie von einem Fehler eines Mitarbeitenden wissen und gleichzeitig wissen, dass sich dieser seines Fehlers sehr wohl bewusst ist. Wenn Sie ihm dann seinen Fehler nicht unter die Nase halten – obwohl er weiß, dass Sie darum wissen –, dann stärken Sie Ihre Position mitunter mehr, als wenn Sie fünf niemals gerade sein lassen.

Und ein letzter Punkt: Wenn Wissen Macht bedeutet, heißt dann Nicht-Wissen Ohnmacht? Nicht unbedingt. Wenn Sie die Größe haben zuzugeben, dass Sie etwas nicht gewusst haben, wenn Sie zu Fehlern und Irrtümern stehen, dann kann gerade dies Ihre Position stärken. Aber nur dann, wenn man spürt, dass Sie bereit sind zu lernen. Und wenn man an Ihnen ein Vorbild darin erkennt, wie jemand großmütig mit Fehlern anderer umgeht.

Aber sagen Sie um Himmels Willen nie „Selbst ich mache Fehler!“ Denn darauf könnte jeder freundliche Mensch nur milde antworten: „Was Sie nicht sagen!“

Führungsbrief 9 – Begeisterung

Früher, da war die Arbeit Mühsal und das Einkaufen war halt eine Notwendigkeit des Alltags. Heute ist das ganz und gar anders, denn alle sollen alles mit Begeisterung tun und das, was sie tun, soll alle anderen begeistern. Führungskräfte sollen begeistert für ihre Firma einstehen. Führungskräfte sollen aus ihren Leuten begeisterte Mitarbeitende machen. Mitarbeiter sollen begeistert Leistung erbringen und so ihre Kunden zu begeisterten Kunden machen.

Begeisterung allenthalben. Jedenfalls, wenn man den Interviews mit Topmanagern in der Presse, den Management-Journalen, den Führungshandbüchern und dem Werbefernsehen glaubt.

Etwas viel Begeisterung, scheint mir. Wo sind denn all diese Geister, die unser Wirtschaftsleben und die ganze Arbeitswelt begeistern sollen? Früher dachten wir an Geister höchstens im Kontext von Geschichten von alten schottischen Schlössern – und die Sache war leicht gruselig.

Unbestritten: Wer etwas begeistert tut, tut es leichter. Häufig steckt er andere mit seiner Begeisterung an, so dass diese besser mitziehen. Und manchmal machen Begeisterte ihre Sache auch besser. Aber nicht immer, denn manchmal fehlt ihnen auch ein wenig kritische Distanz zu dem, was sie tun.

Aber dennoch: Möchten Sie selber ihre Arbeit ständig begeistert tun? Acht und mehr Stunden am Tag? Fünf und mehr Tage die Woche? Jahrelang? Eben! Jeden Tag Weihnachten, jeden Tag WM-Final, jeden Tag Geburtstag – das wäre alles andere als dauernde Begeisterung. Das wäre nur noch Gähnen.

Als Erstes können wir also lernen: Begeisterung ist etwas Gelegentliches, nichts Dauerndes. Aber wenn es uns packt, dann ist es toll.

Ein wichtiger Unterschied besteht darin, ob man sich begeistert oder ob einen jemand begeistern will. Wann immer ich mich für etwas begeistere, ist das eine prima Sache. Ob ich mich aber von jemandem in Begeisterung versetzen lassen will, hängt ganz von meiner Stimmung ab oder davon, wie überzeugend ich diesen anderen finde, oder davon, welche (heimlichen) Absichten ich bei ihm vermute.

Als Zweites können wir also lernen: Begeisterung ist primär Einstellungssache. Sich begeistern zu können ist das Wichtigste.

Als Drittes aber lernen wir gleichzeitig: Sich begeistern kann andere anstecken. Das ist allemal besser als der Versuch, wie ein Animateur in der Hotelanlage in Rimini zu versuchen, gute Stimmung und Begeisterung zu verbreiten.

Was aber ist es denn eigentlich, das uns begeistert? Für jeden und jede kann das etwas völlig Unterschiedliches sein. Für sie alle aber gilt: Begeisterung entsteht immer im eigenen Kopf. Man kann sagen, wir machen sie immer selber. Unser Gehirn reagiert dann mit der Ausschüttung von Glücksstoffen – und wir fühlen uns super. Dies kann uns niemand – auch kein Vorgesetzter – abnehmen.

Es ist wie beim Sex. Jede/r lässt sich von irgendetwas oder irgendwem antörnen. Aber die Geschmäcker sind unterschiedlich. Und für guten Sex ist das wichtigste Geschlechtsorgan der Kopf. Nur das, was antörnt, liegt außerhalb unserer selbst (auch wenn wir uns im Moment der Begeisterung vielleicht nur daran erinnern oder es uns in unserer Fantasie ausmalen).

Als Viertes lernen wir also: Begeisterung braucht etwas außerhalb des Begeisterten – etwas, an dem sich seine Begeisterung entzünden kann.

Begeisterung entsteht durch Überraschung. Begeisterung entsteht, wenn etwas schöner, besser, interessanter, spannender, lustiger ist als erwartet und erhofft. Und das wiederum kann man gegenüber seinen Kunden genauso wie gegenüber seinen Mitarbeitenden bewusst und gezielt einsetzen.

Als Fünftes also wollen wir lernen: Wir sollten nicht versuchen, jemanden zu begeistern, sondern ihn so zu überraschen, dass möglicherweise er sich begeistert.

Nun kann es jedoch nicht unser Ziel als Führungskräfte sein, immer und überall
Begeisterung verbreiten zu wollen. Es gibt auch Dinge, die können niemanden begeistern – weil sie ganz einfach schlecht, negativ, beklagenswert sind. Dann ist es wichtig, die Dinge ganz und gar nicht gesundzubeten. Manchmal kann man eben nur „Blut, Schweiß und Tränen“ (Churchill) versprechen. Es hat keinen Sinn, Probleme so lange in rosa Watte zu verpacken, bis die Leute glauben, darüber auch noch begeistert sein zu müssen.

Die Führungskunst, Menschen zu begeistern, kommt also (1) nur gelegentlich zum Einsatz, gelingt (2) nur bei Menschen, die selbstbegeisterungsfähig sind, wirkt (3) ansteckend durch die eigene Begeisterung und stellt (4) eine attraktive Überraschung bereit, die es (5) den Menschen ermöglicht, sich selber zu begeistern.

Komplizierte Zauberei also! Erinnern Sie sich an die letzten drei Male, wo Sie und/oder Ihre Leute und/oder Ihre Kunden wirklich Begeisterung empfanden: Finden Sie darin die fünf Zutaten unseres Zauberrezepts wieder?

Wo Begeisterung gelingt – das lese ich in einem über hundertjährigen philosophischen Wörterbuch –, da entfesselt sie die Fantasie, schärft sie den Verstand, erwärmt sie das Gefühl, spannt sie das Interesse und stärkt sie den Willen.

Kein Wunder, braucht so etwas Zauberei!

Führungsbrief 8 – Mitarbeiterinformation

Dass Vorgesetzte dafür verantwortlich sind, ihre Mitarbeitenden mit aller für deren Arbeit erforderlicher Information zu versorgen, gehört zum kleinen ABC der Führungslehre. Keine Führungskraft, die nicht der (ehrlichen) Überzeugung wäre, in diesem Fach ihr Bestes zu geben.

Aber gleichzeitig: Kaum eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter, welche/r sagen würde, sie oder er verfüge über alle notwendigen Informationen und fühle sich gut informiert. „Uns sagt man ja nichts“ ist die verbreitete Einstellung nicht nur bei Mitarbeitenden, sondern auch bei mittleren Führungskräften gegenüber dem oberen Management.

Was läuft hier falsch?

Dafür gibt es viele Gründe und noch mehr Entschuldigungen. Es ist tatsächlich nicht so leicht mit der Mitarbeiterinformation. Hat die Vorgesetzte selber die nötige Information? Weiß der Chef, was seine Leute an Informationen wollen/brauchen? Gelingt es der Chefin, ihren Mitarbeitenden die Bedeutung einer Information für deren eigene Arbeit zu veranschaulichen? Kann der Vorgesetzte selber die Informationsflut bewältigen? Als ob das nicht schon übel genug wäre, kommt noch erschwerend hinzu, was wir über die Verwechslung von Absicht und Wirkung wissen oder über die Unmöglichkeit der zwischenmenschlichen Kommunikation ganz allgemein.

Das Zauberwort bei den Vorgesetzten heißt stufengerechte Information. Sie wollen die Mitarbeitenden nicht mit Dingen überfluten, die sie nicht zu wissen brauchen oder nicht verstehen würden oder die sie beunruhigen könnten.

All diese Überlegungen stimmen. Aber sie treffen das Problem nicht. Das verbreitete Gefühl „Mir sagt ja keiner was“ entsteht in der Regel aus einem generell schlechten Gefühl, das man dann auf den Einzelfall überträgt. Ein solches generelles Gefühl hängt sicherlich von gesammelten Erfahrungen, noch mehr aber von der (Vertrauens-) Beziehung zu den Vorgesetzten ab. Denn im Lichte dieser Beziehung werden konkrete Erfahrungen immer interpretiert und gewertet.

Information ist ein Machtmittel. Wer Information besitzt, hat Macht. Und Macht korrumpiert bekanntlich. Leider nicht erst da, wo sie groß ist, sondern potenziell immer. Ein generell schlechtes Gefühl entsteht, wenn Vorgesetzte ihren Informationsvorsprung als Macht missbrauchen.

Aber Information ist auch ein mächtiges Mittel. Ein Allzweckwerkzeug, das Wunder bewirken kann. Geteilte Information wird nicht weniger, sondern mehr. Ein generell gutes Gefühl entsteht, wenn Vorgesetzte dies wissen und danach handeln.

Als mächtiges Mittel kann Information freilich nur von Vorgesetzten eingesetzt werden, die es nicht als Machtmittel missbrauchen müssen. Und zwar deshalb nicht, weil sie sich ihrer selbst und ihrer Position auch sonst sicher sind. Persönliche Souveränität ist die Voraussetzung einer optimalen Informations­politik gegenüber Mitarbeitenden. Und eine vorbildliche Mitarbeiterinforma­tion einer Führungskraft ist der beste Beweis für ihre persönliche Souveränität.

Ein wunderbares Beispiel dafür erlebte ich vor einigen Jahren bei einem Manager, der relevante vertrauliche Dokumente jeweils auf seinen Besprechungstisch legte, dann einen Mitarbeiter zu sich rief, von dem er meinte, der müsste diese Information haben. Dann verließ er mal „dringend“ für fünf Minuten sein Büro und ließ den Mitarbeitenden allein zurück. Dem war völlig klar, dass er das offen daliegende Dokument nun mal zu überfliegen und im Wesentlichen zur Kenntnis zu nehmen hatte. Wenn dann der Chef zurückkam, fiel kein Wort über diese Sache. Die Mitarbeiterinformation war optimal, obwohl sich der Chef scheinbar an die geltende Vertraulichkeitspolitik gehalten hatte. Ich weiß, ich weiß – nicht alle werden dieses Beispiel lieben. Aber es hat wunderbar funktioniert.

Lassen Sie mich hier die elf Gebote der Mitarbeiterinformation in Stein ­hauen:

§ 1 Informieren Sie unverzüglich, vollständig und transparent. Damit geben Sie nicht bloß Informationen weiter, sondern Sie beweisen Ihr Vertrauen.

§ 2 Sie müssen nicht grundsätzlich mehr wissen als Ihre Mitarbeitenden – höchstens während einer kurzen Vorlaufzeit. Aber Sie sollten Informationen besser verstehen und erklären können.

§ 3 Ihre Mitarbeitenden müssen nicht weniger wissen als Sie – sie sollen Sie wegen Ihrer Persönlichkeit respektieren, nicht wegen Ihres zurückgehaltenen Wissens.

§ 4 Sie brauchen keine Legitimation dafür, über etwas zu informieren. Sie brauchen aber immer eine gute Begründung dafür, über etwas nicht zu informieren.

§ 5 Geben Sie sich Mühe, interessant zu informieren. In keiner anderen Disziplin können Sie leichter Punkte holen: Stellen Sie den Bezug her zwischen den Informationen und der Arbeit Ihrer Leute.

§ 6 Geben Sie den Mitarbeitenden immer Gelegenheit, Fragen zu stellen. Interpretieren Sie es als Ihren Fehler, wenn die Leute keine Fragen stellen.

§ 7 Verstehen Sie es als Ihre wichtigste Aufgabe, gut informierte Mitarbeitende zu haben. Die Bühne gehört Ihnen – genießen Sie dieses Privileg!

§ 8 Sorgen Sie dafür, dass Sie selber alle nötigen Informationen erhalten. Diese elf Gebote der Mitarbeiterinformation gelten auch für Ihre/n Chef/in.

§ 9 Bestrafen Sie desinteressierte Mitarbeitende. Wer sich nicht für arbeits- und firmenwichtige Informationen interessiert, hat bei Ihnen längerfristig nichts verloren.

§ 10 Haben Sie keine Angst, es könnte etwas in die Zeitung kommen. Es kommt sowieso in die Zeitung.

§ 11 Seien Sie neugierig – gierig auf neue Informationen!

Informieren heißt natürlich nicht, dass Sie Ihren Mitarbeitenden alles in mundgerechten Portionen servieren müssen. Häufig geht es nur darum, ihnen den Zugang zu Information zu verschaffen. Zugang wiederum heißt, dass die Mitarbeitenden selber gehen müssen. Aber das ist auch richtig, denn nur sie können letztlich wissen, was für sie eine relevante Information ist.

Übrigens: Wissen Sie, was Information ist? Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Es liegt an Ihnen, dafür zu sorgen, dass Sie den Unterschied machen. Nichts könnte Sie als Chef/in wertvoller machen.

Nehmen Sie sich vor, Ihre Mitarbeitenden mit jeder Information und allem Kontextwissen zu versorgen, das ihnen hilft, im Interesse des Unternehmens mehr für ihre Kunden zu leisten! Das ihnen hilft zu verstehen, warum sie tun sollen, was sie sollen. Und das ihnen das Gefühl vermittelt, als Mitarbeitende und Menschen respektiert und ernst genommen zu werden.

Ganz einfach so, wie Sie es selber auch gerne haben.

Führungsbrief 7 – Kundenorientierung

Wenn es in der Top-Ten-Liste des Managervokabulars einen Mega-Hit gibt, dann ist das zweifellos Kundenorientierung. Kein Managementlehrbuch, keine Firmenvision, keine Führungsgrundsätze, wo nicht das hohe Lied der Kundenorientierung gesungen würde. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn wir uns vor Augen halten, warum es überhaupt Unternehmen gibt: Weil es in einer modernen Gesellschaft keine Selbstversorgung mehr gibt, sondern eine Arbeitsteilung zur Erzeugung unterschiedlichster Güter. Nur weil jemand bereit ist, für ein Produkt oder eine Dienstleistung zu bezahlen, können Unternehmen existieren. Dieser Jemand heißt Kunde.

Um hier einem heute weit verbreiteten Missverständnis entgegenzutreten: Unternehmen existieren nicht, um Investoren glücklich zu machen. Aber da sie in der Regel Kapital brauchen, ist es besser, so zu wirtschaften, dass die Investoren glücklich sind. Aber Kapital ist nur ein notwendiges Mittel eines Unternehmens. Nicht sein Zweck. Sein Zweck ist die Befriedigung von Bedürfnissen von zahlungsbereiten Kunden.

Kundenorientierung ist also für ein Unternehmen lebenswichtig. Das ist aber leichter gesagt als in die Praxis umgesetzt. Was heißt Kundenorientierung?

Obwohl Sie und ich es fast täglich irgendwo erleben, wo wir die Kunden sind, muss ich doch eines klarstellen – Kundenorientierung heißt nicht: die Kunden darüber orientieren, welches die internen Abläufe sind, an die sie sich gefälligst zu halten haben!

Kundenorientierung heißt umgekehrt aber auch nicht, einfach alles für den Kunden zu tun. Denn Kunden sind nicht Geschenkempfänger, sondern Empfänger von Leistungen, für die sie zu bezahlen bereit sind. Wie meine Mutter zu sagen pflegte, kann man allerdings manchmal mit einer Wurst einen Schinken herunterschlagen. Das heißt, dass wir nicht kleinkrämerisch darauf achten sollten, nur genau das zu tun, was auch tatsächlich bezahlt wird. Wir müssen immer die ganze Kundenbeziehung bedenken. Diese muss sich insgesamt bezahlt machen.

Kundenorientierung darf ebenfalls nicht heißen, für VIPITOs zu arbeiten. Sie wissen nicht, was VIPITOs sind? Aber fast jeden Tag arbeiten Sie für die – statt für die Kunden! VIPITOs sind Very important persons in the organization. Ihr Chef zum Beispiel. Oder dessen Chef. Der alleroberste Chef sowieso. Auch wenn Sie vermutlich in Ihrer Karriere prima damit fahren, diese VIPITOs nach dem Grundsatz „Der Kunde ist König“ zu behandeln, ist dies dennoch keine Kundenorientierung.

Kundenorientierung heißt, auf jeder Ebene sicherzustellen, dass alles, was in einem Unternehmen geleistet wird, in einem mindestens mittelbaren Bezug zu den zahlungsbereiten Kunden steht.

Es muss also etwas sein, das ein Kundenbedürfnis direkt befriedigt (herstellen von Produkten oder erbringen von Dienstleistungen). Oder es muss etwas sein, das die Kundenbindung nachhaltig stärkt (das können auch Gratisleistungen sein). Oder es muss etwas sein, das eine Kundenbeziehung überhaupt erst entstehen lässt (etwa Werbung). Oder aber es muss mindestens dazu dienen, es jemandem sonst im Unternehmen zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen, irgendeines von den genannten Dingen zu tun (dies rechtfertigt den Assistenten ebenso wie die Finanzchefin).

Was hat dies alles mit Führung zu tun? Führung ist der Transmissionsriemen, der diese Art von Kundenorientierung täglich ermöglichen und gewährleisten muss. Dazu stehen Führungskräften drei „Stellhebel“ zur Verfügung, die freilich alle nicht ganz unproblematisch sind:

  • Organisation. Führungskräfte müssen eine Organisation (Strukturen wie auch Abläufe) schaffen, die darauf ausgerichtet ist, Leistungen für zahlungsbereite Kunden auf wirtschaftliche Art zu erzeugen. Von jeder Leistung, für die intern ein Lohn bezahlt wird, ist zu fragen, warum ein Kunde direkt oder indirekt dafür zu bezahlen gewillt sein sollte.

    Das Management, das die entsprechenden Strukturen, Prozesse und Regelungen definiert, bringt die operative Führung hiermit aber oft in ein fast unauflösbares Dilemma zwischen der Einhaltung dieser (meist auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten) Vorgaben und dem Ziel der Kundenorientierung
  • Kommunikation. Führungskräfte haben mit allen Mitteln ständig dafür zu sorgen, dass alle ihre Mitarbeitenden wissen, welches der Zusammenhang ist zwischen einer intern geforderten und der extern verkäuflichen Leistung.

    Dies ist kein leichtes Unterfangen. Denn der Zusammenhang zwischen intern geforderten und extern verkäuflichen Leistungen ist manchmal etwas gar verschlungen. Ihn zu entwirren, ihn deutlich zu machen oder ihn überhaupt erst herzustellen – das ist eine zentrale Führungsaufgabe. Und wer immer damit an seine Grenze stößt, stößt gleichzeitig auf die Führungsaufgabe seines Chefs – und muss dort Hilfe einfordern. Genauso wie beim oben erwähnten Dilemma.
  • Motivation. Führungskräfte müssen kontinuierlich an einer Kultur arbeiten, die Kundenorientierung im Zentrum hat. In so einer Kultur motivieren sich Mitarbeitende fast „automatisch“ für genau jene Leistungen, die dem Kunden dienen – und nicht primär für jene, die den VIPITOs gefallen.

    Dies verlangt viel von Führungskräften. Denn es ist äußerst verführerisch, selbst als ­VIPITO behandelt zu werden. Aber dafür wird man halt nicht bezahlt. Im Gegenteil: Dafür müsste man eigentlich bezahlen!

Nun nochmals kurz zur internen Sicht. Nicht jede Zusammenarbeit kann im Geist einer internen Kundenorientierung erfolgen. Manchmal muss man sich intern gegen andere abgrenzen, mal muss man sich durchsetzen, mal muss man auf etwas bestehen. Interne sind Partner in der Zusammenarbeit – aber nicht zahlende Kunden. Das ist ein Unterschied. Aber: Wer in einer freundlichen und hilfsbereiten Kultur mit anderen zusammenarbeitet, der wird seine innerbetrieblichen Leistungen möglichst immer so erbringen, als wären sie auch für Kunden. Das wiederum stärkt langfristig genau diese Kultur. Und die kommt letztlich den zahlenden Kunden zugute.

Es ist interessant zu erwähnen, dass selbst Affen wissen, dass eine Hand die andere wäscht. Und dass auch sie vieles tun, das nicht nur dem eigenen Interesse dient, sondern dem Gemeinwohl – das aber wieder allen zugute kommt. Will sagen: Auch wenn ich die interne Kundenorientierung hier etwas zurückhaltend bewerte – hinter den Entwicklungsstand unserer behaarten Vettern sollten wir sicherlich nicht zurückfallen.

Ich glaube, die beste Kundenorientierung kommt dann in einem Unternehmen zustande, wenn die genau gleiche „Story“, die das Unternehmen seinen Kunden erzählt, auch die Führungskräfte ihren Mitarbeitenden erzählen können. Dann wird der Zusammenhang zwischen internem Tun und externem Nutzen klar ersichtlich. Und nicht selten bleibt Kundenorientierung dort ein leeres Geschwätz, wo die Geschichte, die das Unternehmen seinen Kunden erzählt, etwas gänzlich anderes ist als das Lied, das in der täglichen Führungsarbeit gesungen wird.

Es ist immer die Glaubwürdigkeit, die zählt (und zahlt).

Führungsbrief 6 – Vertrauen

Führung ist Beziehungsgestaltung. Deshalb verwundert es nicht, dass Vertrauen – oder eben der Mangel an Vertrauen – dabei eine wichtige Rolle spielt. Die eine Hälfte des Themas können wir schnell abhaken: Alle Mitarbeitenden und alle Führungskräfte wollen, dass ihnen ihre Vorgesetzten vertrauen. Und niemand denkt von sich, er würde dieses Vertrauen nicht verdienen. Im Gegenteil: Als völlig unverdient wird empfunden, wenn einem Vorgesetzte kein Vertrauen entgegenbringen. Da reicht es schon, wenn man kleinste Zeichen wahrnimmt, die als Misstrauensvotum interpretiert werden können (völlig unabhängig davon, ob sie auch als das gemeint waren).

Schwieriger hingegen ist die zweite Hälfte des Themas. Wie viel Vertrauen kann/muss/darf ich als Führungskraft meinen Mitarbeitenden, meinen Kollegen, meinen Vorgesetzten entgegenbringen?

Vertrauen ist gut, hat Lenin gesagt, Kontrolle aber sei besser. Ist Vertrauen ein Führungsinstrument für Blauäugige, für Leichtgläubige, für Naive, für Gleichgültige? Viele sagen, sie würden anderen schon Vertrauen entgegenbringen, wenn sie sich sicher sein könnten, dass dieses Vertrauen dann nicht missbraucht würde. Das Problem sei einzig, woher man diese Sicherheit nehmen könne. So führen sie zum Beispiel jahrelange gute Erfahrungen mit einer Person an oder intimste persönliche Kenntnis des anderen oder das Wissen um seine bedingungslose Loyalität. Schön, wo immer so etwas vorliegt. Aber als Führungsinstrument kommt ein so gesichertes Vertrauen wohl doch nur ganz ganz selten zum Einsatz.

Was ist Vertrauen? Vertrauen ist eine riskante Vorleistung. Wer vertraut, verzichtet auf Sicherheit. Damit macht er sich verwundbar. Wenn jemand sagt, er vertraue nur dann, wenn er auch vertrauen könne, dann hofft er, um dieses Risiko herumzukommen. Vertrauen ohne Risiko ist aber kein Vertrauen. Es ist vielleicht Gewissheit oder Kontrolle. Aber kein Vertrauen.

Warum sollten Führungskräfte etwas so Riskantes tun? Die riskante Vorleistung des Vertrauens bietet die Chance, dass das Vertrauen mit Gegenvertrauen honoriert wird. Daraus resultiert eine positive Vertrauensspirale. Diese wirkt sich auf die Führungsbeziehung in aller Regel äußerst produktiv aus. – Und umgekehrt gilt eben: Ohne Vertrauen zu führen erzeugt eine destruktive Spirale in den Führungsbeziehungen.

  • Vertrauen erzeugt Selbstvertrauen. Wer seinen Mitarbeitenden vertraut, stärkt deren Selbstwertgefühl. Das spornt an und gibt gute Gefühle. Es ruft geradezu nach einer Leistung, die das Vertrauen rechtfertigt. Es gibt auch den Mut, an seine Grenzen zu gehen. Es nimmt die Angst vor den Fehlern. Und umgekehrt.
  • Vertrauen beweist Anerkennung. Anerkennung bedeutet Wertschätzung. Wertschätzung wird geschätzt. Und Wertschätzung wird meistens auch zurückgegeben. In einer wertschätzenden Atmosphäre lässt es sich gut arbeiten. Reibungsverluste sind gering, und der Output ist entsprechend hoch. Und umgekehrt.
  • Vertrauen erleichtert die eigene Arbeit. Wer seinen Mitarbeitenden vertrauen kann, braucht weniger Aufwand für seine Informationsbeschaffung. Er muss sich weniger darum sorgen, ob die Dinge denn auch tatsächlich gut laufen. Er kann sich darauf verlassen, dass er rechtzeitig erfahren wird, wenn irgendwo Probleme auftauchen und die Zielerreichung gefährdet ist. Und umgekehrt.
  • Vertrauen ersetzt nicht Kontrolle. Aber Kontrolle ersetzt auch nicht Vertrauen. Kontrolle dient dem Informationsfluss von unten nach oben. Auf einer vertrauensvollen Führungsbeziehung basierend wird dieser Informationsfluss als sinnvoll, nicht als schikanierend, erlebt. Und umgekehrt.

Es steht offensichtlich viel auf dem Spiel. Deshalb gilt: Wer als Chef Mühe hat, anderen Menschen zu vertrauen, ist als Führungskraft ungeeignet. Punkt. Wer als Führungskraft einem bestimmten Mitarbeitenden nicht wirklich vertraut, muss die Führungsbeziehung zu ihm so zu entwickeln versuchen, dass er ihm schließlich vertrauen kann. Wenn dies misslingt, muss er sich von diesem Mitarbeitenden trennen. Punkt.

Rechtfertigt sich Vertrauen denn immer? Keineswegs! Wenn Vertrauen eine riskante Vorleistung ist, dann heißt das, dass man damit ab und zu reinfällt. Dass man enttäuscht wird. Dass das Vertrauen nicht mit der entsprechenden Leistung und auch nicht mit Gegenvertrauen honoriert wird. So läuft das Spiel. Wer nicht riskieren will, auch mal ein Tor zu kassieren, soll lieber nicht damit anfangen, Fußball zu spielen.

Aber wie kann ich denn nun wissen, ob ich einem Mitarbeitenden sinnvollerweise vertrauen kann oder nicht? Ganz einfach: Ich kann es nicht wissen! Als Führungskraft habe ich zu allererst meinem eigenen Urteilsvermögen zu vertrauen und also davon auszugehen, dass ich gute Mitarbeitende ausgewählt habe. Sodann habe ich denen – wie gesagt als riskante Vorleistung – zu vertrauen. Als Chef habe immer ich den ersten Schritt zu tun. Erst dann läuft das Spiel, das mir zeigen wird, ob mein Vertrauen gerechtfertigt war oder nicht. Wenn nicht: siehe oben! Was nicht zählt, ist Warten auf die Mitarbeitenden: Warten darauf, dass sie sich meines Vertrauens zuerst als würdig erweisen. Warten darauf, dass sie mir vertrauen. Warten darauf, dass sie wiederum einander Vertrauen entgegenbringen. Jeder, der sich meines Vertrauens als nicht würdig erweist, beweist zunächst nur, dass ich entweder meine Mitarbeiterselektionsaufgaben und/oder meine Mitarbeiterentwicklungsaufgaben nicht gemacht habe.

So weit, so klar. Wie aber schenke ich Vertrauen? Lippenbekenntnisse reichen nicht. Sie werden schnell als solche durchschaut, und dann wirken sie wie gezeigtes Misstrauen. Also kann ich nur das Vertrauen zum Ausdruck bringen, das ich auch empfinde. Das aber ist leicht. Und zu wissen, welches Vertrauen ich jemandem gegenüber (bezüglich einer bestimmten Aufgabe) tatsächlich empfinde, ist auch kein Problem – wenigstens, solange ich mich nicht selber belüge.

Nur leider – es gibt halt gar viele „gute“ Gründe, sich selber zu belügen: Weil man sich (momentan) einem Problem nicht stellen will. Weil man seine eigene Personalauswahl nicht in Frage stellen will. Weil man die Enttäuschung über missbrauchtes Vertrauen sucht, um dann mit nachvollziehbareren Gründen handeln zu können. Weil man fälschlicherweise von sich auf andere schließt (und dies für Vertrauen hält).

Und so erweist sich dann zu guter Letzt: Ob ich als Führungskraft meinen Mitarbeitenden vertrauen kann, hängt primär davon ab, ob ich mir als Führungskraft selber trauen kann. Mindestens manchmal aber müsste man auch hier anfügen: Und umgekehrt.

Führungsbrief 5 – Kommunizieren

Nicht selten wurde in den bisherigen Führungsbriefen auf die Wichtigkeit gelingender Kommunikation hingewiesen. Und es ist wahrscheinlich, dass ich bei verschiedensten Themen immer wieder (auch) zu diesem Schluss gelangen werde. Daher wird es Zeit, einen Führungsbrief vollumfänglich dem Thema „Kommunizieren“ zu widmen.

Gelingende Kommunikation ist etwas vom Wichtigsten und gleichzeitig vom Unmöglichsten überhaupt. Indem wir von Führungskräften immer wieder eine gute Kommunikation fordern, schicken wir sie wie im gleichnamigen Action-Thriller auf eine „Mission impossible“. Wir wissen, dass es nicht wirklich gelingen kann, und wir erwarten doch ein Happyend. Es ist nämlich so:

  • Kommunikation ist immer mehr als das, was ich sage: Da sitzen er und sie im Auto vor der Ampel. Die Anzeige wechselt, und er sagt: „Es ist grün.“ Was wurde hier kommuniziert?
    Erstens – das nennt man den Inhaltsaspekt der Kommunikation – hat tatsächlich er den Satz gesprochen „Es ist grün.“
    Zweitens – das ist der Appellcharakter von Kommunikation – hat er sie beispielsweise aufgefordert: „Nun fahr mal endlich!“
    Drittens – das ist die Selbstoffenbarung in Kommunikation – hat er möglicherweise zum Ausdruck gebracht: „Ich bin der bessere Autofahrer als du.“
    Viertens – das ist der Beziehungsaspekt von Kommunikation – hat er vielleicht signalisiert: „Du nervst mich einfach.“
    Er kann in diesem Falle natürlich immer auch etwas ganz anderes mitkommuniziert haben. Aber je nachdem, was sie von diesen vier Seiten jeder Kommunikation tatsächlich gehört oder verstanden hat, dürfte das Klima im Auto ganz unterschiedlich beeinflusst worden sein. Es gilt eben schon: „Sage mir, was du denkst – und ich denke mir, was du meinst.“
  • Kommunikation hat eine digitale und eine analoge Seite: Wenn Ihnen jemand auf Ihre Nachfrage hin einen Weg erklärt und sagt „Fahre alles geradeaus und nimm dann die erste Abzweigung nach links“, wobei er mit der Hand zuerst geradeaus deutet, dann aber nach rechts, dann wissen Sie: rechts ist richtig. Denn die digitale Seite, also das gesprochene Wort, „lügt“ viel leichter als die analoge Seite, nämlich unsere Gesten, Minen, der Tonfall usw. Nicht selten verfolgt die analoge Kommunikation sogar ausdrücklich den Zweck, zu erläutern, wie die digitale Aussage zu verstehen ist; etwa dann, wenn wir mit dem Gesicht ausdrücken, dass wir etwas nur ironisch meinen.
  • Kommunikation ist unvermeidlich. In einer sozialen Situation kann man nicht nicht kommunizieren. Denn nichts zu sagen besagt häufig sehr viel. Das wissen alle, die in einer Beziehung leben. Und wenn Führungskräfte über eine bevorstehende Änderung nicht informieren, dann entnehmen die Mitarbeitenden dieser Art von Kommunikation jede Menge Inhalt: Es wird Entlassungen geben. Ich werde Nachteile erfahren. Sicherlich findet etwas Schlimmes statt usw.
  • Kommunikation kennt keinen Anfang. Zum Zeitpunkt, wo ich glaube, mit meiner Kommunikation zu beginnen, ist mein Gegenüber unter Umständen schon längst drin. Es interpretierte beispielsweise schon sehr genau, warum ich so lange nichts gesagt hätte. Es zieht seine Schlussfolgerungen und vermutet vielleicht böse Absichten auf meiner Seite. Was immer ich dann (inhaltlich) sage, wird von ihm vor dem Hintergrund dieser „Tatsache“ – dass ich in Wahrheit Böses beabsichtige – gelesen und interpretiert. Unnötig zu sagen, dass ich mich dann womöglich missverstanden fühle. Allerdings muss ich zuerst überhaupt merken, was da bei meinem Gegenüber abgegangen ist. Und wie bereits in einem früheren Führungsbrief angesprochen, können Kommunikationen sehr problematisch verlaufen, wenn zwei Beteiligte eine ganz unterschiedliche „Interpunktion“ sehen. Wenn also jeder meint, selber bloß auf den anderen zu reagieren: „Ich sage das ja nur, weil Du …“. Da sind Missverständnisse unvermeidlich.
  • Kommunikation hängt von der Beziehung ab: Je nachdem, wer die Kommunikationspartner sind, ergibt sich daraus schon eine (vermeintliche) Anweisung, wie die Kommunikation zu verstehen sei. Wenn der Chef sagt „Ich würde das so machen“, dann hört der Mitarbeitende vielleicht schon einen Befehl heraus. Und so bildet er sich vielleicht gar keine eigene Meinung mehr. Oder er macht die Sache trotz abweichender persönlicher Meinung so, wie er glaubt, der Chef wolle es. Der Chef hat aber nur den Stand seiner Überlegungen mitgeteilt. Das war völlig unausgegoren und sollte nur ein kleiner Beitrag zur Arbeit des Mitarbeiters sein. Hätte der Chef gründlicher nachgedacht, wäre er vielleicht zu anderen Schlüssen gekommen. Wenn dann der Mitarbeiter mit nichts anderem als dem ersten Gedankenblitz des Chefs zurückkommt, hält ihn der Chef für unselbstständig und fantasielos. Hätte die Kommunikation zwischen Gleichgestellten stattgefunden, wäre sie ganz anders verlaufen.
  • Kommunikation leidet drei Mal unter Zufälligkeiten: Die erste Zufallswahl betrifft das, was aus meinem Gehirn bis zu meiner Zunge kommt. Mir ist nie vollständig bewusst, was ich alles ausdrücken möchte, so dass ich gar nie präzise genug oder gar vollständig sein kann. Die zweite Zufälligkeit besteht in dem, was mein Gegenüber von all meinen Äußerungen wahrgenommen hat. Keiner kann alles hören, sehen und spüren, was an digitaler und analoger Kommunikation wirklich stattgefunden hat. Aber die Auswahl, die er vornimmt, ist seine Auswahl, und sie ist weder für ihn noch für mich völlig durchschaubar. Deshalb hat sie etwas Zufälliges oder Beliebiges an sich. Die dritte Zufälligkeit findet im Kopf meines Gegenübers statt. Sie betrifft all die Verbindungen, die er in seinem Gehirn mit dem Gehörten anstellt und die maßgeblich beeinflussen, wie er etwas versteht. Da wir leider (oder Gott sei Dank) nicht in unser eigenes Gehirn schauen können, hat auch dieses Verknüpfen von Inhalten mit Erinnerungen viel Beliebigkeit an sich. Nur dass uns all diese dreifachen Zufälligkeiten/Beliebigkeiten eben gar nie bewusst sind.

Was können wir daraus lernen? Derjenige, der kommunizieren will, kann letztlich überhaupt nicht wissen, was sein Adressat gehört und verstanden hat. Und der kann es ihm auch nicht so einfach quittieren, denn dann ist er ja wiederum derjenige, der vor den oben genannten Komplikationen steht. Und, schlimmer noch, wir können noch nicht einmal genau wissen, was wir selber wirklich sagen wollten und wie wir selber es wirklich meinen.

Was tun? Vermeiden können wir all diese Komplikationen zwischenmenschlicher Kommunikation nicht. Nie! Aber wir können damit rechnen und uns immer wieder bewusst machen, dass sie uns viele Hindernisse in den Weg legen. Wir können unsere Kommunikation erleichtern, wenn wir mit anderen über die Kommunikation kommunizieren – indem wir fragen, wie etwas verstanden wurde. Oder indem wir erklären, wie etwas gemeint war oder empfunden wurde.

Vor allem aber: Wir müssen die Kommunikation fortsetzen. Kommunikation muss einfach immer weitergehen. Dann werden die Fehler erträglicher und können eher ausgebügelt werden.

Das ist aber nur möglich, wenn sich alle um eine anschlussfähige Kommunikation bemühen, wenn sie es dem anderen erleichtern, seinerseits mit der Kommunikation fortzufahren. Nur abgebrochene Kommunikation ist wirklich misslungene Kommunikation.

In diesem Sinne: Bis zum nächsten Führungsbrief!

Führungsbrief 4 – Tango

Es gibt die schöne englische Redewendung „It takes two to tango“ – es braucht immer zwei, um Tango zu tanzen. Nun: es braucht auch immer zwei zur Führung. Nämlich Führende und Geführte.

Während freilich beim Tangotanzen keiner auf die Idee kommt, nur die einen – sagen wir die Männer – in den Tanzkurs zu schicken, ist das bei der Führungsausbildung gang und gäbe. Ausgebildet werden immer nur die „Männer“, und der Tango, den sie anschließend mit den „Frauen“ (also den Geführten) tanzen, sieht entsprechend dürftig aus. Außer vielleicht, wenn die Geführten sozusagen Naturtalente im Tango der Führung sind.

Nehmen wir ein noch absurderes Beispiel. Ehe ist auch so etwas, wozu es immer zwei braucht. Käme denn jemand auf die Idee, Frauen zu guten Ehefrauen auszubilden in der Hoffnung, sie nachher auf welchen Mann auch immer loslassen zu können, und es ergäbe sich eine wunderbare Ehe? Eben.

Was die Führungsausbildung angeht, liegt der geschilderte „Webfehler“ in der Verantwortung der Ausbildner. Also will ich nicht länger Sie als Führungskräfte damit belästigen. Was aber die gewissermaßen tägliche Führungsentwicklung angeht – also das stetige Bemühen, gut respektive immer besser zu führen –, wiederholt sich das Bild. Und hier sind Sie angesprochen. Denn fast durchs Band halten Führungskräfte Führung für ihr Bier. Dass bei dem Tango noch jemand anderes mittanzt (nämlich die Geführten), wissen sie zwar. Aber sie berücksichtigen es weder bei der Gestaltung ihres eigenen Anteils noch bei der Interpretation der Figur, die sie schlussendlich machen.

Nehmen wir ein paar Beispiele:

  • Selbstständigkeit: Führungskräfte wünschen sich vielleicht selbstständige Mitarbeitende. Nun kann ja trotzdem ein Mitarbeiter eine Frage an seine Chefin haben. Diese gibt bereitwillig Auskunft. Der Mitarbeiter handelt entsprechend der Äußerung der Chefin. Diese denkt: „Warum handelt der nicht selbstständiger?“ Jener denkt: „Gut, habe ich gefragt. Ich wusste doch, dass sie die Sache anders haben will als ich vorhatte.“ Das nächste Mal fragt er lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Die Chefin schließt daraus auf einen Mangel an Selbstständigkeit bei ihrem Mitarbeiter. Dieser glaubt, Selbstständigkeit sei bei seiner Chefin nicht gerade erwünscht.
  • Motivation: Es gilt unseligerweise als Aufgabe von Führungskräften, ihre Mitarbeitenden zu motivieren. Also lassen sich die Chefs alles Mögliche einfallen. Die Mitarbeitenden schauen interessiert zu und warten darauf, dass sich bei ihnen das Gefühl des Motiviertseins einstellt. Was natürlich nicht geschieht. Also verdoppeln die Chefs ihre Anstrengungen. Und die Mitarbeitenden ihr Unwohlsein. Und in der Zwischenzeit vergessen sie völlig, dass man sich nur selber motivieren kann.
  • Gerechtigkeit: Mitarbeitende erwarten, von ihren Vorgesetzten gerecht behandelt zu werden. Was sie dabei als gerecht empfinden, bemisst sich daran, wie ihre Kolleginnen und Kollegen behandelt werden. Wer nun beispielsweise weniger Anerkennung seitens des Chefs erhält als (vermeintlich) seine Kollegen, wird sich vielleicht zurückziehen und sich nicht mehr über Gebühr anstrengen. „Der Chef sieht es ja sowieso nicht.“ In der Folge wächst die Anerkennung des Chefs natürlich nicht gerade. Und die Spirale dreht sich weiter.

Bei all diesen Beispielen ist es müßig, danach zu fragen, wer angefangen hat. In der Psychologie spricht man von einem „Interpunktionsproblem“. Das heißt: Jede der beiden Parteien hat ihre eigene Sicht, wo das Komma und wo der Punkt hingehört. Der Chef sagt sich: „Ich tue dies nur – Komma – weil meine Mitarbeiter … Punkt.“ Die Mitarbeitenden sagen: „Wir tun dies nur – Komma – weil der Chef … Punkt.“ Solche Prozesse geraten sehr schnell in eine Dynamik, bei der beide Sichtweisen eine gewisse Berechtigung haben. Also braucht es auch den Beitrag beider Seiten, um aus diesem Tango wieder hinauszufinden.

Für die Mitarbeitenden ist dies freilich nicht immer so einfach, da hier keine/r für sich allein entscheiden kann. Die Mitarbeitenden unterstehen immer auch einer Gruppendynamik unter sich. Wer also seine Art, den Tango mit dem Chef zu tanzen, verändern möchte, wird dabei unter Umständen von seinen Kolleginnen und Kollegen argwöhnisch beobachtet. Als erste/r zu sagen, „Vielleicht haben wir ja auch einen Anteil am Ganzen“, stößt möglicherweise auf entrüstete Ablehnung der Kolleginnen und Kollegen. Also hält man lieber still.

Aber auch für die Vorgesetzten ist es schwierig, aus einem missglückten Tango auszubrechen. Denn sie sind in der unmöglichen Situation, immer gleichzeitig mit zwei Partnern Tango zu tanzen: mit ihren Mitarbeitenden (wie beschrieben), aber eben auch noch mit ihrem eigenen Chef. Eingeklemmt in dieses „Sandwich“ kann nichts nach einer Seite hin unternommen werden, das die andere nicht sehen und aufmerksam verfolgen wird. Ein Vorgesetzter, der plötzlich beginnt, seine Mitarbeitenden weniger eng zu führen und weniger streng zu kontrollieren, wird bald einmal seinem eigenen Chef nicht mehr in der gehabten Detailliertheit rapportieren können, was in seinem Bereich so läuft. Und wenn diesem das dann negativ auffällt, ist die Chance klein, dass der ihm unterstellte Vorgesetzte seinen neu versuchten Tangoschritt beibehält. Und kaum fällt er in den alten Trott zurück, „wissen“ seine Mitarbeitenden, dass er es mit der Änderung seines Führungsverhaltens nie ernst gemeint hat.

Was tun?

Das Zauberwort heißt „Meta-Kommunikation“. Das heißt: Über Kommunikation kommunizieren. Die Tango-Tänzer müssen miteinander darüber reden, wie sie ihren Tanz empfinden und in welcher Hinsicht sie sich einen neuen Stil, neue Schritte, andere Figuren wünschten. Auch dies ist nicht so einfach. Wem es aber einmal gelungen ist, dem gelingt es immer häufiger. Auch bei der Meta-Kom­munikation macht die Übung den Meister.

Vielleicht ist es nützlich, sich zuvor das Ganze wirklich als Tanz vorzustellen (es muss ja nicht gerade ein feuriger Tango sein). Wer führt wirklich? Wer ist initiativ? Wer tritt wem auf die Füße? Wer macht eine tolle Figur? Wer dreht sich im Kreis? Wo spielt die Musik? Wie wär’s mit einem Partnertausch? Warum nicht mal ein langsameres Stück? Wer tanzt mit wem am besten? Wer gerät aus dem Tritt? Wer reicht wem die Hand? Wer scheint wen aufs Kreuz zu legen? Wer hat ein gutes Gefühl für den Takt?

Die Bilder, die einem da vor den Augen auftauchen, dürften in den meisten Fällen zumindest noch einen guten Nebeneffekt haben: Man nimmt die Sache nicht mehr so todernst. Ein spielerisches Herangehen eröffnet sicherlich mehr Optionen. Stellen Sie bloß mal Ihren Chef geistig in ein paar verschiedene Tanzpositionen. Aber nicht vergessen: Es ist nicht nur er, der Sie herumwirbelt. Nicht selten ist es umgekehrt. – Das gilt übrigens auch für Ihre Mitarbeitenden.

Führungsbrief 3 – Aaneschtoh

So schön wie auf Schweizerdeutsch kann man es Schriftdeutsch nicht ausdrücken: „Sich hinstellen“ klingt einfach nicht gleich selbstbewusst, aufrecht, ausstrahlungsstark, gradlinig und überzeugend wie „aaneschtoh“. Aber da dies ein Brief ist, werde ich es trotzdem Schriftdeutsch ausdrücken: Führungskräfte müssen bereit sein, sich persönlich hinzustellen: mit ihrer Meinung, ihrer Überzeugung, mit ihren Entscheidungen und nicht zuletzt mit ihren Fehlern. Warum?

Stellen wir uns ein Unternehmen vor. In einem Organigramm ist aufgemalt, wer wessen Chef/in ist. Auffällig ist: Mit kaum einer Ausnahme hat jede und jeder genau eine/n Vorgesetzte/n. Nun hat ja jede Organisation (sprich: jeder Betrieb, jedes Unternehmen) eine Organisation: das heißt ein dichtes Regelwerk, bestehend aus Vorschriften und Reglementen, aus Weisungen und Aufgabenbeschrieben, aus Prozessdefinitionen und Schnittstellenbeschreibungen. Vieles ist ohnehin schon durch das Gesetz geregelt. Manches ergibt sich aus den formulierten Unternehmenszielen. Oder aus dem „obersten“ Unternehmenszweck – beispielsweise jenem, den Unternehmenswert nachhaltig zu steigern. Eigentlich müsste also alles klar sein, und jede/r müsste wissen, was sie oder er zu tun hat.

Dem ist bekanntlich nicht so. Immer wieder ist und bleibt vieles unklar. Natürlich kann man einiges davon dem gesunden Menschenverstand aller Beteiligten überlassen. Aufgrund ihres Denk- und Urteilsvermögens und aufgrund ihrer fachlichen Ausbildung und beruflichen Erfahrungen wissen die Menschen in der Regel, was der eigentliche Sinn der Sache wäre, auch wenn es ihnen nirgendwo Buchstabe für Buchstabe vorgekaut worden ist. Und sie handeln durchaus in eben diesem Sinn.

Aber all dies reicht nicht aus. Daher kommen die Führungskräfte ins Spiel – mit zweierlei Rollen:

  • Die eine ist die Rolle des Weichenstellers. Wie „gut“ eine Organisation auch immer ist – vieles kann und muss erst vor Ort, im konkreten Einzelfall entschieden werden. Dafür werden Führungskräfte bezahlt. Natürlich bemühen auch sie sich, im Sinne der Sache, nach bestem Wissen und Gewissen, aufgrund ihrer Erfahrung zu entscheiden. Aber trotzdem bleibt vieles einer ganz und gar persönlichen Entscheidung überlassen: Ich will, dass wir linksrum gehen oder eben rechtsrum. Ich sage ja oder nein. Ich befördere Müller oder eben Meier. Und da muss ich mich dann eben persönlich hinstellen – ich muss „aane­schtoh“ – und zu meinem Entscheid stehen (das ist der Grund, warum es immer nur genau eine/n Vorgesetzte/n gibt! Zwei würden sich vielleicht nicht gleich entscheiden und dadurch ihre Glaubwürdigkeit untergraben). Dies gilt auf jeder hierarchischen Stufe, obwohl sich in der Regel die Tragweite dieser persönlichen Entscheide je nach Stufe unterscheidet. Andererseits ist es aber so, dass sich nur die unteren Führungskräfte wirklich persönlich – mit Augenkontakt! – vor die Betroffenen hinstellen müssen. Während die oberen und obersten ihre Entscheide häufig aus sicherer Distanz vertreten können.
  • Die zweite Rolle für Führungskräfte ergibt sich daraus, dass alles, was oben als organisiert beschrieben wurde, ja nicht vom Himmel fällt, sondern einmal von jemandem organisiert (geregelt, definiert, vorgeschrieben, verboten …) werden musste. Und zwar nicht nur am Anfang – sozusagen bei der Betriebsgründung. Sondern immer wieder neu, denn Unternehmen ändern sich selber, und sie müssen sich Änderungen in ihrer Umwelt anpassen. Das ist die Rolle des Gestalters. Auch hier ist in der Regel die Tragweite der Gestaltungsentscheide oberer Führungskräfte größer als weiter unten. Aber dennoch kann man sagen, dass das, was weiter unten gestaltet wird, für das alltägliche berufliche Leben der Betroffenen häufig maßgeblicher ist als die „großen“ Entscheide von oben. Ein oberster Vorgesetzter kann zwar beispielsweise ein neues Lohnsystem einführen und darüber gro­ßen Einfluss nehmen. Dagegen kann eine Führungskraft auf Stufe Teamleiter vielleicht „nur“ die Spielregeln des Umgangs in ihrem Team definieren und so die Teamarbeit aktiv gestalten. Aber sie erreicht damit alle ihr Unterstellten. Das wiederum könnte ein oberster Chef nicht, da ihm vielleicht Hunderte oder Tausende unterstellt sind, von denen er nur die Zusammenarbeit mit seinen direkt Unterstellten aktiv gestalten kann.

Führungskräfte sind also Weichensteller und Gestalter in einem. Die persönlichen Entscheide, die sie in beiden Rollen treffen müssen, dürften mal besser, mal weniger gut sein. Das ist unvermeidlich. Zumindest im Grundsatz wird das wohl von allen Beteiligten akzeptiert.

Natürlich ist es bei Vorgesetztenentscheiden oft wie auf dem Fußballplatz. Die auf der Tribüne sind viel, viel besser als die auf dem Rasen. Vor allem kurz nach einer verpassten Chance. Auch bei Führungskräften gilt „Wer aus dem Rathaus kommt, ist klüger“. Hinterher weiß man es eben immer besser.

Aber trotz allem: Es fällt auf, dass von den Betroffenen meist unwidersprochen akzeptiert wird, dass Führungskräfte persönlich entscheiden sollen. Man findet es ganz natürlich, dass ein anderer Mensch für einen Entscheide trifft. Dem Führungsanspruch von Führungskräften entspricht also die Bereitschaft anderer, geführt zu werden. Führen kann nur, wem jemand anderes folgt. Wer also führt, sollte sich immer die Frage stellen: Warum sollen die anderen mir folgen?

Ich glaube, die Antwort darauf kann nicht darin liegen, dass der Führende immer bessere oder klügere Entscheide treffen würde als die Geführten. Die Antwort liegt eher darin, dass gute Führungskräfte mit ihrer ganzen Person glaubwürdig für ihre Entscheide einstehen. Das heißt: Aaneschtoh!

Denn was immer eine Führungskraft entschieden hat: Dafür soll sie persönlich die Verantwortung übernehmen. Das heißt nicht, einfach hinterher den Hut nehmen, wenn es schief gegangen ist. Das heißt vielmehr, sich vorher hinzustellen und klar zu machen, dass man es selber war, der entschieden hat. Und niemand anders.

Sicherlich soll man seinen Entscheid wenn immer möglich begründen. Bloße Willkür wäre unakzeptabel. Aber ein echter Entscheid hätte ja immer auch anders getroffen werden können. Deshalb können Begründungen zwar nachvollziehbar, stimmig und authentisch sein – aber niemand ist gezwungen, sich ihnen anzuschließen. Und trotzdem muss man dazu stehen und sagen: „Ich habe entschieden, dass …“. Maßgeblich für die Glaubwürdigkeit einer Führungsperson ist, dass sie sich vor allem vor diejenigen hinstellen kann, die von einem gefällten Entscheid auch negativ betroffen sind. Dann gilt es, ohne Ausflüchte dazu zu stehen, dass und was man entschieden hat.

Das braucht manchmal ein wenig Mut. Manchmal braucht es auch viel Mut. Interessanterweise braucht es freilich nicht umso mehr Mut, je größer die Tragweite eines Entscheids ist. Sondern umso mehr, je näher man dem oder den Betroffenen in die Augen schauen muss. Deshalb ist ja auch nicht der erforderliche Mut, sondern die übernommene Verantwortung (die von der Tragweite des Entscheids abhängt) das Maß für die Besserstellung von Führungskräften in Lohn und Privilegien.

Was man hingegen für erwiesenen Mut erhält, ist Respekt. Respekt zuallererst von Seiten der Geführten. Nicht selten aber auch von den Kolleginnen und Kollegen und den eigenen Vorgesetzten – selbst wenn einem diese ihren Respekt nicht unbedingt immer auch zeigen. Vielleicht ist ihnen mitunter das eigene schlechte Gewissen, selber nicht genügend Mut gehabt zu haben, dabei im Wege.

Aber dennoch: Aaneschtoh lohnt sich – übers Ganze gesehen.

Führungsbrief 2 – Durchlauferhitzer

Teilen wir die Welt für einmal ein bisschen einfach ein: Es gibt Menschen, die arbeiten, und Menschen, die führen. Das, was wir einem Kunden verkaufen können, resultiert immer aus Arbeit. Die Leistung des Führens können wir nicht verkaufen; sie kostet bloß. Was rechtfertigt sie denn überhaupt?

Nur als Randbemerkung: Auch für Menschen, die in der Hierarchie zuunterst stehen und ausschließlich arbeiten (also nicht führen), gilt, dass man ihre Arbeit nicht immer direkt verkaufen kann, denn häufig ist sie nur Vorbereitung oder Dienstleistung für andere, deren Arbeit sich letztlich verkaufen lässt. Beispiele dafür sind die netten Damen am Empfang oder die gründlichen Mitarbeiter der Buchhaltung. Ihre Leistungen sind sehr wichtig, obwohl sie sich nicht direkt verkaufen lassen. Aber hier geht es nur um Führungskräfte.
Bei den Führungskräften – darunter verstehe ich alle, denen mindestens eine Person hierarchisch unterstellt ist – gilt: Ihre Hauptaufgabe ist Führen. Die meisten von ihnen arbeiten aber auch, wobei das Gleiche gilt wie bei den Nicht-Führungskräften: Ein Teil ihrer Arbeit lässt sich direkt verkaufen (etwa direkte Kundenberatung), ein anderer Teil dient nur internen Kunden (etwa die Mitarbeit in einem Prozessoptimierungsprojekt). Für unsere weiteren Überlegungen blenden wir nun aber alles zum Thema Arbeit (und damit auch die Betrachtung der untersten hierarchischen Ebene) aus und beschäftigen uns ausschließlich mit dem Führungsteil im Alltag von Führungskräften.

Was rechtfertigt den reinen Führungsteil – der, wie wir sahen, nur kostet und direkt nichts einbringt?

Führung rechtfertigt sich, wenn sie einen Mehrwert erzeugt. Führung rechtfertigt sich nicht, wenn sie nur als Durchlauferhitzer funktioniert. Illustrieren wir zunächst diesen negativen Fall. Führungskräfte, die sich als Durchlauferhitzer verhalten, werden nicht von sich aus führungsmäßig aktiv – weder gegenüber ihren Mitarbeitenden noch gegenüber ihren Chefs. Sie reagieren nur, wenn sie von oben oder von unten gefordert werden:

  • Der klassische Fall für den Durchlauferhitzer ist eine Anordnung von oben. Das kann eine Zielvorgabe oder ein Projektauftrag oder eine Verhaltensinstruktion sein. Manchmal ist es auch nur eine vermutete oder „zwischen den Zeilen“ herausgelesene Erwartung des eigenen Chefs. Diese Anordnung oder Erwartung wird nun von unserer Führungskraft möglichst eins-zu-eins an die eigenen Mitarbeitenden weitergegeben. Sie glaubt, damit besonders loyal und richtig zu handeln. Vielleicht fügt sie in ihrer Kommunikation an die Mitarbeitenden noch die Bemerkung hinzu, dass „der Chef“ das so und so wolle. Schön und gut. Fragt sich bloß, wofür sie denn als Führungskraft bezahlt ist. Für bloße Weiter-reiche-Dienste kann man billiger die Hauspost oder die Schweizer Post oder eine E-Mail einsetzen.
  • Analog verhält sich der Durchlauferhitzer in der Flussrichtung „von unten nach oben“. Wenn seine Mitarbeitenden eine Forderung oder Idee haben, einen Vorschlag einbringen oder Kritik äußern, dann meldet er das pflichtschuldigst seinem Vorgesetzten weiter. Und um diesen nicht unziemlich zu beeinflussen, enthält er sich auch jeglicher persönlicher Meinung dazu. Denn er möchte ja unbedingt objektiv und neutral sein. Vielleicht sind seine Mitarbeitenden sogar ganz glücklich über dieses Verhalten – aber sie bezahlen ja auch nicht diese „Leistung“ des Durchlauferhitzers. Aus der Optik des Vorgesetzten ihres Chefs aber sieht die Sache wieder gleich aus wie im ersten Fall.

Ein Grenzfall des Durchlauferhitzers ist, wenn er sich in den beiden Fällen wie geschildert verhält, aber mit der Ausnahme, dass er nicht ganz alles weiterleitet. Er zensuriert ein wenig, in der Regel aus dem Bemühen heraus, den Adressaten – sei es der eigene Chef oder die eigenen Mitarbeitenden – nicht unnötig zu beunruhigen oder zu verunsichern oder gar zu verärgern. Bildlich ausgedrückt also ein Durchlauferhitzer mit Wasserverlust – oder zumindest mit Kalkablagerung. Mit Verlaub jedoch: Bloßes Weglassen kann man nur selten als Mehrwert bezeichnen!

Wann aber erzeugt Führung einen Mehrwert? Hier sind mindestens vier Fälle zu unterscheiden:

  • Auch hier beginnen wir mit einer Anordnung von oben (im weitesten Sinne verstanden, wie geschildert). Der Mehrwert, den eine Führungskraft hier nun hereinbringen soll, kann vielfältig sein: Interpretations- oder gar Übersetzungshilfen; Einordnen in strategische Begründungszusammenhänge; Ermöglichen eines Perspektivenwechsels (also verständlich machen, warum etwas aus Sicht von „oben“ nötig und sinnvoll ist, das sich von „unten“ vielleicht ganz anders ausnimmt); Organisieren und Planen der Umsetzung; Schaffen von Voraussetzungen dafür oder Beschaffen erforderlicher Ressourcen; Anpassen der Prioritäten, die bisher kommuniziert waren; usw. Entscheidend ist, dass ein stufengerechter Mehrwert geleistet wird – also weder das Kompensieren von etwas, das schon der Vorgesetzte hätte machen müssen, noch ein Vorwegnehmen dessen, was die Mitarbeitenden selber tun könnten und sollten.
  • Analoges für den Input von unten: Hier dürfte der Mehrwert beispielsweise darin bestehen, die Ideen der Mitarbeitenden aufgrund des eigenen Mehrwissens einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen; oder darin, Argumentationshilfe zu leisten; oder darin, direkt Maßnahmen zu ergreifen oder zu entscheiden und nach oben selber zu vertreten; usw. Auch dieser Mehrwert soll stufengerecht sein: Eine „hohe“ Führungskraft kann nicht gleich gut auf alle ihre (zum Teil ja nur indirekt unterstellten) Mitarbeitenden eingehen wie ein Teamleiter mit nur einem halben Dutzend Direktunterstellten. Für beide aber gilt, dass sie sich immer auch ganz persönlich vor „ihre“ Leute zu stellen haben.
  • Ein eigener Mehrwert darf von Führungskräften dahingehend erwartet werden, dass sie initiativ gegenüber Mitarbeitenden sind. Sie sollen Probleme wie auch Opportunitäten für Verbesserungen und Weiterentwicklungen erkennen, bevor sie an sie herangetragen werden. Wer höher steht, sollte auch weiter blicken. Es sei denn, er schließt die Augen oder trägt die falsche Brille. Auch diese Eigeninitiative soll wiederum stufengerecht sein, also weder die „Hausaufgaben“ des eigenen Chefs noch jene der Mitarbeitenden machen. Hierzu gehört beispielsweise die Planung und Organisation des gesamten eigenen Zuständigkeitsbereichs, das Sichern und Weiterentwickeln der materiellen und qualifikatorischen Ressourcen, die es für eine effiziente und effektive Zielerreichung braucht, sowie die sogenannte Grenzregulation (also den konstruktiven Umgang mit den benachbarten Zuständigkeitsbereichen).
  • Zumindest gute Chefs werden von den ihnen unterstellten Führungskräften aber noch einen weiteren Mehrwert verlangen, nämlich die Initiative gegen oben. Mehrwert umfasst hier zunächst die Pflicht zur konstruktiven Kritik. Ja-Sager sind bequem, aber letztlich für jede Organisation tödlich. Dazu kommt die Rolle als „Frühwarnsystem“ für auftauchende Probleme an der Basis und/oder Kundenfront. Gleichzeitig gehört hierhin die Funktion ­einer „Spürnase“ für Opportunitäten und Verbesserungschancen; man kann von jeder Stufe aus eigene Ideen einbringen. All dies ist viel verlangt, nicht nur sachlich (weil es gute Geschäftskenntnis voraussetzt). Heikel ist es vor allem aus psychologischer Sicht, denn es muss so erfolgen, dass es weder von den Mitarbeitenden als illoyal ihnen gegenüber noch von den eigenen Kollegen als „streberisch“ oder „beim-Chef-einschmeichelnd“ gesehen und auch nicht vom Chef als lästig oder aufdringlich empfunden wird. Auch hier helfen – wie häufig – vor allem kommunikative Fähigkeiten und Anstrengungen.

Zwei Sonderfälle von Führungsselbstverständnissen seien hier nur noch kurz erwähnt: Jener der Führungskräfte, die sich ausschließlich als Teil ihres Teams verstehen (und nicht als „Boss“). Sowie jener der Führungskräfte, die sich immer mit einem Regenschirm in der Hand zeichnen, mit dem sie ihre Leute vor allem Unsinn, den es von oben regnet, zu beschützen versuchen. Beide schaffen keinerlei Mehrwert!

Nicht vergessen – die Kernfrage zum Feierabend hat bei Führungskräften aller hierarchischen Stufen stets zu lauten: Welchen Mehrwert hat meine Führungstätigkeit heute geschaffen?

Führungsbrief 1 – Absicht und Wirkung

Ein wenig allein ist man als Führungskraft ab und zu ja schon. Man beobachtet seine Mitarbeitenden, sieht ihre Leistungen, erkennt Probleme oder Konflikte – und dann überlegt man: Was tun? Und wenn man dann auf eine Idee gekommen ist, handelt man entsprechend. Vielleicht ist ein Gespräch zu führen, ein Entscheid zu treffen, eine Information zu beschaffen oder auch irgend so etwas gerade eben nicht zu tun.

Hinter diesem Handeln steht natürlich eine bestimmte Absicht. Führungskräfte wollen ja etwas bewirken. Im Normalfall geht es darum, alle nötigen Voraussetzungen zu schaffen, dass sie und ihre Mitarbeitenden die unternehmerischen Ziele effizient (also sparsam) und effektiv (also wirkungsvoll) erreichen.

Und nun kommt der Haken: Da hat man sich alles hin und her überlegt, hat sich nach bestem Wissen und Gewissen für ein bestimmtes Tun oder Lassen entschieden, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen – und dann (wie uns Wilhelm Busch lehrt) kommt es erstens anders und zweitens als man denkt. Da hat man sich beispielsweise ganz besonders für das Projekt eines Mitarbeiters interessiert, um ihn möglichst gut zu motivieren, worauf der mehr und mehr „abschnallt“ und findet, der Chef könne es doch gleich selber machen, wenn er eh alles im Detail kontrollieren wolle. Oder man will einer Mitarbeiterin sein volles Vertrauen beweisen, indem man sie völlig selbstständig arbeiten lässt, worauf die sich jedoch darüber beklagt, dass ihr Chef ihre Arbeit total unwichtig fände und sich keinen Deut darum kümmere. Oder man vereinbart sehr schnell einen Termin mit Mitarbeitenden, die sich bei Dritten über einen beklagt haben, weil man ihre Kritik aus erster Quelle hören und mit den Betroffenen persönlich bereden will, worauf diese noch vor dem gefundenen Gesprächstermin überall herumerzählen, Kritik sei bei dieser Chefin völlig unerwünscht, man werde dann sofort „zum Rapport zitiert“. Usw.

Vielleicht ist es eine der Hauptsünden in der täglichen Führungsarbeit, dass man Absicht und Wirkung verwechselt. Oder anders gesagt, dass man das, was man beabsichtigt, auch schon für die Wirkung hält. Und wenn einen dann die Fakten – also beispielsweise die Reaktionen der Mitarbeitenden – eines anderen belehren, ist man zunächst ganz irritiert. „Aber ich habe doch extra das und dies getan, um …“.

Was hinter solchen Vorkommnissen steckt, ist etwas ganz und gar Menschliches: Im Unterschied zu ­Tieren begreifen wir schon als ziemlich kleine Kinder unsere Artgenossen als in gleicher Weise absichtsvoll handelnd, wie wir uns selber ja auch verstehen. Diese urmenschliche Fähigkeit führt uns aber oftmals sehr direkt in eine Falle – die Falle nämlich, zu meinen, der andere würde gleich ticken wie ich. Und die eigene Art zu ticken ist das, was wir üblicherweise für „logisch“ halten.

Das heißt: Mein eigenes Denken erscheint mir als völlig logisch. Ich tue dies und das, weil … Da ich andere Menschen auch für logisch denkende Individuen halte, unterstelle ich ihnen automatisch die gleiche Logik, die mich leitet.

In Wirklichkeit ist es aber nun so, dass sie auch einer Logik folgen, die sie für völlig „logisch“ halten – nämlich ihrer eigenen! Machen wir uns nichts vor: Es gibt seeeehr viele solche Logiken. Und wir sollten nicht meinen, der liebe Gott habe ausgerechnet unsere Logik zur „eigentlich wahren“ erkoren.

Mit dieser Einsicht kommen wir nun aber erst recht in die Bredouille. Denn wie sollen wir wissen, nach welcher Logik andere Menschen ticken? Einen einzelnen Menschen und seine Logik lernen wir ja vielleicht noch gut genug kennen und können uns auch darauf einstellen. Aber was tun, wenn wir uns – wie in der Führung ja häufig der Fall – an mehrere oder gar viele Menschen gleichzeitig richten und also von einer Vielzahl unterschiedlicher Logiken ausgehen müssen? Patentrezepte gibt es sicherlich keine. Aber ein paar Tipps vielleicht doch.

  • Wo immer möglich lohnt es sich, die dem eigenen Tun zugrunde liegende Logik den Betroffenen in einer Art „Beipackzettel“ mitzuliefern. Nicht nur sagen, was man tut oder entschieden hat, sondern erklären, warum. Dabei geht es nicht um Rechtfertigung, sondern um Nachvollziehbarkeit der eigenen Absicht. An diesen Beipackzettel ist vielfach gerade dann zu denken, wenn einem selbst die Sache als völlig „logisch“ – das heißt überhaupt nicht erklärungsbedürftig – erscheint.
  • Man muss seine „Pappenheimer“ gut kennen. Je mehr man darauf geachtet hat, wie die eigenen Leute – nicht nur die Mitarbeitenden, auch die Kollegen und der eigene Chef – auf das eigene Handeln reagieren, desto besser lernt man zu verstehen, wo die „heißen“ Themen liegen und die Fallstricke des Missverstehens lauern. Diese sollte man sich nicht wegwünschen, sondern man sollte sie in Rechnung stellen. Wenn mein Chef keine Überraschungen liebt, so muss mir ja noch kein Stein aus der Krone fallen, wenn ich ihn vorab und separat über meine Vorhaben informiere.
  • Bei Medizinern gibt es die Diagnose „ex juvantibus“ (lateinisch: „aus den Folgen“). Das heißt, der Arzt liest an den Folgen seiner Behandlung überhaupt erst seine Diagnose ab. Wenn die Beschwerden aufgrund des Medikaments gegen Krankheit X verschwinden, dann war es offenbar die Krankheit X. Wenn ich als Führungskraft sorgfältig darauf achte, ob mein Tun und Lassen auch tatsächlich die beabsichtigte Wirkung zeitigt oder vielleicht eine ganz andere, dann lerne ich viel über die Logik(en) der Betroffenen und wie ich sie in Rechnung stellen müsste.

Wichtig scheint mir eines zu sein: Führen ist nicht wie Fachunterricht, wo der Lehrer die Lösung kennt und die Schüler sie erst begreifen und lernen müssen. Es geht nicht darum, dass mich meine Mitarbeitenden „richtig“ verstehen. Es geht darum, dass es mir gelingt, in ihrer Logik den gleichen Sinn zu erzielen, wie er sich aus meiner Logik ergibt. Dies erreiche ich nur, wenn ich vor ihrem Denken Respekt habe, wenn ich mich für sie interessiere, wenn ich fähig bin zuzuhören und wenn ich mich davor hüte, vorschnell von mir auf andere zu schließen. Kommunikation dürfte dafür das einzige Allerweltsheilmittel sein – wenn es denn überhaupt eines gibt.

Ein Einwand ist noch anzubringen. Alles bisher Gesagte unterstellt, das Problem liege nur darin, ob ich meine beabsichtigte Wirkung auch tatsächlich erreiche. Damit wird so getan, als sei es selbstverständlich, dass eine klare und begründete Absicht vorliege. Da habe ich meine Zweifel. Ich glaube, dass Führungskräfte häufig das Nächstliegende oder das Modischste oder das Gleiche wie das letzte Mal oder das Einzige, was ihnen in den Sinn kommt, tun – und nicht etwas, das der Umsetzung einer klaren Absicht entspräche. Man macht ein Budget, weil es alle machen. Man führt Mitarbeitergespräche, weil das im Jahreskalender abgehakt sein will. Man drückt Kosten, weil das immer gut ist. Ich zweifle, ob immer eine klare und begründete Absicht am Anfang steht. Natürlich reicht die Intelligenz der meisten Führungskräfte locker aus, um im Bedarfsfall eine solche Absicht nachträglich zu formulieren. Aber ob sie der tatsächliche Beweggrund war – das können sie vielleicht selbst nicht mehr sagen.

Wer aber ohne klare Absicht handelt, muss sich nicht wundern, wenn er von seiner Wirkung nur wenig begeistert ist.

Über ...

… die Entstehung der 99 Führungsbriefe – Oldies but Goldies – finden Sie alles hier.

Cartoons: Silvio Erni.